Lumpenkolonialismus Made in Italy

- Buchautor_innen
- Francesco Filippi
- Buchtitel
- "Aber wir haben ihnen doch Straßen gebaut!"
- Buchuntertitel
- Das italienische Kolonialreich: Terror, Lügen und Vergessen
Erstmals liegt eine deutschsprachige Übersetzung zum Thema des italienischen Kolonialismus vor. Die Auseinandersetzung hat jedoch blinde Flecken.
Der Verlag Edition AV hat das erste Buch auf Deutsch herausgegeben, das sich dem italienischen Kolonialismus als Ganzem widmet: Francesco Filippis „‚Aber wir haben ihnen doch Straßen gebaut!‘ – Das italienische Kolonialreich: Terror, Lügen und Vergessen“. Bislang sind hierzulande vor allem Bücher und Aufsätze zur Eroberung von und Herrschaftspraxis über Äthiopien und teilweise auch Libyen erschienen. Dabei liegt der Schwerpunkt bisher vor allem auf der Kolonialpolitik des faschistischen Regimes – eine Parallele übrigens zum italienischen Diskurs, wie man bei Filippi liest. Auch der Blick ins Literaturverzeichnis bestätigt, dass sich der Autor vor allem auf italienische Forschung stützt, von der bis heute nichts auf Deutsch erschienen ist.
Motive statt Triebkräfte
Der Autor betont in seinem Vorwort, dass er keine umfassende Geschichte des italienischen Kolonialismus vorlegt. So geht es nur ganz am Rande um die konkreten Herrschaftsverhältnisse, die ökonomische Ausbeutung, die soziale Lage oder die rechtliche Stellung der Kolonisierten. Die rund 60 Seiten der ersten beiden Kapitel geben dennoch einen historischen Überblick über die Eroberungen und Feldzüge in den verschiedenen Kolonien in Ostafrika, China und Libyen.
Filippis Darstellung der italienischen Kolonialpolitik liest sich wie eine bitterböse Tragikomödie: schlecht gemeint und noch schlechter gemacht. Das Land an der südlichen Peripherie Europas will unbedingt seinen Sitz im Klub der „weißen Herrenmenschen“ und Weltbeherrscher. Doch wird es von den anderen Kolonialmächten nicht ernst genommen und teilweise „sogar“ auf eine Stufe mit den (nicht-europäischen) Osmanen gestellt. Seine Kolonialansprüche in Tunesien werden von Frankreich einfach übergangen und seine Eroberungsversuche Äthiopiens scheitern an dessen politischem und militärischem Widerstand. Selbst mit dem Versuch, das ostafrikanische Königreich 1889/90 mit einem Vertrag, dessen italienische Version anders lautet als die äthiopische, in ein „Protektorat“ zu verwandeln – ein übliches Vorgehen der Kolonialherren – verwandelt sich in eine politische Blamage, weil König Menelik II., eine „der größten politischen Persönlichkeiten Afrikas im 19. Jahrhundert“ (S. 30), in die politische Gegenoffensive geht, sich u. a. an die europäische Öffentlichkeit wendet und den Vertrag für nichtig erklärt. Erfolgreich sind letztlich fast nur jene Unternehmungen, die Italien im Auftrag des britischen Imperialismus ausführt, nämlich die Errichtung der Kolonien Eritrea (1869–90) und Somalia (1889–1909) sowie die Beteiligung an der Niederschlagung des Yihetuan-Aufstands in China (1899–1901). Und auch im Fall des Eroberungsfeldzuges gegen das osmanisch beherrschte Libyen (1911–12) muss Rom eine günstige Gelegenheit abwarten, um nicht in Konflikt mit London zu geraten. Die einzige wirkliche Ausnahme ist schließlich der faschistische Überfall auf Äthiopien 1935, den die meisten afrikanischen und einige europäische Historiker*innen als den eigentlichen Beginn des Zweiten Weltkriegs interpretieren.
