Wer hat, der gibt

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- Thomas Piketty
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- Kapital und Ideologie
Im Kontext der von ihm diagnostizierten Eigentumsideologie entwirft Piketty Ziele, Konzepte und Wege zum partizipativen Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
Als der 25-jährige Simon von seinem Nebenjob als Kellner nachhause kommt, findet er einen Umschlag des Ministeriums für Wirtschaft, Finanzen und Steuern im Briefkasten. Da befürchtet er, dass er wieder einmal Steuern nachzahlen muss. Er will es schnell hinter sich bringen und macht ihn auf: Darin befindet sich ein Check über 120.000 Euro mit dem Betreff „Dein Erbe“. So oder so ähnlich stellt sich der französische Ökonom Thomas Piketty das Erbe für alle in seinem Buch „Kapital und Ideologie“ vor. Wir müssen uns jedoch die Fragen stellen: Was es bringt, wie es finanziert wird und wie es durchgesetzt werden soll?
Ein Mindesterbe für jede:n
Vor dem Hintergrund ansteigender Vermögens- und Einkommensungleichheit und einer diese Ungleichheiten rechtfertigenden Eigentumsideologie entwirft Thomas Piketty Ziele, Konzepte und Wege zu einer gerechteren Gesellschaft. Im Mittelpunkt seines „partizipativen Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ steht die Idee der Chancengleichheit: Es soll allen Bürger:innen ein „möglichst umfängliche[r] Zugang zu grundlegenden Gütern gewährt“ werden (S. 1.187). Hierfür müssen Einkommen und Eigentum radikal von oben nach unten umverteilt werden – ohne jedoch dabei den Kapitalismus zu überwinden. Als neue und zentrale Maßnahmen zur Umsetzung stechen vor allem das Erbe für alle und die progressive Eigentum- und Erbschaftsteuer heraus.
Jede:r Bürger:in eines Landes im Alter von 25 Jahren erhält ein (Minimal-)Erbe, das zu einer ungefähr durchschnittlichen Kapitalausstattung und somit zu einer Erbschaftsumverteilung führen soll. In Frankreich wären dies ungefähr 120.000 Euro. Dies soll jungen Erwachsenen eine finanzielle Selbstbestimmung ermöglichen: Sie können eine Wohnung kaufen, ein Unternehmen gründen, aber auch schlecht bezahlte Jobangebote ablehnen.
Das Erbe für alle funktioniert aber nur im Zusammenspiel weiterer wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen: ein Grundeinkommen als System des garantierten, verallgemeinerten und automatisierten Mindesteinkommens, eine staatliche Beschäftigungsgarantie, eine Ausdehnung der „Entmarktung“ von Grundgütern wie Bildung, Gesundheit, Kultur, Verkehr und Energie in staatlichen, genossenschaftlichen und/oder nicht gewinnorientierten Strukturen, gleichberechtigte Mitbestimmung von Arbeitnehmer:innen in Unternehmen und vieles mehr.
Wer mehr hat, gibt mehr ab
Finanziert wird das Erbe für alle durch progressive Eigentums- und Erbschaftsteuern. Diese sind Teil eines reformierten Steuersystems, das Einkommen-, CO2-, Erbschaft- und jährliche Eigentumssteuern und eine Abschaffung der regressiven Konsumsteuer beinhaltet. Hierbei werden alle und nicht nur geldliche Vermögen und Einkommen jeweils in gleicher, jedoch mit steigendem Wert auch steigender Höhe besteuert.
Um nicht nur neu entstehende, sondern auch bereits bestehende finanzielle Ungleichheiten zu bekämpfen, muss neben Einkommen auch Eigentum progressiv besteuert werden: durch eine hohe, progressiv gestaltete Steuer auf Erbschaften, die einmalig am Ende eines jeden Lebens zu zahlen ist, und einer geringen, progressiv gestalteten Steuer auf das gesamte Vermögen, die jährlich zu zahlen ist. Letztere senke die Gefahr der Manipulation, ermögliche eine schnellere Anpassung und eine regelmäßige kleinere und nicht nur einmalig größere Besteuerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.
Pikettys Prinzip lautet: Wer mehr hat oder mehr bekommt, gibt mehr ab. Eine Person, die die Hälfte der durchschnittlichen Höhe besitzt, einnimmt oder vererbt, zahlt zwischen 0,1 Prozent jährliche Eigentums-, 5 Prozent Erbschafts- und 10 Prozent Einkommenssteuer. Erstere steigt eher exponentiell, zweitere und letztere eher linear an – bis alle drei beim 10.000-fachen des Durchschnittsvermögens beziehungsweise -einkommens bei 90 Prozent liegen. Dass es sich hier nur um beispielhafte Zahlen handelt, deren konkrete Höhe im demokratischen Prozess immer wieder neu verhandelt werden, ist Piketty bewusst; ein konkret durchgerechnetes Modell bietet jedoch eine sinnvolle Argumentationsgrundlage in einer nicht einfachen gesellschaftlichen Debatte zwischen Leistung, Neid und Desinteresse.
