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„Eine Erbschaftssteuer hat noch nie die Ökonomie eines Landes zerstört“

„Eine Erbschaftssteuer hat noch nie die Ökonomie eines Landes zerstört“ © Locarno / Ti-Press
Interviewpartner_innen
Maja Tschumi im Gespräch mit Simon Baumann

Zwei Regisseur:innen, ein Film, viele Widersprüche: Maja Tschumi spricht mit Simon Baumann über seinen Dokumentarfilm „Wir Erben“, in dem er sich mit dem Vermächtnis seiner Eltern auseinandersetzt.


Der Dokumentarfilm „Wir Erben“ des Schweizer Regisseurs Simon Baumann beleuchtet das Thema des Erbens anhand eines persönlichen Familienporträts: Die Eltern des Filmemachers, die Schweizer Politiker:innen Stephanie (SP) und Ruedi Baumann (Grüne), wollen ihr Lebenswerk – einen pittoresken ökologischen Hof in der Gascogne in Frankreich – an ihre beiden Söhne weitergeben. Der Film weist dabei weit über Fragen des reinen Familienerbes hinaus.

Maja Tschumi | kritisch-lesen.de Deine Eltern gehören zu einer Generation, in der es noch möglich war, soziale Aufsteiger:innen, politische Rebell:innen und ökologische Visionär:innen zugleich zu sein. Doch die Zeiten haben sich geändert. Die Klimakrise ist auch in Europa real spürbar geworden; allerorts gewinnen ultralibertäre und rechte Autokraten an Macht und der Neoliberalismus hat die Schere zwischen Arm und Reich immer größer werden lassen. Dein Film, mit seinem Fokus auf das Mikroidyll eines beschaulichen Bauernhofs, nähert sich diesen Themen auf eine ungewöhnliche Art und Weise. Trotz globaler Verwerfungen bleibt die Schweiz ein sehr reiches Land – was insbesondere der Realität von Erbschaften geschuldet ist. Laut dem „Erbschaftsreport Schweiz 2024“ beträgt das jährliche Erbschaftsvolumen der Schweiz rund 90 Milliarden Schweizer Franken – im Vergleich dazu der Blick auf Deutschland: 121,5 Milliarden Euro bei zehnmal so vielen Einwohner:innen. Die Verteilung des Erbschaftsvolumen ist dabei sehr ungleich verteilt. Die reichsten 10 Prozent erhalten dreiviertel der gesamten Erbmasse. Und die jährliche Erbmasse wächst stetig an. In der Schweiz ist das Erben also eine offensichtliche Realität, komischerweise redet man aber nicht so gerne darüber. Warum eigentlich?

Simon Baumann In der Schweiz, so heißt es, gibt es zwei Tabus: Man spricht nicht über den Tod und nicht über Geld. Wie der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel gesagt hat: „Wir sind nicht alle reich, aber wir denken wie Reiche.“ Es gibt eine erstaunliche Schweizer Eigenart: Wir müssen zusammenhalten, wenn es um Geld geht, auch wenn nicht alle Geld haben – aber in diesem Punkt sind wir solidarisch mit den Reichen. Ich habe neulich eine interessante Studie gelesen, dass Schweizer:innen sich nicht eingestehen, wenn sie kein Geld haben – sie zählen sich selbst zu jenen, die vermögend sind. Das hat wohl mit Scham und Stolz zu tun. Andere sagen, es liege an unserer staatskritischen Haltung in der Schweiz – da sind wir Schweizer:innen den Amerikaner:innen ähnlich. In Deutschland und Frankreich – und auch in Skandinavien – ist das Vertrauen in den Staat größer. Ich vermute, dass es hier auch nochmal schwieriger ist, über das Erbe zu sprechen als in anderen Ländern. Darum wurde auch die Erbschaftssteuer-Initiative 2015 mit 71 Prozent Nein-Stimmen deutlich abgelehnt.

Und warum hast du dich entschieden, dich doch dem Tabu „Erbe“ zu widmen?

