Zwei Striche mit dem Kugelschreiber

- Thema
- Essay von Lena Hezel
Was bedeutet es, als Vollwaise ohne Koordinatensystem und doppelten Boden erwachsen zu werden? Eine persönliche Geschichte erzählt vom Erben und von der Wut auf die Verhältnisse.
„Kannst du mir dieses Foto beschreiben, ChatGPT?“
„Ja, das Bild zeigt eine idyllische Szene in einem ländlichen Umfeld“, beginnt die KI. „Es scheint ein nostalgisches Foto zu sein, möglicherweise aus den späten 80er-Jahren, das einen schönen Moment festhält. Im Vordergrund steht ein hellbraunes Pferd mit dunkler Mähne, das von einer jungen Frau an den Zügeln gehalten wird. Die junge Frau lächelt in die Kamera. Sie trägt sportliche Kleidung, ein helles, langärmliges Oberteil, eine dunkle Hose und weiße Turnschuhe. Auf dem Pferd sitzt ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, die zu Zöpfen gebunden sind. Das Mädchen ist vielleicht vier oder fünf Jahre alt und trägt einen blauen Pulli und eine helle Hose, dazu pinke Sandalen. Im Hintergrund sind ein paar Häuser mit roten Ziegeldächern zu sehen, ebenso ein älteres Auto. Die Umgebung wirkt ruhig, mit Bäumen, Grünflächen und einem sonnigen Himmel, der eine warme Atmosphäre vermittelt.“
Das Mädchen auf dem Pferd bin ich. Die junge Frau ist meine Mutter. Sie ist bereits seit 21 Jahren tot, als ich die KI nach dieser Bildbeschreibung frage. Ich bin jetzt über die Hälfte meines Lebens Vollwaise. Als mir dieses Foto letztes Jahr in die Hände fiel, dachte ich für den Bruchteil einer Sekunde, ich wäre es, die die Zügel hält. So sehr ähnele ich meiner Mutter.
Mittlerweile kann ich mich an vieles nicht mehr erinnern: Wie ihre Stimme sich anhörte oder wie ihre Füße aussahen zum Beispiel. Dabei habe ich versucht, mir jedes Detail von ihr einzuprägen, als mir klar wurde, dass meine Mutter sterben würde. Manchmal denke ich darüber nach, was von ihr geblieben ist, was ich von ihr habe, abgesehen von unserer äußerlichen Ähnlichkeit. Und welches Erbe ich dadurch annehmen musste, dass ich meine Eltern sehr früh verloren habe.
„Wie viele Vollwaisen gab es 2004 in Deutschland?“ frage ich ChatGPT. „Rund 126.000“, lese ich. Vollwaisen, das seien „Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren, die beide Elternteile verloren hatten“, erklärt die KI weiter. Streng genommen falle ich nicht unter diese Zahl, ich war kurz vor dem Tod meiner Mutter 19 Jahre alt geworden. Vollwaise bin ich trotzdem. Mein Vater verstarb knappe drei Jahre zuvor.
Ich zögere kurz, stelle dann eine weitere Frage: „Was bedeutet das für die Betroffenen?“ „Der Verlust bedeutet eine tiefgreifende Lebensveränderung, die sowohl emotional als auch sozial und finanziell schwerwiegende Folgen haben kann“, sagt die KI. Ich fühle mich abgeholt, seltsam verstanden. Ich denke, die emotionale Belastung ist für viele Menschen gut nachvollziehbar – Trauma, Unsicherheit, Einsamkeit, Trauer, Verlustangst. Das ist vermutlich die Ebene, die am offensichtlichsten ist, für die man Trost und Umarmungen bekommt. Aber wie sieht es mit den sozialen Folgen aus? „Kinder müssen oft bei Verwandten, Pflegefamilien oder in Heimen aufwachsen“, lese ich auf meinem Handybildschirm. Der Verlust des gewohnten Umfeldes und zentraler Bezugspersonen könne „zu Vereinsamung“ führen: „Auch Freundschaften und schulische Leistungen können darunter leiden.“
Am 20. Januar 2004, dem Tag, an dem meine Mutter starb, waren meine Abiturprüfungen nur noch wenige Wochen entfernt. Ein großer Container wurde bestellt, in den meine jüngeren Geschwister und ich in den folgenden Wochen unser uns bis dahin bekanntes Leben warfen. Das baufällige kleine Miethaus, in dem wir unsere ganze Kindheit und Jugend verbracht hatten, musste leergeräumt werden. In Schockstarre sortierten wir die Kleidung und die Habseligkeiten unserer Eltern aus. Erinnerungsstücke aus unserer Kindheit – ein ganzer Dachboden voll. Wir zogen in das Haus unserer Tante, der Schwester meiner Mutter, einer uns damals fast fremden Person. In unsere erste kleine Wohnung mit Zentralheizung. Ich kann nur mutmaßen, dass es ein Relikt dieses Aufwachsens ohne Heizung ist, dass ich bis heute nicht in beheizten Räumen schlafen kann.