Dabei finanziert das progressive Steuersystem nicht nur sozialpolitische Projekte und minimiert die Einkommens- und Vermögensspreizung nach dem Abzug der Steuern, sondern dämmt auch die Ungleichheit vor dem Abzug durch ihre präventive Wirkung stark ein.
Nichts gehört einem allein und ewig
Die Durchsetzung des Konzepts hängt jedoch von einer notwendigen ideologischen und institutionellen Transformation ab. Denn laut Piketty ist Ungleichheit „in erster Linie ideologisch[...]“ (S. 890). Ideologie und deren Institutionen rechtfertigen und organisieren Ungleichheit, basieren auf einer Gerechtigkeitsvorstellung und äußern sich unter anderem im Bildung- und Steuersystem. Das derzeitige „proprietaristische Ungleichheitsregime“ ermöglicht durch die Ideologie und Institution des unbegrenzten Privateigentums die ansteigenden Vermögens- und Einkommensungleichheiten.
Piketty schlägt eine Reihe von kleineren politischen und nicht-politischen Maßnahmen vor, die die Einführung der progressiven Eigentums- und Erbschaftsteuern ermöglichen sollen. Neben einer vollständigen Vermögens- und Einkommenstransparenz bedarf es einer Änderung des Eigentumsverständnisses: Eigentum basiert auf gesellschaftlichen Strukturen wie Bildung oder Infrastruktur, weshalb unter anderem eine jährliche Rückgabe eines Teils des privat gehaltenen, jedoch eigentlich sozialen und temporären Eigentums an die Gemeinschaft legitim ist.
Bestehende Ungleichheiten müssten als solche erkannt und problematisiert werden, gesellschaftliche Gewinne eines partizipativen Sozialismus des 21. Jahrhunderts kommuniziert und verstanden werden. Kurz- und mittelfristig könnten Staaten hierfür eine (Vermögens-)Transparenzpflicht für ansässige und vor Ort agierende Unternehmen und Personen und jährliche Veröffentlichungen zur Verteilung und Verwendung der Steuerlast, aber auch eine exit tax für die Vermeidung von Steuerflucht, einführen. Institutionell (und auch ideologisch) könnten sie ein progressives Steuersystem darauf aufbauen und somit ein Erbe für alle etablieren. Langfristig müssten jedoch internationale Verträge und Institutionen radikal reformiert oder gar verlassen werden, weil diese einzelstaatliches Handeln einschränken.
Für diesen ideologischen und institutionellen Wandel, der die Umsetzung des partizipativen Sozialismus des 21. Jahrhunderts bedingt, braucht es laut Piketty jedoch auch massive soziale und politische Kämpfe und kollektive Mobilisierung. Wie zahlreiche andere Konzepte setzt Piketty – unterstützt durch konkrete Zwischenschritte – auf aufklärungs- und reformwillige Bürger:innen.
Begrenzen, aber nicht überwinden
Dabei verbleibt Piketty bewusst im (nationalen und) kapitalistischen System: Sein Ziel ist nicht dessen Überwindung, sondern dessen Begrenzung (und Umverteilung). Zwar identifiziert und kritisiert er ein auf (unbegrenztem Privat-)Eigentum basierendes Regime als Ursache der enormen Ungleichheit, doch: Privateigentum soll erhalten, aber – durch unter anderem ein progressives Steuersystem, das Erbe für alle und weitere sozialpolitische Maßnahmen – nach oben begrenzt und nach unten (um-)verteilt werden. Hierbei geht es ihm nicht nur um eine kosmetische, sondern um eine tatsächliche, die Vermögensverteilung grundsätzlich angleichende, radikale Umverteilung. Das Konstrukt des Eigentums (und des Erbes) bleibt im Grundsatz jedoch unangetastet, es wird lediglich in seiner Höhe – faktische Minimal- und Maximalhöhe von Einkommen, Eigentum und Erbe – und seiner Breite – Einschränkung des Eigentumsverständnis als sozial und temporär – begrenzt.
Pikettys „partizipativer Sozialismus“ ist zwar radikal-reformistisch, jedoch auch systemstabilisierend; er bleibt konzeptionell innerhalb des kapitalistisch-demokratischen Systems. Auch für ihn scheint es, trotz der von ihm aufgedeckten durch den Kapitalismus bedingten enormen Ungleichheiten, schwerer zu sein, ein ideologisches Erbe des (Privat-)Eigentums abzulehnen und zu überwinden als ein durchdachtes, Chancengleichheit erreichendes und sinnvoll finanziertes Konzept des Erbes für alle und der progressiven Erbschaftsteuer zu entwickeln.
Kapital und Ideologie. Übersetzt von: André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dresler.
C.H. Beck, München.
ISBN: 978-3-406-74571-3.
1312 Seiten. 39,95 Euro.