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Die Normalisierungsmaschine

Buchautor_innen
Kilian Jörg
Buchtitel
Das Auto und die ökologische Katastrophe
Buchuntertitel
Utopische Auswege aus der autodestruktiven Vernunft

Ein philosophischer Versuch über die Abstumpfung des Menschen im Autozeitalter und wie mit jeder Autofahrt die Trennung von Verstand und Gefühl aufs Neue eingeübt wird.

Kilian Jörg hat ein 390 Seiten dickes Buch über das Objekt seiner Performance-Kunst geschrieben: das Auto. Das Buch ist philosophisch fundiert und trotzdem leicht verständlich. Der Lesefluss wird durch Anekdoten aus dem Leben des Autors – als Kind eines Autojournalisten, als Aktivist und als Radfahrer in Wien – aufgelockert.

Entlang postmoderner Theorien von Jacques Derrida und Jean Baudrillard wird die Normalität des Autos als das Maschinenhafte unseres Alltags seziert. Es ist nicht nur das uns Äußerliche, die Auto-Stadt und die Welt der Autobahnen, das maschinenhaft wird, wir selbst sind das Objekt der Veränderung. Der Mensch des Autozeitalters wird abgestumpft und übt mit jeder Autofahrt die Trennung von Verstand und Gefühl aufs Neue ein. Dieser Pyrrhussieg der Vernunft über das Gefühl, von Textlichkeit über Sinnlichkeit, ist für Jörg Kilian weder Unfall noch Zufall, sondern der vollständige Triumph der abendländischen Philosophie, die mit Plato vor zwei Jahrtausenden begann und mit Descartes im 17. Jahrhundert ihren ideologischen Höhepunkt erreichte.

Während diese Rationalität von Plato bis Descartes, von Hexenverfolgung bis zur protestantischen Ethik noch gegen andere Seinsformen etabliert und verteidigt werden musste, sei dies seit dem Sieg des Autos nicht mehr notwendig. Das Auto ist laut Kilian Jörg die „einbetonierte Vernunft“, die Verdrängung von Zufall und Spiel im Alltag. Sie ist die Entkörperlichung unseres Seins zugunsten einer Vergeistigung und ein Ausweichen in Text und Symbole, sei es im Buch, in Zeitung, Straßen-Piktogramm oder Smartphone. Was die Philosophen Adorno und Horkheimer instrumentelle Rationalität genannt haben, ist im Auto Alltagspraxis geworden. Diese hat es wenig nötig, sich zu erklären, weil sie ohnehin als stummer Zwang vorhanden ist.

Die Lust am Crash

Andy Warhol hat dem Auto-Crash einige Kunstwerke gewidmet und diese Lust geradezu gefeiert. Woher kommt die Lust am Crash? Hier ist der spannendste Teil des Buches, der der verborgenen Lust, dem freudianischen Todestrieb in der maschinischen Moderne nachspürt. Mit der heute fast überall waltenden Herrschaft des Autos ist auch die Lust an seiner Vernichtung im einzelnen Crash, oder gleich im Katastrophen- und Weltuntergangsfilm, groß geworden. Die Moderne ist bis heute unabweisbar alternativlos, aber Hollywood bezeugt die Verbreitung der Lust, sie einmal untergehen zu sehen, von „Dr. Seltsam und wie ich lernte die Bombe zu lieben“ (1964) bis „Day after Tomorrow“ (2004). Und wer versagt sich das Glotzen auf ein ausgebranntes Auto am Straßenrand nach einem Unfall? In Argentinien und Polen werden verkohlte Wracks seitens der Behörden absichtlich am Straßenrand belassen zwecks Abschreckung und Warnung der noch lebenden Autofahrer*innen.