Am Thema bin ich am Anfang auch gescheitert. Zunächst habe ich versucht, für den Film Einblicke in das Leben reicher Familien zu bekommen, aber das war aussichtslos! Wie gesagt: Niemand spricht über Geld. Es ist auf vielen Ebenen sehr intransparent, wem in diesem Land was gehört. Das nützt natürlich vor allem den Reichen und Superreichen, das dieser Reichtum so unsichtbar ist. Der Rest der Gesellschaft empört sich dann nicht so schnell und spürt die Schere zwischen Arm und Reich nicht so unmittelbar. Ich habe fünf Jahre immer wieder recherchiert, nur um dann alles in die Schublade zu legen. Doch im August 2020 haben meine Eltern gesagt, sie möchten mit mir darüber reden, wie es mit ihrem Hof weitergehen könnte, wenn sie dafür zu alt werden. Mir war sofort klar, dass die Frage nach der Zukunft des Hofs als roter Faden für einen Film übers Erben funktionieren könnte.

Bist Du auf Widerstände bei deinen Eltern gestoßen, als Du sie gefragt hast, ob sie im Film mitwirken wollen?

Als ich sie fragte, lautete ihre Antwort: „Das können wir machen, aber das wird niemanden interessieren.“ Sie haben nicht daran geglaubt, dass der Film überhaupt zustande kommt. Für mich war es aber endlich eine Chance, die Frage des Erbens zu thematisieren. Ich hatte aber durchaus Zweifel, weil meine Familie sehr speziell ist und sich ihr Fall nicht so einfach auf andere übertragen lässt. Ich dachte: Von vier Leuten sind drei Nationalräte (aktuell sitzt Simons Bruder Kilian Baumann für die Grünen im Schweizer Nationalrat, Anm. KL) – das ist doch keine normale Familie, die anschlussfähig für das Publikum ist. Außerdem: Wer hat schon so einen großen Hof, wie den, den wir erben – wäre nicht ein kleines mittelständisches Unternehmen oder ein Mehrfamilienhaus besser? Mit der Zeit habe ich dann aber den Vorteil davon verstanden, dass meine Familie eine politische Vergangenheit hat. Denn hier geht es auch um das politische Erbe und um politische Werte.

Ja, darauf möchte ich nochmal genauer eingehen. Im Film geht es um viele verschiedene Aspekte des Erbens. Da wird das sozio-ökonomische Erbe angesprochen, aber auch vererbter Habitus, biologisches Erbe oder das Erbe von politischen und kulturellen Werten. Was hat dich am meisten interessiert?

Es gab Aspekte, die für mich neuer waren und mich deshalb stärker fasziniert haben; anderes war selbstverständlicher. Ich will die verschiedenen Aspekte nicht gegeneinander ausspielen. Es sind ja Wechselwirkungen zwischen all diesen Erbformen. Ich sehe es als ein Ganzes. Epigenetik hat, auch wenn man das jetzt vielleicht spekulativ finden kann, auch mit psychologischem Erbe zu tun, und dabei spielt dann auch das Soziale wieder eine Rolle. Wenn man etwa die Arbeiterherkunft meiner Mutter anschaut, dann hat meine Mutter immer eine besondere Unsicherheit betont. Primär auf ökonomischer Ebene, weil ihre Familie nie Land- oder Hausbesitzerin war. Aber natürlich meint sie das auch psychologisch – und man spürt das bis heute. Auch bei anderen Verwandten, die noch immer eine gewisse Unterwürfigkeit zeigen gegenüber Leuten, die sie als Bessergestellte einschätzen. Allein bei diesem Beispiel kommen schon viele Ebenen des Erbens zusammen.

Wie prägen dich diese Erfahrungen in deiner Familie?

