Das Erinnern ermöglichen

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- Neues deutsches Geschichtsbewusstsein
Der Sammelband ist eine dringend notwendige Intervention in die deutsche Erinnerungspolitik und legt dabei den instrumentellen Charakter von Staatsräson frei.
Erinnerung wird in der Bundesrepublik vielfach als exklusives Erbe verhandelt – als etwas, das jenen vorbehalten ist, die sich auf eine vermeintlich generationenalte Verankerung im deutschen „Wir“ berufen können. In einer Gegenwart, die von autoritären Verschiebungen, rassistischen Diskursen und einer politischen Normalisierung des Ausgrenzens geprägt ist, wird jedoch deutlich: Erinnerung ist nicht bloß retrospektive Praxis, sondern beeinflusst gesellschaftliche Zugänge und Zugehörigkeiten. Wer darf erinnern, wer wird gehört – und wessen Geschichte bleibt systematisch unsichtbar?
Kein Vogelschiss
Der von dem Historiker Jürgen Zimmerer herausgegebene Sammelband „Erinnerungskämpfe“ liest sich vor diesem Hintergrund wie eine dringende Intervention in eine staatlich vorgegebene Erinnerungspolitik, die sich zunehmend als Bollwerk versteht: gegen Ambivalenz, gegen Vielstimmigkeit, gegen jegliche Kritik. Die Beiträge zeigen, dass das deutsche Erinnern ein umkämpftes Terrain ist, in dem politische Deutungsmacht ebenso verhandelt wird wie historische Verantwortung.
Die Auseinandersetzungen um das Humboldt Forum in Berlin, um postkoloniale Kunstschaffende oder um das Verhältnis zwischen Antisemitismus und Rassismus markieren dabei nicht nur kulturpolitische Grabenkämpfe – sie verweisen auf tiefgreifende Widersprüche im Selbstverständnis der Bundesrepublik. Zimmerer versammelt Beiträge, die eines gemeinsam haben: Sie verweigern sich der deutschen Selbstvergewisserung durch ritualisierte Erinnerung.
Ein zentraler Ausgangspunkt des Bandes bildet die Auseinandersetzung mit dem sogenannten Historikerstreit 2.0 und, damit verbunden, dem Singularitätspostulat des Holocaust: Nicht um die Beispiellosigkeit zu bestreiten, sondern um sie gegen ihre Instrumentalisierung zu verteidigen. Renommierte internationale Autor:innen – darunter Zimmerer selbst, Eyal Weizman und Hanno Hauenstein, Michael Rothberg, Sonja Hegasy oder A. Dirk Moses – argumentieren: Wird die Shoah zur erinnerungspolitischen Monade, verliert sie das, was sie eigentlich lehren müsste. Was alleine als „unvergleichbar“ gedacht wird, kann nicht als Mahnung für andere Verbrechen dienen. Der Holocaust wird so in seiner historischen Tiefe enthistorisiert – und damit politisch entwaffnet.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Kritik an der bundesdeutschen Staatsräson zu lesen, die sich unter anderem in der bedingungslosen Solidaritätsrhetorik gegenüber Israel verdichtet hat – selbst dann, wenn dafür die Augen vor eklatanten Völkerrechtsbrüchen, vor Besatzung und Genozid verschlossen werden müssen.
„Die ‚Beispiellosigkeit‘ der Shoah hat also auch eine präzise politische Stoßrichtung. Sie begründet die bedingungslose Solidarität mit Israel und nur mit Israel, nicht etwa mit der Ukraine, dem Schauplatz millionenfacher deutscher Massaker während des Zweiten Weltkriegs […].“ (S. 22)
Die Staatsräson beschränkt die deutsche Verantwortung anstatt sie zu begründen. Die Verantwortung für weitere Genozide, Massaker und koloniale Verbrechen lässt sich so zur Seite schieben und vergessen machen. Erinnerungspolitik wird funktionalisiert, um Kritik zu delegitimieren. Die polemischen (vielfach schlicht widerwärtigen) Reaktionen auf Positionen wie die von Michael Rothberg zeigen, wie schnell postkoloniale oder universalistische Perspektiven unter den Generalverdacht des Antisemitismus gestellt werden – zumeist ohne irgendeine inhaltliche Auseinandersetzung. Der Band widerspricht solchen Angriffen entschieden, ohne selbst in eine ätzende Gegenpolemik zu verfallen. Stattdessen öffnet er Räume für ein Erinnern, das verbindet statt trennt, das differenziert statt diszipliniert. Ein Meron Mendel kann im Band seine Perspektive kritisch gegen jene von A. Dirk Moses stellen – und die Leser:innen lernen daraus. Wer hingegen jede Kontextualisierung reflexhaft zurückweist, verunmöglicht universalistische Lehren aus der Geschichte.
