Eingesperrt in der Provinz

- Buchautor_innen
- Domenico Müllensiefen
- Buchtitel
- Schnall dich an, es geht los
Der Nachwende-Roman erzählt unsentimental von Nazitum und toxischen Männlichkeitsbildern im Ostdeutschen Nirgendwo – und vom Widerstand dagegen.
„Es gibt nicht viele Ziele, die man bei uns haben kann.“ (S. 7) Mit diesem Satz beginnt Domenico Müllensiefens zweiter Roman und endet gleich wieder, an der Friedhofsmauer in Seeben, auf die man gerade zuhält, wenn man in den Ort fährt. Man kann nach rechts abbiegen oder nach links, dann kommt man nach Lötzek und Randau. Oder man hält drauf zu, mit 180 oder 190 Sachen. Wie Marcels Schwester Vanessa.
Nichts los in Jeetzenbeck
Aufgewachsen ist Marcel in den 90ern und 2000ern in Jeetzenbeck in der Altmark, im von sozialen und wirtschaftlichen Problemen geprägten Sachsen-Anhalt,. Schon zur Einschulung war die Rollenverteilung klar: Während Marcels Vater und Onkel Dirk sich über den Automotor beugten, weil das Ding nicht ansprang, rauchte die Mutter eine Zigarette nach der anderen, eine Flasche Bretterknaller intus. Bei der Schuleinführung war Marcel das Kind ohne Zuckertüte; das Kind, dessen Eltern darüber stritten – so laut, dass es jede*r in der Aula hörte – wer nun schuld war, dass die Zuckertüte noch im Kofferraum des kaputten Autos lag. Aber immerhin war da Steffi, die auf dem Weg zur Schule am Bahnübergang nach Marcels Hand griff. Davon durfte nur Marcels Freund Pascal nichts erfahren, denn der hätte sich darüber lustig gemacht. Dass bei der Schul-Feier Marcels Vater die Hand gegen Steffis Vater ausrutschte, war Nebensache: der Kubaner, Ausländer, der soll sich nicht so haben, jeder kriegt mal ab. Sonst war nicht viel los: Die Ferkeltaxe fuhr nur ein paar Mal am Tag von Jeetzenbeck nach Altenwedel, zu Dirks Lager für den Nazi-Kram, den er gemeinsam mit Marcels Vater vertickte.
Zwanzig Jahre später hat sich kaum etwas verändert: Zum kaputten Auto kam ein kaputtes Wohnmobil hinzu, das Marcels Vater angeschleppt hatte, für einen Urlaub, der dann nie stattfand. Die Mutter rauchte weiter Kette. Marcels grausame Lehrerin unterrichtete noch immer. Marcel langweilte sich anstatt in der Schule im Drehspieß-Laden von Steffis Vater. Nicht Döner, Drehspieß, denn in den Drehspieß kommt nur das, was man im Döner nicht haben will. Meist wird aus Mangel an Kund*innen aber gar nichts verkauft. Marcels Schulfreund Pascal hatte die Ausbildung abgebrochen, trank und ließ sich von Marcel einen Drehspieß nach dem anderen ausgeben. Dirk vertickte immer noch Nazi-Scheiß, beispielisweise „Mein Kampf“ mit Originalunterschrift von Hitler, Uniformen und Handgranaten.
Nur ist Steffi weg, keine Ahnung wohin. Und Marcels Vater verschwunden. Und Marcels Schwester Vanessa tot. Irgendwie haben die drei es raus geschafft aus dem Kaff, was Marcel sicherlich niemals hinbekommen wird. Doch die drei haben Wunden in Marcel hinterlassen, die nicht heilen wollen.
Der neue Realismus?
