Die Macht der Dinge

- Buchautor_innen
- Marlen Hobrack
- Buchtitel
- Erbgut
- Buchuntertitel
- Was von meiner Mutter bleibt
Eine Tochter kämpft sich nicht nur durch die übervollen Schränke ihrer verstorbenen Mutter, sondern auch durch Schichten aus Erinnerung, Trauma und sozialer Herkunft.
Marlen Hobrack bearbeitet in ihrer Neuerscheinung den Tod ihrer Mutter, in dem sie sich Schicht für Schicht durch deren Nachlass kämpft: allem voran eine vollgestopfte 70 Quadratmeter-Wohnung. Die Entrümpelung, das Aussortieren und Abtragen des „Hortes“, wie sie es nennt, erfüllt dabei mehrere Funktionen. Es ist ihre Art der Bewältigung, der Auseinandersetzung mit dem Tod der Mutter: „…noch in den ersten Stunden nach ihrem Tod verschob sich, zunächst unmerklich, dann mit voller Wucht, die Last der Bewältigung ihres Todes auf die Last der Bewältigung ihrer nachgelassenen Dinge (…)“ (S. 14). Gleichzeitig seziert die Autorin anhand der Dinge, die sie abträgt, die Persönlichkeit und Geschichte ihrer Mutter, sowie ihre Beziehung zu ihr. Während sie auf das Einsetzen der Trauer und des Schmerzes wartet, setzt sie sich auch damit auseinander, welches Erbgut in ihr selbst schlummert, wieviel ihrer Mutter in sie überging. Sie nennt es die „Archäologie der Mutter“ (S. 24) – freizulegen, was die Mutter verdrängte, vorzudringen zu ihrem Kern, nach Beweggründen suchen, die Mutter zu bewältigen.
Klassenspezifische Vermarktungslogik
Marlen Hobracks Mutter verstirbt mit 69 Jahren. Sie war Zeit ihres Lebens Arbeiterin und erlebte als Kind, was es bedeutet, in Armut aufzuwachsen. Diese Armut war nicht begrenzt auf materiellen Mangel, sondern zog weite Kreise: emotionale Vernachlässigung, Gewalt, Einsamkeit. Aus eigener Kraft schaffte die Mutter es, sich in die Mittelklasse hochzuarbeiten. Hobrack interpretiert das Horten der Dinge als Bewältigungsstrategie, als einen schützenden Kokon aus Waren, den ihre Mutter um sich gesponnen hatte, um Schmerz und Einsamkeit beizukommen, um wenigstens kurzzeitig Befriedigung und Glücksgefühle im Konsum zu erfahren. Definitionsgemäß ist der Hort schließlich neben etwas verborgenem, angesammeltem, angehäuftem, gleichzeitig Schonraum und Schutzzone. Hobrack nähert sich dem Phänomen des Hortens auf verschiedene intellektuell rationale Weisen. Sie zieht diagnostische Leitfäden zum Krankheitsbild des pathologischen Hortens heran, liest psychotherapeutische Handbücher, schaut Dokumentationen und Fernsehshows und spinnt immer wieder Fäden zu ihrer eigenen Geschichte und der Geschichte ihrer Mutter.