Der Autor übernimmt für diesen subalternen Imperialismus Italiens den in der italienischen Linken seit den 1970er Jahren etablierten Begriff des „Lumpenimperialismus“. Fälschlicherweise führt er ihn auf Lenin zurück, obwohl er vermutlich von Palmiro Togliatti geprägt wurde: Lenin sprach, mit Blick auf die damals massive italienische Emigration, vom „Imperialismus der armen Leute“ (Lenin 1915/1960, S. 283) und Togliatti schrieb, der „italienische Lumpenimperialismus“ sei von seiner Basis her „einer der schwächsten“ Imperialismen, weil es ihm an heimischen Rohstoffen mangele (Togliatti 1934/2010, S. 125 f., 289). Filippi dagegen bringt den Begriff nun mit einem „Minderwertigkeitsgefühl“ (S. 34) in Bezug auf die fragwürdigen Erfolge der italienischen Kolonialpolitik in Verbindung. Das ist durchaus bezeichnend für ihn, denn damit beraubt er diesem eigentlich analytischen Terminus seinen sozio-ökonomischen Gehalt.
Filippi benennt zwar verschiedene Motive für den italienischen Expansionismus, wie Prestige nach innen und außen, ökonomische Vorteile und die Lenkung der Armutsauswanderung in das „eigene“ Herrschaftsgebiet in „Übersee“. Doch letztlich verbleibt er dabei – wie er selbst zugibt – auf einer Ebene, die „die Mechanismen“, welche „die Italiener dazu bringen soll, die Entfaltung des kolonialen Imperialismus zu unterstützen – oder sie wenigstens nicht zu stören“ (S. 75). Er setzt also die Motive der Propaganda mit der eigentlichen Motivation mehr oder weniger gleich. Statt die dem Kolonialismus zugrunde liegenden objektiven Mechanismen und Dynamiken zu ergründen, verharrt er auf einem sehr oberflächlichen und idealistischen Standpunkt. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil er dadurch der von ihm selbst angemahnten Notwendigkeit, sich mit dem italienischen Kolonialismus kritisch auseinanderzusetzen, einen Bärendienst erweist: Eine Rezeptionsgeschichte – auch eine „kritische“ – ohne Verknüpfung mit der sozio-ökonomischen Realität kann die eigentlichen Ursachen eines historischen Phänomens nicht erklären. Und so wird der italienische Imperialismus letztlich auf einen aggressiven Politikstil reduziert, der sich auf ideologische und sozialpsychologische Beweggründe zurückzuführen lässt. Eine typische bürgerliche Geschichtsschreibung.
Materialistische Analysen des italienischen Kolonialismus von italienischen Autor*innen aufzugreifen, zu popularisieren und auch in den internationalen Diskurs zu tragen, hätte Filippis Buch um einiges wertvoller gemacht. Einen interessanten Versuch, die materiellen Grundlagen der Besonderheiten des italienischen Kolonialismus zu ergründen, findet man etwa bei Antonio Gramsci: Dieser stellte die These auf, dass der italienische Imperialismus Ende des 19. Jahrhunderts „ohne jede finanziell-ökonomische Basis“ gewesen sei. Das Land habe „nicht nur kein Kapital zu exportieren“ gehabt, „sondern musste für seine eigenen allerengsten Bedürfnisse auf ausländisches Kapital zurückgreifen. Es fehlte folglich ein realer Antrieb für den italienischen Imperialismus“. Stattdessen sei der italienische Kolonialismus vor allem ein Versuch, die während der bürgerlichen Revolution ausgebliebene Landreform zu umgehen, indem man den verarmten Bauernmassen des Südens Land in Siedlerkolonien versprach. Daher hätten sich sogar die Kapitalisten im industrialisierten Norden Italiens gegen diese Politik gestellt. (Gramsci 1998, S. 1.954) Hinter der Kolonialpolitik Italiens stand laut Gramsci also, zumindest in dieser Phase, kein imperialistischer Expansionsdrang und noch nicht einmal ein wirklich kapitalistischer, sondern vielmehr ein halb-feudaler. Leider finden sich bei Filippi noch nicht einmal Verweise auf solche Überlegungen.