Die Selbstzweifel des Westens

Wann die guten Seiten von Aufklärung und Vernunft in Vernunft als rationalisierten Todestrieb umgeschlagen sind, dafür wagt der Autor – unter Aussparung des deutschen und weiterer Zivilisationsbrüche – die Angabe eines genauen Zeitpunktes. Das sei mit der Abwahl Jimmy Carters als Präsident der USA 1979 geschehen. Carter war ein anderer Typus Mann, eine Art Anti-Trump ohnehin, aber auch ein Anti-Ronald-Reagan. Seine letzte große Rede als Präsident von 1979 hieß „Crisis of Confidence“, Krise der Selbstsicherheit. Carter zog in Zweifel, ob mehr Krimskrams zu kaufen mehr Glück bedeute, ob die USA wirklich ein besseres Land würden, mit immer mehr Konsum. Er ließ seinen ökologischen Warnungen Taten folgen und – die damals schon erfundenen – Solarzellen auf dem Dach des Weißen Hauses installieren. 1979 – wie anders könnte die Welt heute aussehen, wenn …!

Die erste Amtshandlung seines Nachfolgers, des Imperialisten und rechten Republikaners Ronald Reagan war es, diese wieder abschrauben zu lassen. Der weitere Weg bis 2024 ist bekannt. Fracking hat mehr Erdgas und -öl zugänglich gemacht und fürs Erste Windräder und Solarzellen in den USA und im „Westen“ besiegt; zumindest ist es zu spät, das Klima noch vor dem Kippen zu retten. Im Dezember 2024 blockierten noch ganze 250 Demonstrant*innen die weltweite Fracking-Gas-Konferenz in Berlin. In den 1980er Jahren hätten es vermutlich Zehntausende sein können, wie gegen den IWF-Kongress in Westberlin.

Jimmy Carter hat die Besetzung der US-Botschaft in Teheran aussitzen lassen, um Blutvergießen zu vermeiden. Diese Schwäche wurde ihm von den Wähler*innen nicht verziehen. Der vormalige Cowboy-Schauspieler Reagan hingegen investierte im großen Stil ab 1981 in den Stellvertreterkrieg in Afghanistan, ließ zahlreiche Länder bombardieren und das kleine zentralamerikanische Grenada besetzten. Seit Reagan weigere sich der Westen, so Kilian Jörg, sich seine Schwäche einzugestehen und sich selbst über die eigenen Werte zu befragen. Gleichzeitig habe der Aufstieg der Islamophobie begonnen, die Schwäche und Unsicherheit im Sinne einer freudianischen Projektion ins Außen verlagert.

Im Jahr 2025 lässt sich einfach Rechenschaft über beides ablegen. Donald Trump – und sein Alter Ego Elon Musk – ist der vollendete Anti-Jimmy-Carter und wird die USA wohl in ein dunkles Zeitalter führen. Islamistenhorden werden von USA und Europa in Syrien toleriert, nachdem sie von USA und Türkei offen unterstützt wurden – und warum auch nicht, sie entsprechen endlich der Variante des Islam, die sich der Westen seit Reagan als Klischee vorgestellt hat: brutal, barbarisch, kulturfeindlich und religiös-fundamentalistisch. Das Ganze begann im Übrigen mit den Mudjahedin in Afghanistan, eben seit Reagans Stellvertreterkrieg ab ungefähr 1981. Aus ihnen wurden dann bekanntlich die Taliban, aus denen wiederum al-Qaida, ISIS und ganz zuletzt die „light Version“, der HTS, welcher im Dezember 2024 das westliche Syrien übernommen hat. Reagan selbst empfing die wunderlich bärtige Rasselbande aus Afghanistan noch im Weißen Haus. Als Kämpfer gegen die Sowjetunion waren sie gut genug. Ein langer Weg war es, und Afghanistan ist nun wahrscheinlich frauenfeindlicher und fundamentalistischer als 1979. Ganz sicher sind es Syrien und die meisten Länder des „Nahen Ostens“.

Verschwörungen und Monster-Autos

Das Buch macht eine weitere Lust am Crash aus: In den Verschwörungsvideos auf Youtube wird schon seit Covid ein „Great Reset“ befürchtet, eine große Veränderung aller bekannten Normalität. Die Schuld wird mal der 15-Minuten Stadt (Fahrrad- und Fußgänger*innenfreundlich), den Covidmaßnahmen, der Immigration oder dem grünen New Deal zugeschoben. Dahinter stehe, so Kilian Jörg, eine heimliche Sehnsucht, dass eben wirklich einmal alles anders wird, dass es wirklich einen „Great Reset“ gäbe. Hierin ist das Wissen aufgehoben, dass sich das System nicht ein bisschen ändern lässt, wie die grünen Parteien aller Länder vorgeben, sondern nur von Grund auf. Und dass das Ausmaß der Klimakatastrophe auch den Leugner*innen bewusst ist, beweisen zahlreiche Studien zum Aufstieg des SUV als neuem Standardauto.

