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Erbe(n) Aktuelle Ausgabe Nr. 75, 08. April 2025

Erbe(n) © Stephan Mahlke | Unsplash

Erbe ist mehr als nur finanzieller Wohlstand, der uns in die Wiege gelegt wird. Es umfasst Geschichten, Traditionen, politische Ideale und auch schmerzhafte Lasten. Doch wer erbt eigentlich was – und wollen wir überhaupt alles haben, was uns hinterlassen wird?

Die ökonomische Dimension von Erbe ist enorm: Im Jahr 2023 erreichte das vererbte und geschenkte Vermögen in Deutschland mit 121,5 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert. Dies verdeutlicht nicht nur die immense finanzielle Tragweite dieser Vermögensübertragungen, und wie auch bei der allgemeinen Vermögensverteilung konzentrieren sich große Erbschaften stark: Die oberen zwei Prozent der Nachlässe vereinen etwa ein Drittel des gesamten Erbschaftsvolumens auf sich. Große Vermögen verbleiben fast immer in wenigen, wohlhabenden Familien und werden somit über Generationen hinweg weitergegeben, während ein Großteil der Menschen wenig, gar nichts oder gar Schulden erbt. Die ökonomische Ungleichheit wird durch steuerliche und intransparente Begünstigungen weiter zementiert. Wer sich also die Kluft zwischen Arm und Reich ansieht, kommt um das Thema Erben nicht herum.

Doch nicht nur auf individueller monetärer Ebene ist das Thema interessant. Auf ökologischer Ebene ist unser aller Erbe bedroht: Während die Agrarindustrie die natürlichen Ressourcen erschöpft, kämpfen Aktivist*innen für den Erhalt seltener Saaten und setzen auf nachhaltige Konzepte wie Permakultur. Und während der industrielle wie kriegerische Kapitalismus seit nunmehr über zweieinhalb Jahrhunderten auf die Energieträger Kohle und Öl setzt, sehen wir und nachfolgende Generationen uns mit fundamentalen Umwälzungen der Klimaordnung konfrontiert. Was hinterlassen wir zukünftigen Generationen in einer Zeit der Umweltzerstörung und des Klimawandels? Können wir noch auf ein intaktes ökologisches Erbe hoffen, oder sind wir bereits dabei, dieses unwiderruflich zu verspielen?

Neben der materiellen gibt es also auch eine immaterielle Dimension von Erbe: Auch unser kulturelles, historisches und politisches Erbe wirft Fragen auf. An welche Traditionen und politischen Kämpfe wollen wir anknüpfen? Welche Errungenschaften aus der Geschichte linker Bewegungen können uns Orientierung geben, und welche Formen des unsichtbaren Erbes – sei es durch Klassenunterschiede, transgenerationale Traumata oder psychische Lasten – beeinflussen uns? Wie gehen wir mit den belastenden Familiengeschichten um, die uns oft verheimlicht oder unbewusst weitergegeben werden?

Eine wichtige Erweiterung auf Erbe(n) ist der Blick über den eurozentristischen Tellerrand hinaus: Welche Folgen hat beispielsweise das koloniale Erbe für heutige Generationen weltweit? Konzepte wie der Afropessimismus sind dabei wichtige Perspektiven, die die fortdauernde Strukturgeschichte des Rassismus als eine Form des „vererbten“ gesellschaftlichen Status anerkennen, der auf Entmenschlichung und Ausbeutung basiert. Dieses Erbe ist also nicht nur ein ökonomisches Erbe, sondern auch ein kulturelles Erbe der Gewalt und der sozialen Ausschließung.

Unsere Ausgabe #75 widmet sich kaleidoskopisch dem Thema Erbe(n). Welche Erbe treten wir an – ob es nun materiell, kulturell, historisch oder psychisch ist. Was wollen wir bewahren, was ablehnen, und wo setzen wir neu an?

Viel Freude beim kritischen Lesen!

In unserer 76. Ausgabe im Juli 2025 geht es um das Thema: „Kein Mensch ist eine Insel – oder doch?“ Sind Inseln Orte der Sehnsucht und Freiheit oder Orte der Verbannung und Isolation? Schauplätze utopischer Träume oder Albträume von Herrschaft und Kontrolle? Wir diskutieren, wo Inseln zur Vereinzelung, zur Kontrolle und zur Isolation führen – und wo sie schwimmende Orte des Widerstands, der Solidarität und kollektiver Kämpfe sind. Wer hierzu noch spontan einen Beitrag beisteuern möchte, kann sich gerne bei uns melden.

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