Ich überlege, ob meine Freundschaften unter dem Umstand litten, dass ich meine Eltern sehr jung verloren habe. Ich habe sehr wertvolle, enge und langjährige Freundschaften mit Menschen, die mich durch diese Zeit begleitet haben und bis heute an meiner Seite sind. Aber mit den Jahren merke ich, dass der Umstand – dass es nicht möglich ist, diese Erfahrung in ihrer Gänze nachzuvollziehen – etwas Trennendes hat. Vielleicht ist es das, was die KI mit „Vereinsamung“ meint: Die Spuren, das Eingraviert-Sein dieser existentiellen Erfahrung, bleiben ein Leben lang und es gibt keine Worte, um sie ausreichend zu beschreiben. Etwas, was sich daraus ergibt, ist eine Art stiller Code, ein tiefes Verständnis und eine augenblickliche Verbindung zu Menschen, denen ähnliches widerfahren ist. Es bedarf keiner Erklärung, wir wissen, wie es sich anfühlt, wenn sich die Erde unter uns auftut und wir einfach fallen, ohne eine Ahnung, ob uns je etwas auffangen wird und ob wir jemals wieder so etwas wie festen Boden unter den Füßen spüren werden. Wenn es keine Sicherheit und kein Koordinatensystem mehr gibt und alles ins Wanken gerät. Später sind mir überdurchschnittlich viele Menschen begegnet, die wissen, wovon ich spreche, die bei Verwandten, in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen sind.
Nach meinem Abitur – welches ich in einer Art survival mode unter den ungläubigen und mitleidsvollen Blicken meiner Lehrer*innen abgelegt habe – habe ich Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie studiert und meine erste Stelle in der stationären Jugendhilfe angetreten. Nicht zuletzt dort traf ich auf viele andere, die das Leben ohne Koordinatensystem und ohne doppelten Boden meistern müssen. Und vielfach kommt eines zentral erschwerend hinzu: Die finanzielle Lage.
Meine Eltern hatten nie viel Geld. Wir lebten in prekären Verhältnissen, wie ich es heute ausdrücken würde. Sparkonten oder Urlaube gab es nicht. Prägende Erinnerungen meiner Kindheit sind die Weihnachtsfeste, die wir gemeinsam gefeiert haben. Eines kommt mir dabei besonders in den Sinn: Ich sehe uns in unserer kleinen Küche sitzen, meinen Vater, meine Mutter, meinen jüngeren Bruder und meine kleine Schwester. Ich bin vermutlich elf oder zwölf Jahre alt und es ist selten geworden, dass wir alle zusammen sind. Unser Festtagsessen für Heiligabend besteht aus Blätterteig, gefüllt mit Schinken und Käse und zur Bescherung gibt es für mich einen kleinen Taschenkalender und selbstgeschnitzte Holztiere. Wenn ich heute daran zurückdenke, beschleicht mich ein tiefer Schmerz. Ich weiß nicht wie, aber meine Eltern haben es irgendwie geschafft, die Armut von uns Kindern fernzuhalten.
Spätestens nach dem Tod meiner Mutter gab es diesen Schutzschild nicht mehr.
„Viele Vollwaisen sind finanziell stark benachteiligt“, bestätigt mir ChatGPT. „Die Waisenrente deckt oft nur das Nötigste ab und Ausbildung und Studium müssen häufig ohne Sicherheitsnetz bestritten werden“. Die Vollwaisenrente beträgt 20 Prozent der Versichertenrente, auf die die verstorbene Person Anspruch gehabt hätte oder die sie zu Lebzeiten bezog, lässt sich auf der Website der Deutschen Rentenversicherung nachlesen. Die Höhe der Waisenrente ist abhängig vom Klassenhintergrund – wer hätte es gedacht.