Ein SUV (super utility vehicle) ist ein Monsterauto, fast so groß wie früher ein Möbelwagen, befördert aber meist nur eine Person. Es wird deshalb auch als Pick-Up Version bezeichnet. Auf Elon Musks neues Elektro-Pick-UP-SUV hat der Verbündete Vladimir Putins, Ismael Khadirov, im Sommer 2024 völlig bar jeder Ironie ein schweres Maschinengewehr montieren lassen und das Ganze auf X als hilfreiche Kriegswaffe in der Ukraine gelobt.

Da jedoch vonseiten der Reformer*innen für radikale Probleme wie die Klimazerstörung oder die fortschreitende Unbewohnbarkeit unserer Städte durch Mietwucher und Autopest immer wieder nur leichte Reförmchen vorgeschlagen werden, öffnet sich eine Radikalitätslücke. Nur die „Rechtspopulisten“ sind angemessen radikal, wenn auch in der falschen Richtung und bekommen daher Zulauf aus vielen Lagern. Hätte ein Präsidentschaftskandidat wie Bernie Sanders Trump mit einem „Socialism for Amerika“ besiegen können? Wir glauben, ja.

Die kaputte Moderne

Die Bewegungen zur Befreiung vom Auto werden sich auf kein gemeinsames Programm einigen können, so der Autor. Denn schon die gemeinsame Bezugnahme auf unsere Gegenwart ist Teil der Moderne und die Moderne ist, vereinfacht gesagt, kaputt. Vielmehr gilt es, in den Ruinen der Moderne die zarten Pflänzchen eines emanzipativen Neuanfangs zu pflegen. Das sind Orte wie die Baumhausdörfer im Hambacher und Dannenröder Forst, die Waldbesetzungen nahe der Tesla-Fabrik bei Berlin oder die „Zone Autonome de Defendre“, kurz ZAD, in Frankreich. In den ZAD ist ein historisches Wissen aufgehoben, dass es nicht mehr reicht, einen neuen Raum zu schaffen und sich darin auszuruhen wie die 68er. Die Zone außerhalb des normalisierten Wahnsinns muss vor allem verteidigt werden, so Jörg Kilian, denn die Herrschaft der Automoderne wende sich automatisch gegen Abweichungen. In Berlin war das gut zu sehen, als in den letzten Jahren unter einer SPD-Grün-Links Regierung rund die Hälfte der verbliebenen bunten Hausprojekte geräumt wurden, als ob die Stadt keine anderen Probleme hätte.

Aber zurück zum Auto: Vor zweieinhalbtausend Jahren saß Sokrates, so will es die Überlieferung, am Fluss Illisos und dachte über die Welt nach. Gefragt, ob er nicht in die Stadt unter Menschen zurück gehen wolle, verneinte er. Er denke lieber entfernt von ihr über die Welt der Menschen nach. Diese Trennung gilt es nach Kilian Jörg zu ersetzen durch ein Sein in und mit der Welt, welches nicht länger Fühlen und Denken, Kultur und Natur, wie seit Descartes üblich, trenne. Der Illisos solle genauso zur Welt zählen wie Athen und die Polis. Der Rückweg in die Polis führe über eine epistemische Repluralisierung in den Ruinen der nach-modernen Welt. So endet das Buch überraschend mit einem Schimmer Optimismus.

Kilian Jörg 2024:
Das Auto und die ökologische Katastrophe. Utopische Auswege aus der autodestruktiven Vernunft.
Transkript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-7408-8.
390 Seiten. 24,00 Euro.
Zitathinweis: Peter Nowak und Conrad Kunze: Die Normalisierungsmaschine. Erschienen in: Erbe(n). 75/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/NTAcX. Abgerufen am: 15. 04. 2025 20:24.

Zum Buch
Kilian Jörg 2024:
Das Auto und die ökologische Katastrophe. Utopische Auswege aus der autodestruktiven Vernunft.
Transkript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-7408-8.
390 Seiten. 24,00 Euro.