Vom Erkennen und Durchbrechen des Erbes

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- Buchtitel
- Vererbte Wunden
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- Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen
Unser Erbe ist weitaus mehr als die Weitergabe materieller Güter. Sie umfasst Geschichten, politische Einstellungen sowie Traumata.
Laut einer Umfrage des Robert Koch-Instituts (RKI) aus dem Jahr 2017 gaben etwa 16 Prozent der Befragten an, in ihrem Leben mindestens eine traumatische Erfahrung gemacht zu haben. Der 2020 von Marianne Rauwald herausgegeben Sammelband „Vererbte Wunden“ rückt den Personenkreis der Befragten in den Fokus und nähert sich schrittweise den Ursachen und Erscheinungsformen traumatischer Erfahrungen.
Doch zunächst soll genauer darauf geschaut werden, wie der Begriff Trauma gegenwärtig definiert wird. In ihrer Traumadefinition folgt Rauwald den beiden Psychoanalytikern Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis:
„Ein Trauma ist ein Ereignis im Leben eines Subjekts, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjekts adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen“. (Lanplache/Pontalis, zit. n. S. 20).
Rauwald gliedert ihr Buch nun in drei große Schwerpunkte: Im ersten Teil erhalten wir Einblicke in die Traumaforschung, der zweite Abschnitt diskutiert die (unbewusste) Weitergabe von Traumatisierungen im familiären Umfeld. Insbesondere die Folgen der Shoah in der zweiten Generation stehen hier im Fokus sowie die Reaktivierung von Traumata im Alter. Im Schlusskapitel geht es dann um die Traumaweitergabe im Kinder- und Jugendhilfesystem. Außerdem stellt sie den Ansatz „Care for Caregivers“ vor, aus dem Rückschlüsse für die Arbeit mit traumatisierten Klient:innen zu ziehen sind.
Doch welche Ereignisse werden als Auslöser für die Entstehung von Traumata bei Menschen markiert? Welche Methoden der Auseinandersetzung mit dem Trauma sind hilfreich, um die Weitergabe von Traumata an die nachfolgende Generation zu durchbrechen? Und für welche Zielgruppe ist dieses Buch geeignet?
Frühkindliche Bindungserfahrung
Im Eingangskapitel nimmt Natascha Unfried in ihrem Beitrag „Psychische Entwicklung von Kindern und frühe Traumatisierungen“ den Einfluss der Bezugspersonen auf die kindliche Entwicklung in den Blick und resümiert: „Durch unzureichende zwischenmenschliche Bindung und ihre Auswirkung auf die Entwicklung der rechten Hemisphäre des Gehirns kann frühzeitig eine Prädisposition für psychische Erkrankungen erworben werden“ (S. 35). Unfried macht auf die Folgen von ungünstigen Sozialisationsbedingungen im frühen Kindesalter aufmerksam. Erkenntnisse, die allseits bekannt sind: Die frühkindliche Zuwendung ist entscheidend für eine gesunde Entwicklung des Kindes und kann durch digitale Medien nicht ersetzt werden. Man denke an Alltagsbilder, an die „Ruhigstellung“ von Kindern, die mit dem Smartphone in den Händen viele Stunden Kinderfilme oder Ähnliches anschauen und keinen direkten Kontakt mit ihrer Bezugsperson haben.
Um die Dimension der „Weitergabe von traumatischen Erfahrungen von Bindungspersonen an die Kinder“ geht es Karl Heinz Brisch in seinem Aufsatz, der insbesondere Bindungserfahrungen in den Fokus nimmt. Brisch präsentiert Forschungsergebnisse von Längsschnittstudien aus den USA und Deutschland, die nachweisen, „dass sicher gebundene Mütter häufiger auch sicher gebundene Kinder haben“ (S. 41). Der Autor vertritt die These, dass sich eine Scheidung oder Depression der Eltern weitaus weniger negativ auf die Kindesentwicklung nachfolgender Generationen auswirken als die Vernachlässigung, Missbrauch und Misshandlung der eigenen Eltern. Mit konkreten Beispielen belegt er diese Aussage jedoch nicht und seine Thesen bleiben wenig greifbar.