Meine Vollwaisenrente betrug 270 Euro.
270 Euro, mit Auflagen – solange ich mich in Schule, Ausbildung oder Studium befinde und unter 27 Jahre alt bin. Für mich bedeutet das zu diesem Zeitpunkt konkret: Keine Brüche im Lebenslauf, da sonst sofort die Zahlungen eingestellt werden. Ganz davon abgesehen, dass ich mir sowieso keine Experimente erlauben konnte. Während meine Klassenkamerad*innen sich also aufmachten zum Work and Travel nach Australien, einmal dieses Studienfach ausprobierten oder in jene Stadt zogen, begann ich ein Studium in meiner Heimatstadt, ging nebenbei arbeiten und kümmerte mich um den Haushalt und meine jüngeren Geschwister, die noch zur Schule gingen. „Vollwaisen müssen oft früh erwachsen werden und Verantwortung übernehmen, Zukunftspläne werden erschüttert und Perspektiven sind oft unklar“, beschreibt die KI, als kenne sie meine Biografie nur allzu gut. Jahrelang gab es schlicht keinen Raum und keine Kapazitäten für Wünsche oder Träume.
Formalitäten, Normen, endlose Regularien und bürokratische Hürden erschwerten die Entwicklung von Zukunftsplänen und Perspektiven zusätzlich zu emotionalen, sozialen und finanziellen Belastungen. Ein Erbe, das nicht ausgeschlagen werden kann. Nach dem Tod meiner Mutter wurden alle Zahlungen und Leistungen, die wir als Familie bis dato bezogen hatten, mit einem Mal eingestellt – denn es gab schlicht keine Empfängerperson mehr. An die genauen Abläufe erinnere ich mich nur noch dunkel, an das Gefühl des freien Falls dafür umso deutlicher.
„ChatGPT, was passiert mit dem Kindergeld, wenn beide Elternteile verstorben sind?“ In diesem Falle stehe das Geld dem Kind grundsätzlich selbst zu, so die KI, aber sie warnt: „Wichtig: Allerdings laufen die Zahlungen nicht automatisch weiter. Das Kindergeld muss vom volljährigen Kind oder vom Vormund neu beantragt werden, sonst bleibt es aus!“ Nach einer Neubeantragung ist in der Regel nochmal mit 6 bis 8 Wochen Bearbeitungszeit zu rechnen. Ähnlich sieht es mit dem Wohngeld aus: Die Zahlungen enden mit dem Todestag der Empfängerperson; es sei denn, der Todesfall wird innerhalb von vier Wochen gemeldet und ein sogenannter Überleitungsantrag gestellt.
Rücklagen hatte meine Mutter nicht, dafür ein überzogenes Girokonto. Unsere Miete und sonstige Lebenshaltungskosten können wir in den Wochen nach ihrem Tod nur bestreiten, weil der Stiftungsrat der Organisation, für die sie in Teilzeit in der Telefonzentrale arbeitete, auf eine Sonderzahlung verzichtete und dafür ein Konto für uns drei Waisenkinder einrichtete. Verwaltet wurde dieses Konto von unserer Tante.
Immer wieder stießen wir auf bürokratische Hürden wie diese. Grenzt es statistisch gesehen sowieso schon an ein Wunder, dass ein Kind aus der Arbeiter*innenklasse es an die Uni schafft (wir alle kennen die Zahlen), wurde mein Weg zusätzlich durch ein formales Problem auf dem BAföG-Formular (das Bundesausbildungsförderungsgesetz, welches „unabhängig vom Elternhaus“ eine finanzielle Förderung von Auszubildenden, Schüler*innen sowie Studierenden regelt) erschwert: Es gab einfach keine Möglichkeit auf dem Vordruck anzugeben, dass beide Eltern verstorben sind.
