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Mahnung der Geschichte

Buchautor_innen
Domenico Losurdo
Buchtitel
Der Kommunismus
Buchuntertitel
Geschichte, Erbe, Zukunft

Die Gesamtschau auf das Erbe des Kommunismus erfolgt mit einem konsequenten Bezug zum Antikolonialismus und richtet ihren Blick auch auf Fragen von heute.

Das Erbe der sozialistischen Länder hängt wie ein Damoklesschwert über der kommunistischen Linken. Zwingend kommt in Auseinandersetzungen mit dem Kommunismus die Frage auf, welche Haltung man zu den sozialistischen Ländern der Vergangenheit einnehmen sollte. Einige Antworten auf diese Gretchenfrage weichen einer geschichtlichen Auseinandersetzung aus und bestimmen den Begriff des Kommunismus jenseits des Erbes der Sowjetunion. Domenico Losurdo stellt sich in seinem posthum erschienenen Buch „Der Kommunismus. Geschichte, Erbe und Zukunft“ gegen solche Antworten und präsentiert einen Begriff des Kommunismus, der dem Anspruch einer geschichtlichen Betrachtung standhalten soll. Dabei unternimmt der 2018 verstorbene italienische Philosoph nichts Geringeres als eine Gesamtschau auf das marxistische Erbe, das uns die Sowjetunion hinterlassen hat.

Das antikoloniale Erbe des Kommunismus

Das mitunter wichtigste Moment des kommunistischen Erbes stellt der Prozess der Entkolonialisierung dar, konstatiert Losurdo. Neben dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates ist die Entkolonialisierung „nicht ohne den Impuls und den Beitrag der kommunistischen Bewegung denkbar“ (S. 33). Der Kommunismus zeichnet sich durch eine Unterstützung weltweiter antikolonialer Proteste und Bewegungen aus. Ausgehend von dieser These konfrontiert Losurdo Vertreter des Liberalsozialismus – einer Denkrichtung, die Liberalismus und Sozialismus miteinander vereinen will – mit ihren Aussparungen antikolonialer Kämpfe, die teilweise bis zu einer aktiven Delegitimierung antikolonialer Revolutionen reichen. Damit steht „Der Kommunismus“ in einer Linie mit anderen Werken Losurdos, in denen er die Denkbewegungen des westlichen Marxismus (Losurdo 2021) und des Liberalismus (Losurdo 2010) mit dem Antikolonialismus konfrontiert. Die Ehe mit dem Liberalismus, die Liberalsozialisten anstreben, führt nach Losurdo dazu, dass die Kolonisierten nicht als „aktive Akteure des revolutionären Prozesses“ (S. 117) angesehen werden. Die Kolonialfrage wird systematisch ausgeblendet. In einem bemerkenswerten Ritt durch die Kolonial- und Ideengeschichte wird die Argumentation der Liberalsozialisten mit den grausamen Ausmaßen des Kolonialismus konfrontiert. Exemplarisch kann dies an der Auseinandersetzung mit dem deutschen Sozialdemokraten Eduard Bernstein verdeutlicht werden. Während die koloniale Ausbeutung in Südafrika, Nordamerika und Neuseeland erschreckende Ausmaße annimmt, befürwortet Bernstein die Errichtung von Kolonien. Da die Idee des Sozialismus nur noch für westeuropäische Weiße gilt, bezeichnet Losurdo diese Form des Sozialismus als „Herrenvolk-Sozialismus“ (98). Darüber hinaus dekonstruiert Losurdo gängige Kritikpunkte gegen den Kommunismus, die gerade in bürgerlichen Ausarbeitungen gebetsmühlenartig wiederholt werden. Der Turiner Philosoph Noberto Bobbio wirft dem Kommunismus unter anderem vor, dass er „die Moral auf dem Altar der Geschichtsphilosophie und der Zwangsläufigkeit des geschichtlichen Prozesses“ (S. 130) opfere. Dabei lässt Bobbio die koloniale Tradition und Ideologie völlig außer Acht, gegen die sich dieser Vorwurf durch die vermeintliche Bestimmung der White Supremacy ebenso richten könnte. Es zeugt von einer gewissen Ironie, dass sich Bobbios Kritik ausgerechnet gegen den „großen Antagonisten des Kolonialismus“ (S. 131) richtet.

