Radikale Demokratie gegen Staat und Herrschaft

- Buchautor_innen
- Christian Leonhardt
- Buchtitel
- Szenen des Politischen
- Buchuntertitel
- Radikale Demokratie und aktivistische Theorieproduktion
An den Grenzen der Politischen Theorie lässt sich die anarchistische Intuition radikaler Demokratietheorie herausschälen.
Mit „Szenen des Politischen“ publizierte Christian Leonhardt eine Dissertation, die sich an die Grenzen der im deutschsprachigen Raum anerkannten Politischen Theorie begibt. Der Autor zeigt darin nachvollziehbar auf, dass der radikalen Demokratietheorie einerseits eine liberale und andererseits eine anarchistische „Intuition“ innewohnt, wie er sie nennt. Demnach konnte die liberale Intuition – schon ausgehend vom radikalen Intellektuellen und Kommentator der 1848er-Revolution, Alexander Herzen, bis hin zu den linken Politikwissenschaftsprofessor*innen Chantal Mouffe und Oliver Marchart –, in der intellektuellen und akademischen Sphäre etabliert werden. Der Autor kritisiert diese Sichtweise in seinem Buch, um das Augenmerk auf die anarchistische Interpretation der radikalen Demokratie zu richten. Diese bestünde insbesondere darin, Demokratie und Politik jenseits des Staates zu denken, ohne sich dabei auf ontologische Konstrukte wie eine vermeintlich organische oder harmonische „Gesellschaft“, appellative Phrasen wie die „Freiheit“ oder anthropologische Setzungen in Bezug auf ein „gutes“ Menschenbild zu beziehen.
Das Bindeglied zwischen dieser Strömung und beispielsweise einem anarchistischen Kollektiv wie CrimethInc bildet der Lieblingsdenker des Autors, der politische Philosoph Jacques Rancière. Leonhard beschäftigt sich ausgiebig mit dessen komplexem Verständnis von Gleichheit. Ausgehend von diesem müsse Demokratie jenseits und mitunter gegen die Staatlichkeit und Herrschaft gedacht werden und vom auferlegten Konsens eines vermeintlich homogenen Gesamtsubjekt abgerückt werden, um der Pluralität realer – und damit auch widersprüchlicher – Subjekte gerecht zu werden.
Paradigmatisch zeigen sich die Unterschiede zwischen liberaler und anarchistischer Intuition auch anhand der Bezugnahme auf zivilen Ungehorsam. Stellen jene für Erstere das zu legitimierende Korrektiv der liberalen Demokratie dar, welche normativ als per se überlegen und erstrebenswert gesetzt wird, geht es mit anarchistischen Ansätzen vielmehr darum, den durch Staatlichkeit zugewiesenen Bürgerschaftsstatus, die Grenzen legitimen Verhaltens und die Verfestigung liberal-demokratischer Selbstverständnisse zu transzendieren.
Aktivistische vs. akademische Theorieproduktion
Eine Besonderheit des Textes ist, dass mit ihm – im Sinne Rancières – Politische Theorie gewollt als poetisches Erzählen verstanden wird. Leonhardt denkt demnach Fragen danach mit, wer aus welcher Position heraus, was und wie erzählt. In diesem Zusammenhang ist es begrüßenswert, dass er Beispiele aus den Erfahrungen von sozialen Bewegungen in den Blick nimmt, um diese zu interpretieren. Dabei fokussiert er sich auf die Aktivitäten von Occupy Wall Street 2011, denen im Zuge der Platzbesetzungsbewegungen jener Jahre viel Aufmerksamkeit zugekommen ist. Um „aktivistischer Theorieproduktion“ Aufmerksamkeit zu widmen, bezieht er sich naheliegenderweise auch auf David Graeber, den er als Grenzfigur zwischen „aktivistischer“ und „akademischer“ Theorieproduktion versteht. Dieser beschäftigt sich beispielsweise damit, wie Politik basisdemokratisch und konsensual inszeniert werden kann.
Wenngleich damit das wohlgemeinte Anliegen verbunden ist, die in der akademischen Blase betriebene Wissensproduktion zu hinterfragen und zu erweitern, reproduziert Christian Leonhardt jedoch folgendes Problem: Um „akademische“ und „aktivistische“ Theorieproduktion gleichwertig behandeln zu können, muss man deren jeweiligen Vorzüge und Nachteile gewissermaßen nivellieren. „Der Aktivismus“ und „die Aktivist*innen“ werden als etwas konstruiert, dass sie in ihrem realen Dasein verkürzt, um sie akademisch handhabbar – im schlimmsten Fall: verwertbar – zu machen.