Umgang mit Traumatisierten
Die Herausgeberin des Sammelbands, Marianne Rauwald vom Institut für Trauma-Bearbeitung Frankfurt, ist Psychoanalytikerin und hat seit 2015 mit geflüchteten Menschen gearbeitet, die im Krieg als Kindersoldaten eingesetzt wurden und im Exil in Deutschland eine Auseinandersetzung mit dem Erlebten suchten. In ihrem eigenen wissenschaftlichen Beitrag zum Band untersucht sie den Einfluss von Migration und Trauma auf die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Als Fallbeispiel dient die Schilderung einer Frau und ihres Sohnes während einer Belagerungssituation im Krieg. Für Personen, die als Begleiter:innen für Geflüchtete arbeiten, kann dieser Beitrag Erkenntnisse eröffnen und Schlussfolgerungen für die eigene Arbeit ableiten. Vielleicht erkennen Personen, die mit Geflüchteten arbeiten, Parallelen zu den Lebensläufen der ihnen anvertrauten Personen. Es bedarf einer hohen Professionalität, um Rollen, Stellvertreterpositionen und das Handeln der Menschen richtig zu deuten. Das Wissen um kulturelle Unterschiede, Rituale, Werte etc. wird in der Lektüre ausgeklammert.
Der umfassende Band bietet einen Überblick über die vielfältigen Erscheinungsformen und Auswirkungen von Traumatisierungen. Die daraus abgeleiteten Thesen der jeweiligen Autor*innen lassen mitunter wenig Spielraum für andere Sichtweisen, wie folgende Formulierung von Natascha Unfried zeigt:
„Wenn Kinder früh beginnend lieblos begleitet bzw. durch die Bezugsperson traumatisiert werden und Schmerz als Schwäche benannt wird, kann das Kind nur kompensieren, indem es sich mit dem Aggressor identifiziert.“ (S. 47)
Unfried bezieht sich hier auf Erkenntnisse von Anna Freud aus dem Jahr 1987. Eine diskursive Öffnung hätte an dieser Stelle gutgetan, sowie eine breite Palette an Handlungsoptionen und -möglichkeiten. Es wundert, „überkommene“ Deutungs- und Interpretationsweisen in einem aktuellen Fachbuch wiederzufinden.
Rauwalds Abschlusskapitel „Selbstfürsorge und Prävention“ fällt sehr knapp aus. Insbesondere im Bereich „Gesundheitserhaltung und Belastungen widerstehen“ werden Rahmenbedingungen angesprochen, unter denen Personen mit Traumatisierten arbeiten. Eine Rückkoppelung und das Eingehen auf Bedingungen der Arbeit im Gesundheitssystem fehlt leider auch hier, sowie mehr Methoden und Wissen darüber, wie ein adäquater Umgang mit Traumatisierten erleichtert werden kann.
Das am Ende des Buches vorgestellte Training „Ich und du“– ein mentalisierungsbasiertes Training zur Prävention transgenerationaler Weitergabe von Traumatisierungen überzeugt nur mäßig. Ziel ist die Unterstützung einer sicheren Bindung zwischen Eltern und ihrem Kind. Doch diese Gefühle der Verbundenheit und Empathie kann man nicht erzwingen, selbst im engsten Kreis der Familie nicht. Verbundenheit entsteht durch eine innere Haltung, die ich meinem Gegenüber entgegenbringe. Diese Haltung kann man nicht durch ein Training „erzeugen / herstellen / produzieren“.
Der vorliegende Sammelband richtet sich also an Psycholog:innen und Therapeut:innen. Um eigenen Traumatisierungen nachzuspüren und sie besser zu verstehen, hätte die Rückkoppelung zum Einfluss gesellschaftlicher (Ungleich-)Verhältnisse auf die menschliche Entwicklung stärker im Fokus stehen müssen.
Im Hinblick auf Bewältigungsstrategien mit eigenen Traumata und für die Arbeit mit Traumatisierten sei die Parallellektüre von Verena König „Trauma und Beziehungen“ empfohlen. Wo Rauwalds Fachbuch eher auf Therapien als mögliche Form der Verarbeitung von Traumatisierungen setzt, fokussiert König die heilsame Kraft der Verbundenheit in Beziehungen. In guten Gesprächen erzeugen sie Vertrauen und Verbundenheit, Solidarität. Verbundenheit sieht Verena König als „große Heilkraft“, die in der Lage ist, „Folgen von Traumata individuell, kollektiv und transgenerationell zu heilen und weitere Traumatisierungen zu vermeiden“ (König, S.254). Gewiss können wir die eigene Herkunft und die vererbten Traumatisierungen der (Groß-)Eltern nicht ignorieren, verschweigen oder dauerhaft kompensieren. Im Idealfall können wir aber auf die Kraft guter Beziehungen bauen.
Zusätzliche Literatur
König, Verena (2024): Trauma und Beziehungen. 5. Auflage. Arkana Verlag, München.
Vererbte Wunden. Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. 2. Auflage.
Beltz Verlag, Weinheim.
ISBN: 978-3-621-28756-2.
194 Seiten. 42,00 Euro.