Im Westen nichts Neues?
- Buchautor_innen
- Perry Anderson
- Buchtitel
- Über den westlichen Marxismus
Von den kämpferischen Anfängen zu den pessimistischen Theoretisierungen. Der Marxismus und sein Erbe.
Anfang der 1970er-Jahre kam es innerhalb der Redaktion der Zeitschrift New Left Review, die die intellektuelle Neue Linke Großbritanniens versammelte, zu einer eisernen Grundsatzdiskussion über den wissenschaftlichen Marxismus. Der britische Historiker Perry Anderson, der zu dieser Zeit Mitherausgeber der Zeitschrift war, stellte sich gegen die freie Interpretation der marxistischen Theorie. Während er britischen Theoretiker*innen wie E.P. Thompson falsche Empirie vorwarf, sprach er dem kontinentaleuropäischen, wissenschaftlichen Marxismus seine Bewunderung aus. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, in seinem Werk „Über den Westlichen Marxismus“ (englischsprachiger Originaltitel: „Considerations on Western Marxism“) von 1976 auch die Protagonist*innen dieser Strömung zu kritisieren.
Laut Anderson hat sich der westliche Marxismus, der ab den 1920er-Jahren in Erscheinung trat, nicht in Form eines zusammenhängenden, spezifischen Projektes entwickelt. Zwar gab es im Umfeld des Instituts für Sozialforschung, das 1923 in Frankfurt gegründet wurde, Theoretiker wie Horkheimer, Adorno, Marcuse sowie in Frankreich Althusser und Sartre, die parallel zueinander Schriften zum Marxismus publizierten. Jedoch gab es grundlegende Unterschiede in deren Interpretationen. Diese neue Generation marxistischer Intellektueller, die mehrheitlich westlich von Berlin sozialisiert waren, hatten ihre Professuren an Universitäten ergattert und teilten kein gemeinsames Revolutionsideal. Die Idee einer Revolution und einer darauffolgenden sozialen Gerechtigkeit war für diese neue, vermehrt auf Philosophie und Kunst fokussierte, Generation ein satirischer und, gerade für Adorno, gar ein unmöglicher Gedanke.
Die erste Generation
Es ist dieser Pessimismus, den Anderson in „Über den Westlichen Marxismus“ kritisiert. Laut Anderson gibt es keinen einzigen (westlichen) Marxisten außer dem italienischen Politiker und Philosophen Antonio Gramsci, der die Möglichkeit einer Revolution auch nur beschrieben hätte. Nicht einmal Karl Marx selbst habe so explizit wie Gramsci über Wege, die zur Revolution führen könnten, nachgedacht. Lebensstil und Ideale von Marx’ Generation unterschieden sich grundlegend von jenen der folgenden Generationen. Laut Andersons Einschätzung hatte Marx all das gemacht, was ein revolutionärer Denker nach der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert hatte tun müssen: Er arbeitete in Gewerkschaften, übernahm die Führung in revolutionären Arbeiterparteien und unterrichtete Arbeiter*innen.
Karl Marx, der zeitlebens mit finanziellen Sorgen zu kämpfen hatte, konnte nur mithilfe der materiellen Unterstützung Friedrich Engels’ politische und ökonomische Schriften verfassen. Marx und Engels galten als führende Vertreter der revolutionären Arbeiterbewegung Europas. Die Situation der Arbeiterbewegung sahen sie aber nicht nur auf Europa begrenzt. Mit dem Aufruf „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ und dem 1848 veröffentlichten „Kommunistischen Manifest“ wollten Marx und Engels die Arbeiterklasse in Form von Gewerkschaften und Parteien organisieren und gegen die Bourgeoisie mobilisieren.
Im Wesentlichen drehen sich Marx’ politische und ökonomische Theorien darum, dass Gesellschaften sich durch die Konflikte zwischen der Herrschaftsklasse, die die Produktion kontrolliert, und der Arbeiter*innenklasse, die zur Produktion nötig ist, weiterentwickeln. Kurz: Geschichte besteht aus Klassenkämpfen. Wie also sollte die Arbeiter*innenklasse den sich verändernden bürgerlichen Staat umstürzen? Anderson findet die Antwort dieser Frage nicht bei Marx, sondern bei Gramsci.
Wie Marx selbst wurden auch seine frühen Anhänger Wladimir Iljitsch Lenin, Rosa Luxemburg und Leo Trotzki zu Führungsfiguren in den revolutionären Arbeiter*innenparteien ihrer jeweiligen Länder. Während diese erste Generation von Marxist*innen versuchte, Marx’ Ideen zu vervollständigen, sorgte zur selben Zeit der Imperialismus dafür, dass Staatstrukturen in der gesamten Welt in Umbruch gerieten. Der Aufstieg des Nationalismus nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bereitete den Weg für eine neue Generation von Marxist*innen, die sich vom Weg der vorigen revolutionären Generation vollkommen loslösen sollte.