Erinnern wird nicht weniger, in dem man mehr erinnert
Indes geht es im Band um weit mehr als den Holocaust und Kolonialismus: Die Beiträge machen deutlich, wie selektiv die bundesrepublikanische Gedächtnispolitik über Jahrzehnte hinweg verlief – und bis heute verläuft. Insbesondere das erinnerungspolitische Tabula rasa nach der Zeit des Deutschen Faschismus rief nach einem „Fundamentalkonsens“ (S. 14), der „Deutschland Glaubwürdigkeit nach außen und einen neuen identifikatorischen Kern nach innen“ (S. 15) verschaffen sollte. Der deutsche Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion, das Fortwirken kolonialer Gewaltlogiken, das Weiterleben nationalsozialistischer Überzeugungen in Justiz, Verwaltung und Repressionsapparaten – all das wird im öffentlichen Gedächtnis nur randständig erinnert beziehungsweise systematisch an spezifische Gedenkorte verdrängt. Ebenso ergeht es der Aufarbeitung von Rechtsterror, Rassismus und institutioneller Gewalt: Sie erscheinen bis heute nicht als inhärenter Bestandteil deutscher Geschichte und Erinnerungskultur, sondern als bedauerliche Ausnahmen.
Genau hier liegt eine Stärke des Bandes: Er versammelt Perspektiven, die im hegemonialen Erinnerungsdiskurs oft marginalisiert werden. Die Autor:innen fordern nicht etwa eine „neue Opferkonkurrenz“, sondern ein Erinnern, das multidirektional, emphatisch und gerecht ist – und sich auch seiner Leerstellen und Dilemmata annimmt. Werde, so Jürgen Zimmerer in der Einleitung, zum Beispiel Antisemitismus einzig als Problem arabisch gelesener Menschen verortet, wie in den deutschen Feuilletons üblich, komme dies „einer symbolischen (historischen) Verantwortungsverweigerung“ (S. 13) gleich. Ozan Zakariya Keskinkılıç beschreibt den Mechanismus, auf das falsche Narrativ eines „christlich-jüdischen Abendlandes“ zurückzugreifen, dem ein unvereinbar erscheinendes muslimisches Morgenland entgegengesetzt wird:
„Die nicht nur unter Rechtspopulist:innen beliebte Formel soll Jüdinnen und Juden zur Abwehr von Muslim:innen instrumentalisieren. Sie dient dazu, eine positive Rückbesinnung auf ‚unsere‘ deutsche Identität zu garantieren, indem eine besondere Nähe und Freundschaft zum Jüdischen inszeniert und zugleich das Muslimische exkludiert wird. Doch die plakative Solidarität mit Jüdinnen und Juden ist brüchig, sie kehrt sich schnell in eine Verratsrhetorik um, wenn die Minderheit sich nicht gegen Andere vereinnahmen lässt.“ (S. 465)
Die vielen jüdischen Aktivist:innen und Akademiker:innen, die sich gegen Israels Kriege wenden, bekommen dies derzeit – ob in Deutschland oder in den USA – deutlich zu spüren.
Die Fäden zusammenführen
Der Band erschien im Sommer 2023, kurz vor dem Massaker der Hamas am 7. Oktober in Israel. Und damit auch vor den Auswirkungen, die der bis heute andauernde Genozid der israelischen Regierung in Gaza (sowie die Angriffe im Westjordanland, im Libanon, in Syrien…) auch auf die gesellschaftspolitischen Debatten und das Selbstbild Deutschlands hat.
In Zeiten, in denen „das richtige Erinnern“ zunehmend zur Frage der Staatsräson und dabei selektiv, funktional und autoritär aufgeladen wird, ist dieser Sammelband ein dringend notwendiges Störsignal. Nicht jeder Beitrag ist gleich scharf formuliert, manches hätte weniger kleinteilig aufgearbeitet werden können und eine stärkere Fokussierung auf erinnerungspolitische Kämpfe aus Klassenperspektive oder kommunale, marginalisierte Erinnerungspraxen – etwa von Sinti und Roma – wäre wünschenswert gewesen.
Jedoch: Die Sammlung ist keine starre Auflistung, sondern ein Ort der Auseinandersetzung. Kein Schlussstrich, sondern Teil eines Auftakts – für ein Erinnern, das weder zur Verteidigung bestehender illiberaler Machtverhältnisse dient noch in identitäre Selbstvergewisserung kippt. Ein Erinnern, das nicht gegeneinander aufrechnet, das Kontinuitäten aufzeigt und eine breitere Debatte über ein kollektives Geschichtsbewusstsein ermöglicht.
Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein.
Reclam Verlag, Ditzingen.
ISBN: 978-3-15-011454-4.
536 Seiten. 25,00 Euro.