Kapital bis in alle Ewigkeit?

- Buchautor_innen
- Frank Engster, Aldo Haesler, Oliver Schlaudt
- Buchtitel
- Kleine Philosophie des Geldes im Augenblick seines Verschwindens
Das Bargeld ist im Verschwinden begriffen, doch als digitales Zeichen wird die Wirkung des Geldes totalisiert.
Seit den 1970er Jahren wird Geld entmaterialisiert und digitalisiert, das Bargeld verschwindet. In einigen skandinavischen Ländern und in Städten wie Peking oder Shanghai ist das Bargeld fast ausgestorben. Der stetig zunehmende Online-Handel ist grundsätzlich bargeldlos. Geld ist im Wortsinn nicht mehr greifbar, es wird zum digitalen Zeichen.
Spätestens seit der Krise 2007/2008 werden die Geldmengen per Kreditgeldschöpfung schwindelerregend aufgebläht. Zur Krisenbewältigung können Regierungen hunderte Milliarden aus dem Nichts schöpfen, mit der fiktiven Ewigkeit der Existenz großer Staaten als Sicherheit. Über diesen Mechanismus eignet sich das Kapital menschliches Leben und natürliche Ressourcen umfassend an – in weitem Vorgriff auf die Zukunft. Das Geld als Ding verschwindet und wird zum digitalen Zeichen. Gleichzeitig werden die Wirkungen des Geldes totalisiert: Alles menschliche Dasein ist bewertet und wird, soweit möglich, verwertet.
Kapitalistische Zeit
Geld als Kapital wird zum universellen Maß menschlicher Tätigkeit und bringt so die moderne Zeitlichkeit hervor. Zeit ist Geld, wie der Volksmund erkennt. Dies wird im ersten Teil des Buches, „Chronos“ (altgriechisch für Zeit im quantitativen Sinne), diskutiert. Anknüpfend an die Marx‘sche Bestimmung des Geldes als universelle Ware (ironisch nannte dieser es „Gott der Waren“) kann es paradox als sich selbst messendes Maß verstanden werden: „Wir halten uns durch das Geld an das Maß der Zeit und unterziehen uns dieser Zeit durch die Quantifizierung unserer Verhältnisse“ (S. 37). Damit geht die Bestimmung des Geldes von der „universellen Ware“ zum universellen Maß über. Das Gemessene wird durch das Maß bestimmt und so erst als äußerer Gegenstand geschaffen. Das Gleiche geschieht bezüglich der Natur in der modernen Naturwissenschaft.
Unendlicher Reichtum
In vorkapitalistischen Zeiten schien Reichtum begrenzt, weil die Ressourcen der Welt als endlich begriffen wurden. Ein Nullsummenspiel: Wenn jemand mehr bekam, hatte jemand anderes weniger. Im Kapitalismus dagegen scheint Reichtum unendlich vermehrbar zu sein. Diese neue Vorstellung wird im zweiten Teil „Kosmos“ (altgriechisch für Welt oder Weltordnung) untersucht. Die Autoren knüpfen an die frühen Überlegungen Georg Simmels an. Auf seine „Philosophie des Geldes“ von 1900 bezieht sich der Titel des Buches. Simmel hatte die Tendenz zur Entmaterialisierung des Geldes erkannt und die weitreichenden Konsequenzen geahnt. Marx hatte die völlige Loslösung des Geldes von einer Geldware zwar als möglich angesehen, sich aber nicht weiter mit den Konsequenzen beschäftigt.
Überlagerung von Geld und Information
Entmaterialisierung war zunächst die Ablösung der Edelmetalle durch minderwertigere Münzen und Papiergeld. In den 1970er Jahren begann die allgemeine Nutzung von Konten und bargeldloser Zahlung (mit der Kreditkarte als einer Art früher App, lange vor dem Smartphone). Dies bekommt durch die Digitalisierung eine neue Dimension. Zahlungen werden mit vollständigen, auch ehemals privaten Informationen der Akteure verknüpft. Damit kann global gerechnet werden, für alles, was mit großer Rechenleistung und der sogenannten Künstlichen Intelligenz erfassbar ist: Konsum, Migrationsströme, Gesundheit, Kriminalität, Wählerverhalten, Wehrwillen und vieles andere mehr. Der seit den 1970ern befürchtete „gläserne“ Bürger und Konsument wird zur Realität. Das Agieren von Staaten und Unternehmen wird auf qualitativ neue Weise zielgerichtet. Werbung und Endverbraucherpreise, staatliche Überwachung und Lenkung können individuell ausgerichtet werden. Freiwilligkeit ist dabei ein gern genutzter Einstieg, zum Beispiel mit dem Angebot von Rabatten oder Boni bei Nutzung des Smartphones zur Gesundheitsüberwachung.