Keine Aufarbeitung
Natürlich kann auch eine kritische Rezeptionsgeschichte, die es versäumt, die materiellen Triebkräfte des Kolonialismus zu benennen, einiges zu bieten haben: Filippi zeichnet eine Geschichte der kolonialen Ideologie, der Propaganda, der Verherrlichung, der Relativierung und der Verdrängung des Kolonialismus. Er beschreibt die verschiedenen Facetten kolonialer Propaganda, die die Kolonisierten als „Wilde ohne Geschichte“ oder aber als „im Mittelalter steckengebliebene“ Zivilisationen darstellt und die ihnen Einfältigkeit und Dummheit, Brutalität und Niedertracht, Undankbarkeit, Fremden- und Fortschrittsfeindlichkeit andichtet. Er betont auch, dass die Kolonien „eine Sache ‚für Männer‘“ (S. 104) waren: Sie werden zum Jagdrevier junger italienischer Soldaten auf indigene Frauen und Mädchen, die als „leicht zu haben“, als „wollüstig“ und natürlich als „unterdrückt“ gelten, weshalb man sie im Sinne der eigenen „zivilisatorischen Mission“ von der Unterdrückung ihrer männlichen Landsleute „befreien“ kann, während man zugleich 12-Jährige vergewaltigt, weil es „in Afrika“ eben „so üblich“ sei, dass man mit 12 Jahren heirate. (S. 111)
Im Kapitel über die kulturellen Spuren des Kolonialismus geht es vor allem um sprachliche Ausdrücke kolonialen Denkens. Aber auch um koloniale Raubkunst, wie den Obelisken von Aksum, den Mussolini 1937 als Kriegsbeute aus Äthiopien nach Rom bringen ließ und der erst 2008 wieder vollständig in seinem Ursprungsort aufgerichtet und eingeweiht werden konnte. Auch auf die Affäre um den Spielfilm „Der Löwe der Wüste“, der von der libyschen Regierung Muammar al-Gaddafis gefördert wurde und international Beachtung fand, geht das Buch in einem Unterkapitel ein: Der Film von 1981, der mit Anthony Quinn in der Hauptrolle das Leben des 1931 von den faschistischen Truppen ermordeten libyschen Freiheitskämpfers Omar al-Mukhtar behandelt, wurde in Italien verboten und erst 2009 im italienischen Fernsehen ausgestrahlt.
Filippi macht vor allem zwei Faktoren aus, die eine kritische Auseinandersetzung Italiens mit seiner kolonialen Geschichte verhinderten: Der erste ist die Tatsache, dass Italien fast alle seine Kolonien infolge des Zweiten Weltkriegs an andere imperialistische Mächte verlor. Dies „ersparte“ ihm zufolge „der italienischen Gesellschaft sogar jene spärlichen Einsichten, zu denen der Prozess der Entkolonialisierung in anderen Ländern“ – gemeint sind vor allem Großbritannien und Frankreich – „führt“. (S. 102) Der zweite Faktor hängt ebenfalls mit dem Zweiten Weltkrieg und seinem Ausgang zusammen: Der Autor beschreibt, dass der Kolonialismus und seine Verbrechen in Italien heute zumeist auf die Zeit zwischen 1922 und 1943 reduziert werden. Damit würden die Kolonialverbrechen letztlich auf den Faschismus zurückgeführt, und nicht auf den dem Kolonialismus selbst innewohnende rassistischen und verbrecherischen Charakter. Auch sei den meisten Italiener*innen heute nicht bewusst, dass Italien fast 80 Jahre lang als Kolonialmacht über andere Völker herrschte – erst 1960 wurde Somalia als letzte italienische Kolonie unabhängig.
Dabei dürften deutsche Leser*innen sich immer wieder an die fehlende Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus erinnert fühlen. Die Parallelen zwischen Deutschland und Italien sind bekannt und vielfach diskutiert worden: Die im europäischen Vergleich „verspätete“ Nationalstaatsbildung 1871, die unvollendete bürgerliche Revolution, die weder die Monarchie stürzte noch den Adel beseitigte, noch eine Landreform durchführte, und nicht zuletzt der Aufstieg und die Herrschaft des Faschismus. Nach der Lektüre von Filippis Buch fallen weitere Parallelen auf: Beide Länder verloren ihre jeweiligen Kolonien infolge einer militärischen Niederlage – Deutschland nach dem Ersten, Italien nach dem Zweiten Weltkrieg – an andere Kolonialmächte. In beiden Ländern herrscht der auf diese Tatsache zurückzuführende Mythos, der eigene Kolonialismus sei ein historisch kurzes Kapitel und daher „nicht der Rede wert“. Und in beiden Ländern verschwindet der Kolonialismus auf die eine oder andere Art hinter beziehungsweise in der eigenen faschistischen Vergangenheit.