Dabei bettet sie das exzessive Konsumverhalten ihrer Mutter in den Kontext der kapitalistischen Warengesellschaft ein und analysiert deren brutale Vermarktungslogiken an ihrer Person: sie ist als alleinstehende Frau aus der Arbeiter*innenklasse mit erhöhter psychischer Vulnerabilität besonders anfällig für Online- und Teleshopping, denn „[d]ie Ratenzahlung ermöglicht es noch den ärmsten Menschen zu konsumieren“ (S. 115). In Anlehnung an bell hooks arbeitet die Autorin heraus, wie exzessives Konsumverhalten insbesondere ärmeren Menschen als Weg verkauft wird, einer bestimmten Klassenschande zu entkommen. Je unübersehbarer der Konsum, desto unsichtbarer die Klassenzugehörigkeit. Die Konsumkultur ermöglicht den Ausdruck von Individualität, den Aufbau einer Persönlichkeit, die sich durch bestimmte Kaufentscheidungen herausbildet. Dennoch, so Hobrack, „bleibt der Hunger der Person bestehen, lässt sich nicht stillen“ (S. 118). Das Kauferlebnis wird zu einer „spirituellen Ersatzhandlung“ (S. 122), einem Betäubungsmittel, welches vom Alleinsein ablenkt und das Gefühl der Leere, der Scham und des Nicht-Genügens füllen soll. Mithilfe von Teleshopping gelingt dies sogar den „ohnehin Einsamen und Introvertierten, die die Welt als feindlichen Ort begreifen; es gibt nur einen kleinen Durchbruch, das kleine Fenster zur Welt, den Fernseher oder Computer“ (S. 126). Dabei leite das Versprechen kauf dich glücklich den Kaufimpuls. Hobrack identifiziert in der Gruppe der älteren Frauen, zu der auch ihre Mutter zählte, die in der Regel „in der häuslichen Einsamkeit“ (S. 130) konsumieren, einen besonders unsichtbaren Kundenstamm.
Ein Exoskelett aus Waren
Sowohl beim Kauf als auch beim Horten zeigen sich Gendervarianten: Männer umgeben sich tendenziell eher mit Maschinen und technischen Geräten, Fernsehern, Werkmaterialien, bei Frauen sind es vor allem Kleidung, Schuhe, Beautyprodukte, Kuscheltiere oder Puppen. Die Autorin fragt sich demzufolge, ob die unzähligen angehäuften Haushaltsgegenstände, Nahrungsergänzungsmittel, Hygieneprodukte und Cremes Ausdruck der Gender-Performance ihrer Mutter sind – Praktiken des Frauseins, Zeichen von Selfcare und Gesundheitsarbeit. Der Hort wird damit noch offensichtlicher zur Außenhaut, zu einem „ausgelagerten Teil der Persönlichkeit“, zum „Exoskelett“ (S. 148), enthält durch die gewählten Gegenstände aber auch Aspekte von Zärtlichkeit und Fürsorge. Das Horten bedarf in der Regel eines zentralen Auslösers, ein Verlust, das allgemeine Gefühl des Verloren Seins, dysfunktionale Beziehungen, Verlust, Erfahrungen mit emotionaler Kälte oder ähnliches. Der Hort schützt, wärmt, schafft Geborgenheit.
Das Buch endet mit einer Erkenntnis der Autorin: Eigentlich geht es nicht in erster Linie um die Mutter und schon gar nicht darum, durch das Beräumen ihres Hortes Erklärungen oder Antworten zu finden. Ihr eigentliches Ansinnen ist es nicht, ihren Nachlass in irgendeiner Weise zu dechiffrieren oder zu enträtseln, sondern um Hobracks eigenen Umgang mit dem Tod ihrer Mutter. Darum, Loszulassen, Abzuschließen, Trauern zu können. Erst, nachdem sie die Wohnung leergeräumt und die Warenflut beseitigt hat, erkennt sie darin ihren eigenen Versuch, ihre Mutter durch die Dinge, die sie besaß, am Leben zu halten: „Die Archäologie ihrer Dinge eine lebensverlängernde Maßnahme“ (S. 226). Eigentlich ist sie es, die mit diesem Prozess die Kontrolle behalten, sich von ihrer anfänglichen Unfähigkeit zu trauern ablenken möchte und letztlich damit verzweifelt versucht, Ordnung (wieder)herzustellen.
Marlen Hobrack gelingt es, ihre persönliche Geschichte in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und damit in den Kontext der kapitalistischen (Waren-)Gesellschaft einzubetten. Ihre Mutter ist eben auch Konsumentin und Opfer einer perfiden Vermarktungslogik, die auf Einsamkeit und Klassenscham gründet und sich bis über ihren Tod hinaus manifestiert.
Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt.
Harper Collins.
ISBN: 9783365008133.
240 Seiten. 24,00 Euro.