Die bäuerliche Seite meines Vaters habe ich besser gekannt. Die meiner Mutter kannte ich kaum. Nicht, weil meine Mutter ihre Herkunft totschweigen wollte, sie ging einfach weniger offensiv damit um. Während mein Vater – und das ist wohl auch ein Teil seines Erbes – immer klar betonte: „Dies hier hat der Urgrossvater gebaut, das dort kommt von der Urgroßmutter.“ Das waren alles Figuren, die lebendig blieben auf unserem Hof (dem ursprünglichen Hofgut der Familie in der Schweiz, Anm. KL). Meine Mutter und ihre Vorfahren mussten hingegen ständig umziehen. Das Narrativ war unterbrochen. Am Ende machen dich ja die Geschichten aus, die du im Kopf hast. Ich hatte mich immer als Kleinbauernsohn gefühlt. Jetzt sehe ich auch meine Identität als Arbeitersohn.

Du sagst im Film, dass dein Erbe dir auch als Kulturschaffender hilft. Das ist ja ein größeres Phänomen und Problem in der Kulturindustrie, dass Menschen mit sozio-ökonomischer Absicherung und bürgerlicher Herkunft die ideologischen Debatten anführen. Das liegt an den prekären Produktionsbedingungen von Kulturschaffenden an sich, die dann ein Ungleichgewicht verursachen. Empfindest du hier Handlungsdrang?

Absolut. Es ist ein Problem, dass vor allem die Privilegierten ihre Perspektive der Welt mitteilen können. In der Schweiz haben zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund geringere Chancen, an eine Kunstschule zu kommen. Natürlich kann man auch Filme ohne Filmschule machen, das ist aber der Ort, an dem man in Netzwerke hineinkommt. In meinem Fall habe ich auch ein „soziales Kapital“ mitbekommen. Ich habe eigentlich Medienkunst studiert und kam von der Musik her. Während des Studiums begann ich mich für Film zu interessieren. Mit einem Freund wollte ich dann einen Dokumentarfilm über einen Musiker machen. Das erzählte ich meinen Eltern. Darauf sagte mein Vater, er rufe nun gleich seinen Freund an, den Chef der Sektion Film beim Bundesamt für Kultur, und fragte diesen, wie man für so einen ersten Film eine Finanzierung einholt. Die Beiden kannten sich aus der Politik. Wir haben dann zwar keine Förderung bekommen – das dauerte noch lange, bis ich mal Geld bekam Aber mir wurde das Gefühl vermittelt: Geld für einen Film kann man bekommen. Meine Eltern hatten auch viele Filmemacher- und Journalisten-Freunde. Ich wuchs mit dem Bewusstsein auf, dass Dokumentarfilm eine Perspektive im Leben sein kann. Als weniger privilegierte Person wäre das ein viel größerer Kampf gewesen, Filmemacher zu werden.

Das ist eben auch eine Form von Erbe, diese Selbstverständlichkeit für bestimmte Potenziale und Zukünfte verinnerlicht zu haben, oder?

Ja. Natürlich finde ich es problematisch und es gibt hier eine Verbindung zwischen dem Kapital, das nur auf wenige Familien verteilt wird und gleichzeitig werden auch die Geschichten aus der Sicht – vereinfacht gesagt – aus der Sicht des Kapitals und den Besitzenden erzählt. Die Besitzenden haben die Deutungshoheit.

Wie gehst Du damit in deinem Film um?

Ich habe damit gerungen. Wenn ich jetzt über meine Privilegien spreche, ist das für mich toll und gut, weil ich etwas sichtbar mache, ich gebe Anlass zur Diskussion. Ich finde Marlene Engelhorn sehr interessant, die von ihrer Industriellenfamilie rund 30 Millionen Euro geerbt hat. Sie beschloss, den größten Teil davon zu verschenken und hat dazu einen „Guten Rat der Rückverteilung“, einen Bürgerrat, bestimmt, der demokratisch entscheidet, wohin das Geld geht. Natürlich gab es darüber viel Medienrummel. Engelhorn wurde auch kritisiert, sie als Superreiche reiße damit den Diskurs an sich. Der Aktivismus solle doch besser von Unten kommen. Diese Kritik teile ich nicht. Das Thema ist einfach zu wichtig. Ohne ein Mehr an Gerechtigkeit werden wir uns zum Beispiel nicht zusammenraufen können, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Darum finde ich jeden Vorstoß, etwas zum Diskurs beizutragen, wichtig. Zudem: Gerade arme Menschen haben einen schwierigen Stand in dieser Diskussion. Man wirft ihnen vor, lediglich „Neider:innen“ zu sein.