Domenico Müllensiefen schreibt über eine Welt, die er kennt. Viel heruminterpretieren muss man gar nicht. Jeetzenbeck oder welches Dorf im Osten auch immer ist, in dem Müllensiefen lebte, als er noch als Handwerker arbeitete und „von der literarischen Welt so weit entfernt wie die Erde vom Mars” war, wie er auf seinem Blog schreibt. Dort heißt es weiter: „Ich kann mich gut daran erinnern, wie es ist, wenn man 12 Tage am Stück jeweils 16 Stunden durcharbeitet, dann ein paar Tage frei hat, in der kurzen Zeit versucht sein Privatleben zu regeln, dabei scheitert und dann wieder auf Montage fährt, wo man sich abends die zerschossene Beziehung mit Bier schönsaufen kann. Ich weiß, wie es ist, wenn man am Monatsende kaum noch Geld hat, sich was zu Fressen zu kaufen, obwohl man geackert hat, als gäbe es keinen Morgen mehr.” (Müllensiefen 2024)
Auch wenn Müllensiefen gar nicht vorhatte, schon wieder einen „Ostroman“ zu schreiben, kommt er doch nicht umhin, beschreibt er den Alltag doch so treffend und in leichter Sprache. Wie in Müllensiefens erstem Buch „Aus unseren Feuern” (Kanon Verlag, 2023) ist der Protagonist einer, der am Rand des Geschehens steht, seine Arbeit macht, sich durchwurschtelt und seine Ruhe haben will, auch wenn es nichts so richtig wird mit dem Glück. Er ist ein ignorantes Arschloch und zugleich entwickeln wir in der Introspektion Verständnis dafür, wie dieser Mensch geworden ist, wie er ist. „Selbst heute konnte ich nicht sagen, was falsch gelaufen war”, fasst seine Gedanken zu Vielem zusammen. „Vieles war nicht richtig gelaufen, vermutlich das wenigste. Aber so richtig schlecht war es auch nicht (...) gewesen.” (S. 115)
„Schnall dich an, es geht los” ist ein Roman über die „Scheißjahre”, wie Grit Lemke schreibt, aber er ist weder melancholisch, noch drückt er auf die Tränendrüse. Es ist auch kein politisches Manifest gegen Nazis. Er zeigt, wie es ist und fertig. Schulterzucken, wenn man Marcel fragt. Nazitum und toxische Männlichkeitsbilder, die das individuelle Leben und die zwischenmenschliche Beziehungen zerstören, gehören eben dazu. Ebenso der Widerstand dagegen, der in Steffis Fall das Verschwinden und in Vanessas Fall das Sterben bedeuten. Marcel schaut unterdessen weg.
Müllensiefens zweites Buch liest sich jedoch weniger gut, als das erste. Die Dialoge wirken an manchen Stellen zu gewollt und überladen, als ob die Szenen gezielt eine moralische Botschaft vermitteln sollen. So beispielsweise Dirks erstaunlich reflektierte Erzählung, warum er Nazi geworden sei: Er hätte keinen Bockgehabt, sich für den Arbeiter- und Bauernstaat zu verbiegen in den 80ern, Zeiten einer stagnierenden Entwicklung und Wirtschaft, eine Zeit der verdreckten Fabriken, eines toten Harz und der “Drecksmauer” (S. 264). „In diesem antifaschistischen Staat hätte es nur eine Möglichkeit von echter Opposition gegeben: Faschist werden. Haare abscheren, Kubaner und Mosambikaner verprügeln, beim Fußball für Angst und Schrecken sorgen.” (S. 265) Auch die Diskussionen zwischen Dirk, Pascal und Marcel, warum im Osten alles so scheiße ist, wirken aufklärerisch als eine Wie-mit-Rechten-reden-Handreichungen und wenig natürlich.
Was uns ebenso wie Marcel weitertreibt, ist der Wunsch, dass es doch noch besser wird und die Suche nach Handlungsoptionen. Zudem der Wunsch, zu verstehen, warum Vanessa tot, Steffi raus, Vater verschwunden sind. Und ob man vielleicht ganz am Ende nicht selbst noch wegkommt aus diesem Ort.
Zusätzlich verwendete Quellen
Müllensiefen, Domenico, 2024: Muskeldomingo. Online einsehbar hier.
Schnall dich an, es geht los.
Kanon Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-98568-126-6.
352 Seiten. 25,00 Euro.