Mit dieser Methode werden Widersprüche geglättet, welche es weiter zu diskutieren, zumindest aber abzubilden gälte. Demgemäß ist es kein Zufall, dass Leonhardt – wider besseres Wissen, wie man seiner profunden Kenntnis des Gegenstands entnehmen kann – unterschlägt, dass CrimethInc (2018) durchaus einen Unterschied zwischen Demokratie und „Selbstbestimmung“ postulieren. Dies mag zu irritierenden Leerstellen führen, wenn danach gefragt wird, wie Gemeinwesen überhaupt organisiert werden sollen. Dennoch sollte man die Anarchist*innen ernst nehmen, wenn diese postulieren, sich gegen das Regieren im Sinne des politischen Herrschaftsverhältnisses „Staat“ zu richten. Denn immerhin lassen sich erst durch die grundlegende Kritik Organisationsformen jenseits des gewohnte herrschaftsförmigen Rahmens entdecken. Stattdessen wird ihnen vom Autor mit Rancière attestiert, dass sie im Grunde genommen ein „anarchisches Regieren“ anstreben, insofern jede Gesellschaftsform auf einen Modus politischer Vermittlung und Regulation angewiesen wäre.
Differenz und Überschneidung von radikaler Demokratie und Anarchie
Insofern stößt man bei diesen Überlegungen auf eine spannende Differenz zwischen radikaler Demokratie und Anarchie. Diese reichen freilich bis zur Entstehung europäisch-moderner politischer Ideologien und Konzeptionen zurück, denke man beispielsweise an die anarchistische Bezugnahme auf und Kritik von Rousseau oder die (anti-)autoritäre Ambivalenz, welche sich in den Schriften Wilhelm Weitlings abbildet. Denn beide lassen sich sowohl in die Richtung anarchistischer Selbstorganisation, wie in jene einer republikanischen Herrschaftserneuerung weiterdenken. Während radikal-demokratische Protagonist*innen sich einerseits über die letzten Jahre wieder deutlich staatstragender orientierten und beispielsweise Bildungsreformen vorschlugen, umkreisen sie andererseits, was ich polemisch als „Kinderkrankheit des Anarchismus“ bezeichne.
Damit wird auf eine grundlegende Inkonsequenz der radikalen Demokratietheorie insgesamt verwiesen, die beispielsweise bereits in einem Sammelband von Ulrich Bröckling und Robert Feustel (2010) anklingt: Weist radikale Demokratie nun im Wesentlichen – wenn auch bescheiden-zaghaft oder strategisch-verdeckt – über die bestehende Gesellschaftsform hinaus, indem mit ihr präfigurativ andere Modi der Vergesellschaftung entdeckt und ausgeweitet werden? Oder wird mit ihr doch grundsätzlich – zumal angesichts des rechtspopulistischen-antidemokratischen Hegemonieprojekts, welches das neoliberale Herrschaftsarrangement zu kippen droht – am linksliberalen Ansatz der sozialen Evolution und damit am Vorhaben der Demokratisierung gesellschaftlicher Institutionen und Subjekte festgehalten?
Möglicherweise ist Letzteres sogar subversiver als ersteres, wer weiß? In jedem Fall erfrischend ist Leonhardts ausführliche Kritik an Mouffes Theorie und sein detaillierter Nachweis darüber, wie sie hinter ihre eigenen Ansprüche zurückfällt und Hegemonie unzulässigerweise mit Staatsmacht gleichsetzt. Weiterhin reduziert sie Pluralismus auf den Agonismus – das heißt auf den bloßen Wettstreit – innerhalb der Parteiendemokratie und politische Auseinandersetzung auf den nationalstaatlichen Rahmen.
Präzise Formulierungen laden zum Mitdenken ein, wobei seine Interpretation verschiedener „Szenen“ originär sind. Mit Verweisen auf die Reflexionen Alexander Herzens im Paris der 1848er-Revolution, über das Stück „Nora – Ein Puppenheim“ von Hendrik Ibsen, Monty Pythons Sketch vom „Bicylce Repair Man“, den „Auszug der Plebejer aus Rom“ um 493 vor unserer Zeitrechnung, bis hin zur Besetzung des Zuccotti-Platzes in New York, werden Momente des Politischen vorgestellt, die gar nicht so selten erscheinen, wenn man sie in den Details von Alltagssituationen sucht. Besonders aufschlussreich ist dabei die Kindergeschichte des „Malers Zinnober“, der mit einer direkten Aktion die Stadt ungefragt anmalt und unbewusst einen Weg aufzeigt, um mit der grauen, manufakturierten Konsensrealität (Noam Chomsky) zu brechen.
Szenen des Politischen. Radikale Demokratie und aktivistische Theorieproduktion.
Campus Verlag, Weinheim.
ISBN: 9783593519753.
311 Seiten. 48,00 Euro.