Ob das heute noch so ist? „Wo kann ich im BAföG-Antrag angeben, dass ich Vollwaise bin?“ Die KI gibt mir folgende Info: „Die Angabe machst du in Formblatt 1, Seite 3, Zeile 51, Erklärung der Eltern, hier kannst du ankreuzen, dass deine Eltern verstorben sind“. Ich rufe das PDF des Bundesministeriums auf und suche vergeblich. Auch jetzt noch, viele Jahre später, löst diese Recherche ein Stressgefühl in mir aus. Ich finde keine Möglichkeit, um dieses entsprechende Kreuzchen zu setzen und fühle, wie mein Herz schneller schlägt. Selbst wenn es dieses Kästchen gäbe, wäre das Ausfüllen eine Überwindung. Zwei Striche mit dem Kugelschreiber können die Bedeutung der dahinterstehenden Aussage unmöglich wiedergeben.
Wenn dein Name aufgerufen wird und du dein Abschlusszeugnis entgegennimmst, und du weißt, dein Vater und deine Mutter sitzen nicht hinter dir im Publikum und klatschen. Es ist nicht ihre Nummer, die du wählst, um zu erzählen, dass du gerade deinen Führerschein bestanden oder den Studienplatz bekommen hast. Sie sind es nicht, die dich in die Handchirurgie fahren, weil du dir mit einem viel zu stumpfen Messer tief in den Finger geschnitten hast und die Wunde genäht werden muss. Sie fehlen bei den Hochzeiten deiner Geschwister, deine Neffen und Nichten werden ihre Großeltern nie kennenlernen und eigentlich weißt du mittlerweile gar nicht mehr, wie es sich überhaupt anfühlt, Eltern zu haben. Und trotzdem sticht es jedes Mal, wenn du die Tatsache, dass sie nicht mehr leben, irgendwo schwarz auf weiß liest. Wenn du sie selbst sichtbar machen musst, mit den zwei kleinen Kuli-Strichen.
Ich recherchiere weiter und lande in einem Online-Forum. Hier werden Tipps gegeben und gegenseitige Ratschläge: „Du musst die Sterbeurkunde vorlegen, aber das BAföG-Amt fragt bei solchen Mitteilungen immer auch nach einem möglichen Erbe“. Es geht in den Einträgen um Zukunftsängste, um verzweifelte Fragen nach Fristen. Ich lese von erschütternden Schicksalsschlägen: „Mein Vater war Alleinverdiener und hatte heute einen tödlichen Arbeitsunfall, ich weiß nun nicht, wo ich das angeben kann, ich habe Angst, dass ich meine Miete nicht mehr bezahlen kann, wie läuft das jetzt mit dem BAföG?“; von Müttern, die im Sterben liegen, aber „trotzdem muss ein neuer BAföG-Antrag her“ und Forumsdiskussionen darüber, wie man diese Verzweiflung und das Wegbrechen von Sicherheiten jetzt am besten in die Vordrucke packt.
ChatGPT gibt mir den Tipp, handschriftlich zu ergänzen, falls es keine entsprechenden Kästchen gibt und macht gleich einen Formulierungsvorschlag: „Hiermit erkläre ich, dass ich Vollwaise bin und daher keine Angaben zu den Eltern machen kann, siehe beigefügte Nachweise (Sterbeurkunden, Waisenrentenbescheid)“. Damit entfalle dann Formblatt 3 – Einkommenserklärung der Eltern.
Ich fühle mich seltsam getröstet durch die Unterstützung der KI. Sie reagiert sensibler auf meine Fragen, als ich es von echten Menschen auf Ämtern und in Institutionen erlebt habe. Sie bietet mir an, die Formulare zusammen durchzugehen und macht Vorschläge für ein formloses Schreiben, um mir weitere Nachfragen des BAföG-Amtes zu ersparen.
Ich habe den BAföG-Antrag nie gestellt. Die Überforderung mit der Gesamtsituation, der Druck etwas zu beginnen, um weiter auch nur annähernd finanziell abgesichert zu sein und der mir völlig fremde Kosmos der Universität waren herausfordernd genug. Zudem hatte ich große Angst davor, mich zu verschulden. Identitäts- und Zukunftsfragen: Was, wenn ich dieses Studium nie abschließe?