Pessimismus statt Klassenkampf
Mit Lenins Tod im Jahr 1924 waren die kommenden Jahre in Russland von Stalins Verrat am Marxismus geprägt. Stalin verbot nicht nur alle Arbeiterproteste, er führte Russland weg von der Revolution und hin zum Polizeistaat. Auch in Europa verkam die Idee der sozialen Gerechtigkeit zu einer unerreichbaren Träumerei: Der Faschismus – Mussolinis Regime in Italien, der Nationalsozialismus in Deutschland und die faschistischen Regierungen in Österreich sowie in Francos Spanien – brachte alle Entwicklungen zum Halt.
Nicht zuletzt führte die neue Stabilität, die der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte, in den folgenden Jahren zur weitgehenden Verdrängung der sozialistischen Idee. Der westliche Marxismus wurde auf dem Pessimismus eben dieser Zeit begründet. Statt Parteien und Gewerkschaften besetzte die neue Generation Universitäten. Statt mit der kapitalistischen Ökonomie beschäftigten sich die neuen Marxist*innen mit dem Kulturbegriff. Nicht nur hatte sich diese Generation, laut Anderson, weitestgehend von der revolutionären Praxis des Klassenkampfes entfernt, sie verfasste lediglich Schriften, die außerhalb der Universitäten nicht verstanden wurden und somit nur für interne, akademische Diskussionen sorgten.
„Der auffallendste Zug der gesamten Tradition von Lukács bis Althusser, von Korsch bis Colletti ist die überwältigende Dominanz von Berufsphilosophen. […] Die marxistischen Intellektuellen vor dem ersten Weltkrieg sind nie in das Universitätssystem integriert gewesen. Die Form der politischen Einheit von Theorie und Praxis, die sie verkörpertem, war unvereinbar mit einer akademischen Position“ (S. 77).
Der einzige Denker, der sich zu dieser Zeit nicht dem Pessimismus hingab, war laut Anderson auch der einzige, der sich außerhalb der Akademie befand: Antonio Gramsci. Als einziger in seiner Generation habe Gramsci die Bedeutung des Klassenkampfes für die Zerschlagung des bürgerlichen Staates formuliert. Vor allem betont Anderson Gramscis Hegemonie-Begriff:
„Gramscis Übernahme verwandelte dieses Wort im Grunde in ein völlig neues Konzept innerhalb der marxistischen Theorie, das dazu dienen sollte, gerade die politischen Strukturen der kapitalistischen Macht zu erfassen, die im zaristischen Russland nicht vorhanden waren. [...] Gramsci formulierte das Konzept der Hegemonie, um die entschieden größere Stärke und Komplexität der bürgerlichen Klassengesellschaft in Westeuropa zu bezeichnen, die eine Wiederholung der Oktoberrevolution in den fortgeschritteneren kapitalistischen Gebieten des Kontinents verhindert hatten“ (S. 117).
Optimismus des Willens
Während eben diese Erkenntnis – dass die soziale Gerechtigkeit nicht in absehbarer Zeit mit einer Revolution erreicht werden konnte – die sogenannten westlichen Marxist*innen in einen „allgemeinen, latenten Pessismismus“ stürzte, eröffnete Gramsci, so Anderson, mit seinem theoretischen Vermächtnis die Aussicht auf einen „langwierigen Zermürbungskrieg“ (S. 130). Statt der Hoffnung auf den plötzlichen Umsturz des Staats, setzte Gramsci auf die Strategie, Bildungsinstitutionen, Kunst, Medien, Gewerkschaften, religiöse Gemeinden und politische Parteien und somit auch das System, in dem diese existieren, Schritt für Schritt von innen zu verändern. Nach der Maxime: „Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens“ (S. 131).
Andersons grundlegender Kritikpunkt lautet also, dass keine*r der westlichen Marxist*innen sich dem Weg näherte, den Gramsci bis zu seinem frühen Tod vorgezeichnet hatte. Andersons Buch eignet sich durchaus als gut lesbare Einführungsliteratur für Marxismus-Interessierte und wurde auch eine Zeit lang als Standardwerk betrachtet. Jedoch was die Interpretation von Gramscis codierten Schriften aus dem Gefängnis angeht, finden sich trotz Andersons unbedingtem Fokus auf den italienischen Denker deutlich überzeugendere Werke und Autor*innen. So wird der walisische Schriftsteller und Literaturkritiker Raymond Williams (1978), der sich Gramscis Werk aus kultureller Perspektive nähert, von Anderson nicht einmal als Marxist anerkannt. Dabei sind Williams Texte zu Gramscis Hegemonie-Begriff ebenfalls sehr beeindruckend und empfehlenswert.
Zusätzlich verwendete Literatur
Williams, Raymond (1978): Marxism and Literature. Oxford University Press, Oxford.
Über den westlichen Marxismus.
Syndikat Verlag, Frankfurt am Main.
ISBN: 3810800740.
186 Seiten. 65,00 Euro.