Ja, Initiativen wie taxmenow, an der auch Marlene Engelhorn beteiligt ist, sind in den letzten Jahren bedeutsam geworden. Dort versammeln sich vermögende Menschen, vor allem auch Erben, um sich etwa für eine höhere Besteuerung von Reichtum einzusetzen. Die Frage nach alternativen Gesellschaftsentwürfen bleibt dabei aber meist ausgeklammert. Wie hast Du dich im Zuge deiner Arbeit am Film mit den politischen Instrumenten und Möglichkeiten auseinandergesetzt?

Erbschaftssteuern sind ein sehr sinnvolles Umverteilungswerkzeug der Politik, das wir leider komplett abgeschliffen haben. Die Erbschaftssteuer gibt es seit der französischen Revolution. Bei der Nationalstaatengründung war die Erbschaftssteuer eine wichtige Maßnahme, um von der Feudalgesellschaft, in der wenige Familien alles besitzen, wegzukommen. Über Erbe wird Geld und Macht dynastisch immer in der Familie weitergegeben. Die Schweizer Stadt Bern zum Beispiel wurde damals von nur 75 Familien regiert, die alles besessen haben. Alle anderen waren recht- und besitzlos. Heute bewegen wir uns in die Richtung einer Re-Feudalisierung der Gesellschaft. In der Schweiz gab (und gibt) es das Dogma, möglichst attraktiv sein zu müssen fürs Kapital, für Reiche und Superreiche. Das heißt: niedrige Steuern und vor allem niedrige Erbschaftssteuer. In fast allen westlichen Ländern hat man in den letzten Jahrzehnten die Erbschaftssteuer im Zuge der neoliberalen Debatte um Steuerwettbewerb reduziert oder ganz abgeschafft. Das vergrössert die Schere zwischen arm und reich und ist ein soziales und politisches Pulverfass. Ich denke, das ist eines der grössten Probleme unserer Zeit und auch ein Grund, warum Trump, AfD oder der Rassemblement National gewählt werden. Sie haben die billigen Antworten für Menschen, die aufgrund fehlender Umverteilung abgehängt werden.

In der Schweiz hat ja jüngst die JUSO eine „Initiative für die Zukunft“ an den Start gebracht, die eine Erbschaftssteuer mit einem Steuersatz von 50 Prozent ab einem Freibetrag von 50 Millionen fordert. Die Steuereinnahmen sollen für sozial gerechte Klimaschutzmaßnahmen und den ökologischen Umbau der Wirtschaft eingesetzt werden. Was hältst du davon?

Ja, das ist eine äußerst sinnvolle Initiative. Und ich finde es bemerkenswert, wie schnell sie von rechts und von bürgerlicher Seite abgestempelt wurde – also eigentlich von jeder Seite in der Schweiz, die ja ein rechtes und sehr bürgerliches Land ist. Sie kritisieren, die Pläne seien naiv, unvernünftig, wahnsinnig und machten die Wirtschaft und „unsere“ Firmen kaputt. Dabei geht es hier um eine Besteuerung von 50 Prozent ab einem Vermögen von 50 Millionen Franken! In den letzten 200 Jahren gab es in vielen Ländern auch höhere Erbschaftssteuern; auch in den USA, auch in Deutschland. Das ist nicht crazy. Überall, wo es Erbschaftssteuern gibt, gibt es auch Ausnahmelösungen, zum Beispiel, damit inländische Firmen oder Bauernhöfe nicht durch die Steuer kaputt gemacht werden. Dass es diese Ausnahmen gibt, ist auch deshalb logisch, weil jene Parlamentarier:innen, die die Gesetze ausarbeiten, vielfach selbst Besitzende sind und die radikalen Spitzen abschneiden. Daher ist die JUSO-Initiative überhaupt nicht naiv oder unvernünftig. Es gibt kein mir bekanntes historisches Beispiel, wo eine Erbschaftssteuer die Ökonomie eines Landes zerstört hat. Das ist ein Witz.