Das Geld totalisiert sich so zu einer umfassenden Steuerungstechnik, die Autoren nennen es „Makroprozessor“:
„In der Steuerung durch die [digitalen] Preissignale versinkt die Welt vor unseren Augen und wir werden zu Sklaven von Bedürfnissen, von denen wir lediglich glauben dürfen, dass es unsere eigenen sind, während sich hinter unserem Rücken die Logik des sich selbstverwertenden Werts durchsetzt und unsere wohlgehegte Subjektivität dabei nur eine abhängige Variable darstellt.“ (S. 280)
Die reine Vernunft des Geldes
Im dritten Teil „Logos“ (altgriechisch für Logik, Vernunft, Sinn, aber auch Wort, Sprache) kritisieren die Autoren die seit einem halben Jahrhundert als Neoliberalismus radikalisierte Idee von Markt und Geld als natürlichen und alternativlosen Einrichtungen. Entgegen den utopischen Versprechungen des liberalen Ökonomen Friedrich Hayek stellen sie fest:
„Der Kapitalismus überlebt immer, und die Verwüstung, die er hinterlässt, stellt ihm immer nur wieder ein neues Geschäftsfeld dar: die Renaturierung nach der Verwüstung, und mit beiden lässt sich Geld verdienen.“ (S. 276)
Allerdings bleibt die scheinbare Unendlichkeit der Geld- bzw. Kreditschöpfung seit der offiziellen Aufhebung der Golddeckung des US-Dollars 1971 ein ungelöstes Rätsel: „Kann das Geld dauerhaft gleichsam ‘über seine Verhältnisse leben’? Oder stehen Prozesse der Geldentwertung, der Kapitalvernichtung und der ökonomischen Krisen an?” (S. 292) Die Autoren warnen vor linken Hoffnungen auf Krise und Zusammenbruch des Kapitalismus und betonen die „schier unglaubliche Metastabilität“ des Systems durch die Externalisierung seiner Existenzbedingungen (u.a. Umweltzerstörung, Ressourcen- und Arbeitskräfteerschöpfung).
Ewiger Kapitalismus?
Wie kann der Kapitalismus trotzdem überwunden werden? Dazu im „Finale“ des Buches:
„Hieße dem Geld entkommen nicht, einem ganzen Kosmos, einer Logik und unserem Chronos, d.h. unserer Zeit und Zeitlichkeit, entkommen zu müssen? Ja, ist es nicht auch und gerade, wie es vom Hegel’schen Geist angenommen wurde, unser Denken, das vom Geld herstammt?“ (S. 295)
Letzteres bezeichnen die Autoren als „Hyperfetischismus“ – dass es den Individuen nicht mehr möglich ist, im Geld seine Wirklichkeit als Kapital zu erkennen. Damit verschränkt ist eine zweite Problematik: Das Geld als Maß ist der gesellschaftliche Zusammenhang, in dem unsere subjektiven Bedürfnisse und Fähigkeiten, die technischen Mittel und die bearbeitete Natur entstanden sind und immer weiter entstehen.
Diese Diagnose bedeutet nicht das Ende antikapitalistischer Bemühungen, im Gegenteil: Eine Überwindung des Kapitalismus ist denkbar, wenn gegen statt mit dieser kapitalistischen Vernunft gedacht wird. Als negatives Beispiel seien hier aktuelle Vorstellungen eines auf Arbeitszeitrechnung basierenden Sozialismus genannt. Paul Cockshott, einer seiner prominentesten Vertreter, veranschaulicht das Konzept: „Für eine Stunde Arbeitszeit könnten Güter gekauft werden, für deren Herstellung genau eine Stunde gearbeitet wurde.“ (Cockshott, zit. n. Müller 2025) Völlig unterschiedliche Tätigkeiten (Gehirnchirurgie, Straßenreinigung, Singen, Unterrichten) würden so willkürlich gleichgesetzt. Qualitative Kriterien eines „guten Lebens“ und einer sinnvollen Gestaltung von Produktion und Reproduktion blieben dieser Grundstruktur äußerlich. Schon Marx hat diese Idee eines Stundenzettelgeldes scharf kritisiert – prominentester Befürworter war der französische anarchistische Sozialist Joseph Proudhon. Solches Denken bleibt gefangen in der kapitalistischen Zeitlichkeit.
Hier zeigt sich, dass die drei Autoren Marx’sche Theorie in Kombination mit neueren philosophischen Ansätzen auf produktive Weise verstehen und entwickeln. Das Buch ist an vielen Stellen schwierig und macht den Lesenden mitunter Mühe. Die oft paradoxen Gedankengänge nicht nur nachvollziehen, sondern selbst denken – das erfordert meiner Ansicht nach kollektive Arbeit in bunt gemischten Kreisen. Sonst bleibt dieser fruchtbare Ansatz radikaler Kapitalismuskritik eine Nischenbeschäftigung einiger sympathisch nerdiger Männer und marxistischer Restposten im akademischen Betrieb.
Zusätzlich verwendete Literatur
Müller, Klaus: Der notwendige Aufwand. Neue Akzente: Paul Cockshotts anregendes Buch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft der menschlichen Arbeit. Junge Welt, 10.3.2025. Online einsehbar hier.
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Eine erste, kürzere Fassung dieser Rezension erschien unter dem Titel „Der Stumme Zwang“ am 07.01.2025 in der Jungen Welt. Online einsehbar hier.
Kleine Philosophie des Geldes im Augenblick seines Verschwindens.
Matthes & Seitz, Berlin.
ISBN: 978-3-7518-2024-0.
318 Seiten. 28,00 Euro.