„Vergangenheitsbewältigung“
Filippi geht es um den klassischen Kolonialismus und er versteht den Imperialismus offenbar im üblichen bürgerlichen Sinne als eine abgeschlossene historische Epoche, und nicht als eine bis heute existierende Herrschaftsform oder gar als das gegenwärtige Stadium des Kapitalismus. Daher geht es bei ihm auch stets nur um die Bewältigung der Vergangenheit. Dabei nutzt er passenderweise immer wieder das Adjektiv „traumatisch“ – womit er irritierenderweise stets den „Verlust“ der italienischen Kolonien aus italienischer Perspektive kennzeichnet. Koloniale Kontinuität kommt bei ihm vor allem in Form von rassistischen Stereotypen und Denkweisen vor. Zwar verweist er auch auf die von den Europäern gezogenen künstlichen Grenzen und die Teile-und-herrsche-Politik der Kolonialherren, die Mitschuld an den „Dramen um das heutige Libyen oder Somalia“ tragen. (S. 176) Doch finden gegenwärtige neokoloniale Ausbeutung und imperialistische Einmischung bei ihm keine Erwähnung. Die heutige Migration von Süd nach Nord sei als eine „Dynamik zu verstehen, die auch der europäische Kolonialismus in Gang gesetzt hat“. (S. 177) Doch auch sie wird nicht in Verbindung mit der bis heute von den imperialistischen Mächten betriebenen Politik der Unterentwicklung, der Ausplünderung, des Abwerbens von Arbeitskräften, des Schürens von Konflikten und der militärischen Aggression gebracht. So überrascht es auch nicht, dass in der angehängten Chronik zwar die Ausweisung italienischer Siedler*innen aus Libyen durch den „Diktator Muammar al-Gaddafi“ (S. 183) 1970, nicht aber der Angriffskrieg der NATO auf Libyen von 2011 vorkommt. Und das, obwohl dieser genau 100 Jahre, nachdem Italien das Land erstmals überfallen hat, stattfand, obwohl sich Rom auch diesmal an der Aggression beteiligte und obwohl der imperialistische Charakter dieses Krieges, seine koloniale Kontinuität und seine Auswirkungen auf Libyen wie auch auf die gesamte Sahel-Region offensichtlich sind.
So erscheint Filippis Buch wie eine Art verpflichtende Therapiesitzung für einen kolonialherrlichen Serientäter, der seine „traumatische“ Vergangenheit aufarbeiten soll, während er aber gleichzeitig draußen in der Welt weiter Verbrechen verübt. Dass die strukturellen, sozial-ökonomischen Triebkräfte für diese Verbrechen nicht benannt werden, passt da letztlich gut ins Bild. Es ist das genaue Gegenteil einer „schonungslosen“ Auseinandersetzung, die Konsequenzen zieht, auch wenn der Autor die italienischen Verbrechen immer wieder wortgewaltig verurteilt und den Rassismus und die Ignoranz seiner Landsleute scharf kritisiert. Diese Art der „Aufarbeitung“ kennen wir aus Deutschland nur allzu gut: Man kann mit „Nie wieder Auschwitz“ auf den Lippen Angriffskriege führen, die in offenster und schlimmster Tradition des deutschen Imperialismus stehen. Und eine Bundeszentrale für politische Bildung kann zig Bücher über deutsche Kolonialverbrechen herausgeben, während die Bundesregierung gleichzeitig Waffen für einen kolonialen Genozid liefert. Wenn Filippis Buch für den italienischen Diskurs wichtig ist – und das soll hier gar nicht die Abrede gestellt werden –, dann scheint dieser Diskurs tatsächlich in einem so erbärmlichen Zustand zu sein, wie Filippi darlegt. Für deutsche Leser*innen ist seine Arbeit vor allem von Interesse, weil das Thema hierzulande so unterbelichtet ist – und weil es viele interessante Parallelen zwischen Deutschland und Italien aufzeigt.
Zusätzlich verwendete Literatur
Gramsci, Antonio (1998): Gefängnishefte 8. Argument Verlag, Berlin. Lenin (1915/1960): Imperialismus und Sozialismus in Italien (Notiz). In: Werke. Band 21. Dietz Verlag, Berlin. Togliatti, Palmiro (1934/2010): Corso sugli avversari. Le lezioni sul fascismo. Enaudi, Turin.
"Aber wir haben ihnen doch Straßen gebaut!". Das italienische Kolonialreich: Terror, Lügen und Vergessen.
Verlag Edition AV, Bodenburg.
ISBN: 9783868413137.
195 Seiten. 18,00 Euro.