Kommunismus als Flucht

Im Anschluss an die Bestimmung des kommunistischen Erbes stellt sich die Frage, wie man diesem Erbe gerecht werden kann. Losurdo wägt zur Beantwortung eskapistische Positionen ab, in denen sich die kommunistische Bewegung nicht der Realität stellt und einer aktiven Auseinandersetzung aus dem Weg geht. Indem er sich diese Illusionen genauer vornimmt, versucht Losurdo, den Kommunismus als „wirkliche Bewegung“ (S. 207) zu bestimmen. Er macht darin vor allem einen Hang zum Eskapismus aus. Dazu zählt Losurdo erstens die Neigung, „sich die Emanzipation als eine vollkommene Negation vorzustellen“ (S. 168). Diese Form der Flucht, die Losurdo in Anlehnung an Walter Benjamin als Messianismus bezeichnet, sucht die kommunistische Befreiung in einer Form von Utopie, in der der Staat unmittelbar abgeschafft werden soll. Zweitens identifiziert Losurdo eine Flucht des Kommunismus in einer moralischen Haltung, die den Zustand des Mangels positiv konnotiert und damit einer potenziellen Entwicklung der Produktivkräfte entgegensteht. Losurdo nennt diese Form der Flucht Populismus und identifiziert sowohl einige Aussagen Trotzkis und Stalins mit dieser Position als auch die Degrowth-Bewegung. Beide Formen der Flucht werden als Rebellismus kritisiert, der „per defitionem unfähig ist, sich mit einer konkreten und bestimmten politischen und sozialen Realität zu identifizieren“ (S. 209). In Abgrenzung zu diesen eskapistischen Illusionen entfaltet Losurdo seine Haltung zum Erbe des Kommunismus. Historische Prozesse verlaufen häufig nicht so, wie es die Theorie des Kommunismus gerne hätte. Marx hegte die Hoffnung eines weltweiten Sklavenaufstands, der allerdings nicht eintrat. Der Krimkrieg bot dagegen die reale Chance eines Aufstands der Leibeigenen. Marx musste also seine schematische Vorhersage zugunsten einer realen Auseinandersetzung mit den Chancen und Möglichkeiten des Krimkriegs für die Leibeigenen aufgeben. Die Unvorhersehbarkeit historischer Prozesse zeigt sich in Brüchen, auf die der Kommunismus wiederholt reagieren musste. Aufstände und deren reale Bedingungen führen zu einer Konfrontation der Theorie mit deren Annahmen und Vorhersagen. Das zeigt Losurdo am Beispiel von Lenins Fokus auf die nationale und koloniale Frage Anfang des 20. Jahrhunderts, deren Bedeutung bei Marx und Engels deutlich geringer war. Gleichzeitig hat Lenin die Ausweitung des Kolonialismus auf Europa selbst und die Versklavung der Völker Osteuropas durch den deutschen Faschismus nicht vorgreifen können. Die Welle an weiteren sozialistischen Revolutionen nach der Oktoberrevolution trat in der Realität nicht wie prognostiziert ein. Stattdessen folgten auf den Zweiten Weltkrieg vermehrte antikoloniale Aufstände.

Die kommunistische Bewegung sollte sich – anstatt sich an der „erhabenen Schönheit der kommunistischen Zukunft“ (S. 239) zu laben – mit „den sich in der Gegenwart aufdrängenden Kämpfen“ (ebd.) konfrontieren. Insgesamt sollte eine kommunistische Bewegung nach Losurdo für Frieden kämpfen und „in der ersten Reihe im Kampf für die neue Etappe der weltweiten antikolonialen Revolution stehen“ (S. 238). Damit argumentiert Losurdo für einen Kommunismus, der einerseits dem Antikolonialismus verpflichtet bleibt und andererseits den Kampf um bürgerlich-demokratische Rechte nicht aufgibt.

Streitbare Vorschläge

Wer das Erbe des Kommunismus anerkennen möchte, sollte sich vermehrt mit dem historischen Antikolonialismus des Kommunismus befassen. Das ist eine nachvollziehbare Forderung. Sie löst allerdings noch nicht die Streitigkeiten über historische Deutungen. Losurdos Buch bietet eine historische Betrachtung der Verbindung aus Kommunismus und Antikolonialismus, die vor allem dann ihre dialektisch-argumentative Stärken offenbart, wenn die kommunistische Bewegung mit der Realität antikolonialer Kämpfe konfrontiert wird. Kritisieren lässt sich dagegen das Staatsverständnis von Losurdo. Er lehnt das Absterben des Staates ab und verteidigt China gegen Kritik. Das sieht man beispielsweise an den positiven Bezugnahmen auf die Politik von Deng Xiaoping. Gegen den Einwand, dass Deng Xiaoping mit seinen Reformen Chinas Weg in Richtung Kapitalismus ebnete, stellt Losurdo das Argument der historischen Notwendigkeit. Die Frage, ob China mittlerweile selbst zu einem Imperialisten werden konnte, wird in dem Buch ausgeblendet und nicht weiter vertieft. Losurdo fordert immer wieder, dass sich die kommunistische Bewegung der Realität politischer Herrschaft stellen sollte. Zu dieser Realität gehört allerdings genauso, dass sich der Anspruch des antikolonialen Kampfes in Form von Herrschaft auch in sein Gegenteil verkehren kann. In Losurdos Betrachtung des Kommunismus scheint es einen solchen Punkt nicht zu geben. Hier droht sein Realismus in Positivismus umzuschlagen. Allerdings muss bei diesem Kritikpunkt angeführt werden, dass das Buch ein Fragment geblieben ist. Die Bezugnahmen auf China bleiben vor allem deswegen vage, weil geplant war, ein eigenständiges Buch zu China zu veröffentlichen.

Der Philosoph hinterlässt ein doppeltes Erbe: sein Lebenswerk und das Erbe des Kommunismus. Auch wenn sich einzelne Argumente Losurdos kritisieren lassen, bleibt das Gesamtprojekt ein Unterfangen, das zur historischen Auseinandersetzung anregt. Losurdo schaut mit kritischem Blick zurück in die Vergangenheit, ohne die Zukunft aus den Augen zu verlieren. Was bleibt, ist seine Mahnung, nicht in abgehobene Träumereien zu verfallen, sondern sich stets an der Realität zu orientieren.

Zusätzlich verwendete Literatur

Losurdo, Domenico (2010): Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus. PapyRossa Verlag, Köln.
Losurdo, Domenico (2021): Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und wieder auferstehen konnte. PapyRossa Verlag, Köln.

Domenico Losurdo 2023:
Der Kommunismus. Geschichte, Erbe, Zukunft. Übersetzt von: Christel Buchinger.
PapyRossa Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89438-815-7.
258 Seiten. 24,00 Euro.
Zitathinweis: Oliver Krüger: Mahnung der Geschichte. Erschienen in: Erbe(n). 75/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/eEcdy. Abgerufen am: 15. 04. 2025 20:18.

Zum Buch
Domenico Losurdo 2023:
Der Kommunismus. Geschichte, Erbe, Zukunft. Übersetzt von: Christel Buchinger.
PapyRossa Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89438-815-7.
258 Seiten. 24,00 Euro.