Einige Jahre später, wir befinden uns im Jahr 2011. Ich kämpfe mich immer noch irgendwie durch Seminare und Vorlesungen und Panikattacken. Auch meine Geschwister studieren zwischenzeitlich an derselben Uni. Hier begegnen sie uns wieder, die echten Menschen auf Ämtern und in Institutionen. Dieses Mal in Form der Wohnheimverwaltung, die meiner fünf Jahre jüngeren Schwester und mir eine Absage für eine Wohnung erteilt, da diese „für Familien vorbehalten“ sei. Wir argumentierten im Büro des Studienwerks, dass wir Geschwister seien, seit mehreren Jahren Vollwaisen und dass ich mich um meine Schwester kümmere, seitdem sie 14 Jahre alt ist. Uns wird entgegnet, wir seien aber eben keine Familie „im eigentlichen Sinne, also Mutter, Vater, Kind“ und dies wären nun einmal „Wohnungen für Paare oder Familien mit Kindern“.
Im Nachgang zu diesem Gespräch versuche ich, meine Gedanken zu sammeln und per Mail gegenüber der Wohnheimverwaltung nochmals zu argumentieren, warum meine Schwester und ich in meinen Augen mehr Familie sind als ein studentisches Paar. Ich kann nicht glauben, dass wir aus Definitionsgründen für diese Wohnung nicht in Frage kommen. Den daraus entstandenen Mailverlauf habe ich 14 Jahre später in meinem Mailfach gefunden und nochmals nachgelesen. In der Antwort des Studienwerks lese ich: „Geschwister zählen in dem Sinne nicht als Paar“ – stattdessen wurden uns möblierte Einzelzimmer in verschiedenen Wohngemeinschaften angeboten. Auf den letzten Versuch meiner Erklärung, dass wir aufgrund unserer familiären Situation mit all unserem Hab und Gut eine neue Bleibe suchen und daher eine Wohnung benötigen, kam die Antwort, es sei natürlich schade, dass ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft aus Platzmangel nicht in Frage käme („denn ein solches hätten wir Ihnen gerne anbieten können“) – „da Ihnen diese Zimmer zu klein sind, werden wir Ihre Anträge nicht weiter berücksichtigen“.
Ich erinnere mich daran, dass ich in solchen Situationen neben einer lähmenden Ohnmacht und Schmerz immer auch sehr viel Wut gespürt habe. Wut auf andere Menschen, denen scheinbar alles in die Wiege gelegt wurde und die sich trotzdem ständig beschwerten, Wut auf Personen in Entscheidungspositionen, Wut auf das Gesundheitssystem, Wut auf meine Eltern, die sich viel zu spät Hilfe geholt hatten und Wut auf alle, die es besser hatten als ich.
Als eine Strategie der Vorbereitung auf Ereignisse habe ich mir oft verschiedene Szenarien ausgemalt – wenn dies oder jenes geschieht, dann kann ich mich nicht mehr zusammenreißen, dann nehme ich den Laden hier auseinander. Wenn meine Mutter jetzt tatsächlich stirbt, dann bleibt kein Stein dieses Krankenzimmers mehr auf dem anderen, dann schreie ich, dass die Pflegerinnen und Ärzte und Psychologen gefälligst verschwinden sollen, weil nichts mehr hilft und es keine Worte mehr gibt.
Aber als die Situation dann schließlich eintrat, blieb ich ruhig, ganz im Modus des Funktionierens, geradezu unheimlich gefasst. Für Außenstehende absolut unbemerkt, beherrsche ich die stärksten Emotionen. Dieser Zustand lässt sich mit einer Panikattacke im Flugzeug vergleichen – äußerlich bin ich komplett ruhig, die Augen geschlossen, meine Mitreisenden denken vermutlich, ich schlafe. Innerlich versuche ich, einen Zustand herzustellen, in dem ich mich mit dem absoluten Kontrollverlust abfinde, in dem mir nichts mehr Angst macht, auch nicht der Gedanke des freien Falls oder des Aufpralls.
Und dann fühle ich sie mit aller Kraft, diese Wut. Auch sie ist mein Erbe, zusammen mit all der Widerständigkeit und der tiefen Entschlossenheit, dass es nicht so bleiben darf. Dass keine bürokratische Logik, kein institutionelles Schulterzucken darüber bestimmen dürfen, was als Familie zählt, wer ein Zuhause verdient und wessen Lebensrealität anerkannt wird. In gewisser Weise ist dieser Text ein Ausdruck davon, ein Versuch, das Gefühl der Ohnmacht über die Verhältnisse etwas kleiner und weniger lähmend zu machen. Es bleibt das Erbe, dass wir diesen Kampf nicht allein führen (allen voran mit euch, L & E). Und das ist der Ausgangspunkt jeder Veränderung.