Erbe ohne Notar*in

- Buchautor_innen
- Walter Rodney
- Buchtitel
- Dekolonialer Marxismus
- Buchuntertitel
- Schriften aus der panafrikanischen Revolution
Walter Rodneys Aufsätze über dekolonialen Marxismus bieten wichtige Ansatzpunkte für antirassistische und postkoloniale Bewegungen.
„Umfassende Antworten werden letztlich durch die gesellschaftliche Praxis und den Versuch der Transformation zu finden sein“ (S. 252). Diese Aussage gilt für jeden radikalen Umbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse – in der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen Walter Rodneys (1942–1980) ist sie ein unerfülltes Versprechen. Dabei könnte von einem dekolonialen Marxismus für gegenwärtige Debatten um das emanzipatorische Potenzial partikularer und universalistischer Theorien viel gelernt werden. Rodneys Texte bieten einen Blick auf Kämpfe an Orten und zu Zeiten, die dem deutschsprachigen Publikum kaum vertraut sein dürften. Hier beginnt leider das Problem.
Eine Ideologie von 800 Millionen
Es bleibt bis zur letzten Seite unklar, an wen sich der Sammelband richtet und mit welcher Intention er eigentlich veröffentlicht wurde, denn die Schriften passen kaum zu den gegenwärtigen Kämpfen um Emanzipation. Das betrifft mehrere Aspekte: Erstens befremdet der Jargon des Marxismus-Leninismus. Dieser darf zwar bei Texten aus den 1970ern – insbesondere im globalen Süden – erwartet werden, er sollte aber für das heutige Publikum nicht als „Dekolonialer Marxismus“ ohne weitere Ausführungen stehengelassen werden. Zumal Rodney selbst stellenweise pragmatisch in der Anwendung der Theorie ist und nicht zwischen Marxismus, Marxismus-Leninismus und sich an diese anlehnende Nationalismen unterscheidet. Hinzu kommt sein Versuch, marxistische Theorie für das Begreifen und Verändern des sich gerade entkolonisierenden globalen Südens zu popularisieren und als Analyserahmen für Personenkreise – sowohl Radikale im globalen Süden als auch Linke in der angelsächsischen Welt – ohne marxistische Vorbildung zugänglich zu machen. Dabei greift er mit einer Beschreibung des Marxismus als einer „Ideologie von 800 Millionen Chinesen“ (S. 44), der zudem für die Erfolge Nordkoreas verantwortlich sei, auch damals schon daneben. Auch Rodneys Unwille, zwischen marxistischen Strömungen wie Stalinismus, Trotzkismus und Maoismus entscheidende Unterschiede zu sehen, empört oder schafft zumindest historische Unklarheit.
Zweitens dürfte der Gegenstand seiner Untersuchung vielen fremd sein. Zwar wissen manche Leser*innen vermutlich, was mit dem Kalten Krieg gemeint war und das mit dem Niedergang der vorherigen Weltmächte viele Kolonisierte die formale Unabhängigkeit errungen. Auch könnte bekannt sein, dass der Kampf gegen den Kolonialismus mit der Frage verbunden war, wie sich die jungen Staaten zu den beiden dominierenden Blöcken (USA und Sowjetunion samt ihrer jeweiligen Verbündeten) verhalten. Hier wird den Lesenden aber Spezialwissen über Guayana, Tansania, die ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika und einigen anderen Staaten am Rande abverlangt. Dass diese heute teilweise andere Namen tragen, wird nicht durchgängig kenntlich gemacht. Auch, warum Guyana eine so prominente Rolle in einem Sammelband panafrikanischer Schriften erhält – es ist unter anderem Gegenstand des ersten Textes – erschließt sich beim chronologischen Lesen erst einige Beiträge später. Für eine Einordnung beim Lesen wäre es daher ratsam, sich zunächst mit der Biografie Rodneys vertraut zu machen. Auf diese Weise könnte ein Ausgangspunkt geschaffen werden, um in das Aufbegehren Südamerikas und Afrikas gegen den Imperialismus einzutauchen – von der gescheiterten Übertragung der Foco-Strategie (von kleinen Gruppen initiierte bewaffnete Aufstände) im Kongo bis zum Bürgerkrieg in Angola und dem Ende der Apartheid in Südafrika.