Du hast mit deinem Film bislang über 30.000 Kinozuschauer:innen in der Schweiz erreicht. Für einen Dokumentarfilm ist das phänomenal. Nun bist du damit auch für den renommierten Schweizer Filmpreis nominiert. Was waren die Fragen, die dem Publikum am meisten unter den Nägeln brannte?

Viele Fragen kreisten um die Kommunikationsprobleme in der Familie und wie wir das geschafft hätten, offen übers Erben zu sprechen. Also weg vom Politischen hin zum Persönlichen. Das hat mich etwas überrascht. Mir wäre es lieber gewesen, auf der gesellschaftspolitischen Ebene zu diskutieren. Aber es blieb meist auf der psychologisch-persönlichen Ebene. Und dazu kann ich nur sagen: Ich musste in meiner Familie auch insistieren, darüber zu sprechen. Die Kamera, das Filmemachen hat mir geholfen, diese Themen anzusprechen. Es gibt auch eine Studien zu diesem Tabu, die besagt, dass die Hälfte der Schweizer:innen ihren Nachlass nicht geregelt hat, darunter auch viele Millionäre. Man redet nicht, man denkt nicht einmal darüber nach. Das führt natürlich zu den vielen Erbstreitigkeiten.

Erben ist ja eigentlich ein kollektives Thema. Mit deinem Film erzählst du allerdings einen Einzelfall – greift das nicht zu kurz?

Die Frage von Kollektivität und Individualität hat mich sehr beschäftigt. Wenn jemand Vermögen vererbt, stellt sich ja die Frage, an wen das Erbe gehen soll – an seine:ihre Kinder, mit dem Gedanken, den Ertrag der Arbeit in der Familie zu erhalten? Ich finde, von diesem Gedanken müssen wir eigentlich wegkommen. Die Leute haben das Vermögen ja nie alleine erarbeitet. Ein Kapitalist wie Peter Spuhler zum Beispiel, Präsident des größten Herstellers von Schienenfahrzeugen in der Schweiz, bekommt Steuergelder für seine Züge und er profitiert davon, dass wir alle für die Ausbildungen seiner Angestellten und die Infrastruktur (Strom, Wasser, Strassen, usw.) aufkommen. Er konnte sich an die Spitze von einer Firma setzen, sich einheiraten und erben. Die Firma Stadler Rail ist also eine kollektive Errungenschaft, nicht seine alleinige. Diese Erzählung, dass es ein Peter Spuhler, dass es ein einzelner Mann war, der all das geschafft hat, wird im Kino und in Büchern oft reproduziert. Weil sich solche Heldengeschichten einfach darstellen lassen und den erzählerischen Konventionen entsprechen. Hier müssen wir uns als Storyteller überlegen, wie wir Geschichten erzählen.

Welches Erbe trägst du noch mit dir herum?

Die Werte, die ich von meinen Eltern geerbt habe, sind zum Teil widersprüchlich. Es gibt Werte auf der einen Seite und das Leben auf der anderen. Die beiden kommen nicht immer zusammen. Schon bei meinen Eltern nicht. Auch bei mir nicht. Wie man mit dieser Diskrepanz umgeht, das war auch eine Grundfrage, die sich durch das Filmprojekt zog. Ein paar Jahre Nachdenken später ist mir klar, dass Herkunft viel prägender ist, als ich es mir eingestehen wollte. Ich kann die Widersprüche meiner Eltern besser verstehen, vielleicht verstehe ich auch meine besser. Ihre Prägung zum Beispiel als Arbeiterin oder Kleinbauer sind stärker als die Ideologie der 68er, wenn es um das persönliche Leben geht. Eine Szene, die nicht in den Film kam, zeigt meinen Vater beim Einkaufen. Er kauft nie Bio, obwohl er Biobauer ist und grüner Politiker. Die Sparsamkeit ist ihm noch immer wichtiger. So ist er aufgewachsen. Oder er fährt den ganzen Tag Traktor, obwohl er gegen Dieselmotoren ist. Aber er liebt es zu sehr, weil er noch erlebt hat, wie Landwirtschaft altmodisch mit Pferd und Pflug betrieben wurde. Für ihn war der Traktor eine Revolution. Das macht ihn zum Beispiel auch der Technik gegenüber optimistisch. Er glaubt, es wird eine technologische Lösung geben für den Klimawandel. Meiner Meinung nach gilt für den Umgang mit dem Widerspruch etwas, was meine Mutter mal gesagt hat: Wir brauchen Lösungen für alle. Wir haben immer das Gefühl, es käme auf unsere individuellen Entscheidungen an. Dabei geht es um die Organisation der gesamten Gesellschaft. Der Fokus auf individuelle Entscheidungen ist eine neoliberale Haltung, die leider sehr verbreitet ist. Wir brauchen nicht mehr Selbstoptimierung, wir brauchen mehr Umverteilung.