Drittens verunmöglichte der Mord an Rodney, dass er selbst die von ihm antizipierten Entwicklungen prüfen konnte: Das sozialistische Experiment in Tansania gibt es schon sehr lange nicht mehr; die MPLA (die siegreiche Partei im angolanischen Unabhängigkeitskampf und anschließenden Bürgerkrieg) hat sich vom Marxismus-Leninismus verabschiedet und Guayana wird durch die nach eigenem Bekunden antiimperialistische Regierung Venezuelas bedroht. Dadurch stellt sich die Frage nach der Bedeutung und Aktualität von Rodneys Analysen. Um sie als das Erbe zu begreifen, als das es seine Familie aufbereiten will, müsste diesen Veränderungen Rechnung getragen werden.
Auch der Neokolonialismus in Afrika hat sich stark gewandelt. Denn zum einen existiert die Sowjetunion nicht mehr und ihre Rolle wurde von niemandem übernommen. Russland als Nachfolgestaat führt zwar ebenfalls einen Kampf mit dem Westen, aber betreibt eine weitgehend destruktive Afrikapolitik, bei der die Entwicklung der jeweiligen Gesellschaften keine Rolle spielt. Der westliche Imperialismus ist zwar weiterhin dominant und bestimmt mithilfe der Weltbank und militärischen Interventionen die Entwicklung des Kontinents, aber der Bruch vormals „frankophoner“ Staaten mit der ehemaligen Kolonialmacht zeigt die Konkurrenz um den Kontinent auf. Denn die von Rodney noch gefeierte Verflechtung von Staaten der „dritten Welt“ ist inzwischen umgeschlagen in neokoloniale Süd-Süd-Beziehungen. Das sind Probleme, denen sich ein dekolonialer Marxismus generell stellen muss.
Ein umfangreiches Erbe
So schwer diese drei Probleme wiegen, ihnen hätte relativ leicht vorgebeugt werden können, etwa mit einem (umfangreichen) Begleittext zur Einordnung der damaligen Weltlage. Alternativ wären einordnende Fußnoten möglich gewesen, um den Band einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Noch wichtiger wäre es gewesen, ihre Bedeutung für gegenwärtige Kämpfe aufzuzeigen – gerade, da viele der von Rodney aufgeworfenen Fragen noch nicht durch die gesellschaftliche Praxis beantwortet wurden. So veranschaulicht er unter anderem anhand von Mozambik das Problem, dem jede siegreiche Emanziationsbewegung gegenüberstehen muss: Kann sie ihre Ziele unter Anwendung der Strukturen der zu überkommenden Gesellschaft realisieren, wo sie selbst noch keine aufbauen konnte? Ohne diese Einordnung bietet der Sammelband spannendes historisches Spezialwissen – aber keinen Beitrag zur Entwicklung marxistischer Theorie und Debatten.
Dabei enthält der Sammelband insbesondere für antirassistische und postkoloniale Bewegungen ein Erbe, welches erschlossen werden sollte. In diesen gibt es, ähnlich wie zu Rodneys Zeiten, starke ablehnende Positionen gegenüber einem falsch verstandenen Marxismus. Wenn Rodney schildert, dass der Universalismus von Marx als weiße, europäische Theorie des 19. Jahrhunderts verworfen wird, kommt dies dem Partikularismus der Postcolonial Studies nahe. Dem stellt Rodney die Universalität der gesellschaftlichen Widersprüche gegenüber, d.h. das durch den Marxismus zu begreifendende Emanzipations- und Entwicklungspotential aller Gesellschaften. Zudem komme es darauf an – da ist er dicht bei Lenin –, diese Universalität in der Untersuchung des Partikularen aufzuzeigen. So ziele die marxistische Theorie nicht darauf ab, die Entwicklung eines Gesellschaftsmodells in allen Gesellschaften nachzuweisen bzw. zu behaupten. Vielmehr sei es in ihr angelegt, sich mit den diversen gesellschaftlichen Konflikten zu entwickeln, weshalb sie sich besonders für deren produktive Auflösung eignen. In diesem Sinn ist das im Sammelband angebotene Erbe eine marxistischen Analyse post- und neokolonialer Beziehungen sowie das Angebot von emanzipatorischen Potenzialen in Theorie und Praxis. Doch zunächst müsste dieses Erbe freigelegt werden.
Dekolonialer Marxismus. Schriften aus der panafrikanischen Revolution. Herausgegeben von: Asha Rodney, Patricia Rodney, Ben Mabie und Jesse Benjamin. Übersetzt von: Christian Frings.
Karl Dietz Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-320-02418-5.
264 Seiten. 29,00 Euro.