Was ist mit dem Hof und deinen Eltern heute?

Der Hof wurde in eine Gesellschaft überführt. Da sind wir vier, die Eltern und wir zwei Söhne, alle drin. Wenn jemand von uns stirbt, geht der Anteil an die anderen über, ohne dass Erbschaftssteuer anfällt. Der juristische Berater hat uns dazu geraten. In Frankreich werden alle Höfe als Gesellschaft vererbt. Wir haben dann ausgerechnet, wieviel Erbschaftssteuer man bezahlen würde, wenn unsere Eltern uns den Hof einfach so übergeben würden. Dann kamen wir auf rund 100.000 Euro. Das ist nicht mal so viel. Aber es ist ein kleiner Hof, 70 Hektar groß. Man braucht in dieser Region 200 bis 300 Hektar Fläche, um eine Familie ernähren zu können. Der Hof wirft inklusive Direktzahlungen der EU ein paar zehntausend Franken im Jahr ab. Und dann gibt es noch Auslagen. Also, meine Eltern können alleine davon nicht leben. Sie leben auch von ihrer Altersversicherung. Das heißt, wenn wir 100.000 Euro Erbschaftssteuern bezahlen müssten, wäre der Hof verschuldet. Darum ist diese Ausnahmeregelung für bäuerliche Landwirtschaftsstrukturen aus meiner Sicht sinnvoll, um sie so zu erhalten. Politische Anreize für immer größere, immer industriellere Höfe, finde ich nicht gut. Aber klar, das ist ein Widerspruch: Wir alle sind für eine Erbschaftssteuer und wählen dann doch den Weg, wo wir sie nicht bezahlen müssen.

Was willst du deinen Kindern vererben, über das rein Materielle hinaus?

Ich bin ja auch widersprüchlich. Einerseits denke ich in materieller Hinsicht daran, mein Haus an meine Kinder weiterzugeben. Sie mögen das Haus sehr. Aber es sind zwei Kinder – was jetzt? Was ist, wenn beide wollen? Und wie sieht der Wohnungsmarkt in 30 Jahren aus? So schlimm wie heute oder noch schlimmer? Dann gibt es noch die ideelle Seite. Ich fände es schön, Gerechtigkeitsstreben weitergeben zu können. Kämpfe sind nie nur von einer Generation zu gewinnen. Und ich würde auch gerne vererben, dass das Leben trotz allen guten Vorsätzen widersprüchlich bleibt.

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Das Gespräch führte Maja Tschumi, Filmemacherin aus der Schweiz und unter anderem auch kritisch-lesen.de-Autorin. Ihr aktueller Dokumentarfilm, „Immortals“, gewann den Prix de Soleure, den höchstdotierten Filmpreis des Landes. Wenige Tage nach diesem Gespräch gewann der Film „Wir Erben“ von Simon Baumann den Schweizer Filmpreis. Wir gratulieren an dieser Stelle herzlich!

Zitathinweis: Maja Tschumi: „Eine Erbschaftssteuer hat noch nie die Ökonomie eines Landes zerstört“. Erschienen in: Erbe(n). 75/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/U2i57. Abgerufen am: 16. 04. 2025 20:02.