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Subjekte eines „Megatrends“?

Buchautor_innen
Buchtitel
Scheinsubjekt Digitalisierung
Buchuntertitel
Politische Ökonomie der Arbeit 4.0

Der Sammelband blickt unter die Haube der Digitalisierung und offenbart einiges über den Stand von Arbeitssoziologie und Gewerkschaftsführung.

Die zentrale Behauptung des von Peter Schadt und Nathan Weis herausgegebenen Sammelbands findet sich bereits im Titel: „die“ Digitalisierung ist ein Scheinsubjekt. Sie ist also gar nicht selbst eine treibende Kraft, zu der sich Menschen, Unternehmen, Parteien, Volkswirtschaften und Imperien einfach nur verhalten wie zu einem Naturphänomen; sie ist vielmehr eine Entwicklung von Mitteln, die im Dienste von ökonomischen und herrschaftlichen Interessen stehen. Mitherausgeber Peter Schadt geht in der Einleitung auch direkt darauf ein, dass diese nicht sonderlich überraschende Erkenntnis keinesfalls der einzige Anspruch und Verdienst des Buches sei. Die These wird detailreich untermauert und in zahlreichen Beiträgen über die verschiedenen Branchen und Akteure wird dargelegt, welche und wessen Interessen und Tätigkeiten auf welche Weisen und unter welchen Bedingungen die Digitalisierung vorantreiben, welche betrieblichen und politischen Möglichkeiten für Veränderungen aufscheinen. Für alle, die sich mit „der“ Digitalisierung und den unter diesem Begriff verborgenen Produktions- und Klassenverhältnissen nicht abfinden wollen, ist dieser Band zwar keine unvermittelt einsetzbare politische Schrift, aber kann als wissenschaftliche Grundlage von politischen Auseinandersetzungen dienen.

Wer macht wie wo was?

Man lernt in einem Beitrag über Digitalisierung in Verwaltungen und Sekretariaten, wie zum Beispiel die Sekretär:innen selbst voller Stolz die für den möglichst reibungsarmen Ablauf ihrer eigentlichen Tätigkeit nötige ‚Gewährleistungsarbeit‘ leisten und durch eigene, kreative Mehrarbeit digitale Automatisierungsprozesse implementieren. Sie sind also als manageriale Arbeiter:innen handelnde Subjekte und bewirken nicht nur, dass der Laden läuft, sondern beeinflussen auch, wie er läuft. Die für diese Wirkung aufgewendete Arbeit wird von ihnen oft „freiwillig“ und „unvergütet“ geleistet, obwohl man mit den Adjektiven „freiwillig“ und „unvergütet“ vorsichtig sein sollte. Die weiche Währung, die hier anstelle eines unmittelbaren Arbeitslohns fließt, erscheint in zwei Formen. Da ist einerseits die libido-ökonomische Form des „mit einem Anerkennungsstreben verknüpften Gewährleistungsstolzes“ (S. 122). Man will auf etwas, das man getan hat, stolz sein können, ganz besonders unter Bedingungen entfremdeter Arbeit. Der Wunsch gelobt zu werden, ist stets eine dienliche Perversion, die wichtige Frage ist also, wem oder was hier gedient wird. Andererseits ist da das ökonomische Motiv technisch gestützter Reibungsminderung bei der eigenen Arbeit. Man handelt implementierend in der verständlichen Hoffnung, die bezahlte Arbeitszeit weniger mit Troubleshooting, als mit den eigentlichen Aufgaben zu verbringen, ob der Inhalt dieser Arbeit dabei nun hinterfragt wird oder nicht. Die dafür aufgebrachte geistige und kommunikative Arbeit ist darüber hinaus eine willkommene intellektuelle Anstrengung in der ansonsten oft gleichförmig und kritiklos durchgeführten Organisationsarbeit.

Gewerkschaften als Geschäftsführung?

Auf eine fürchterliche Art instruktiv ist das Interview mit dem Stuttgarter DGB-Vorsitzenden Kai Burmeister. Darin ruft der studierte Volkswirt etwa dazu auf, dass „wir“ uns fragen, „welche Rolle wir zukünftig technologisch und industriell auf der Welt spielen wollen“ (S. 132). Wer soll denn dieses „Wir“ sein? Die Unternehmen? Betriebsräte? Die Angestellten? Oder womöglich gleich „die Deutschen“? Alles irgendwie „Wir“. Gewerkschaften als Ornament, die den Klassenkompromiss dekorieren; oder, wie Ronald M. Schernikau 1990 die zukünftigen BRD-Schriftsteller:innen in Leipzig hellsichtig warnte: „Wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen“. Burmeister versucht vielsagend, mögliche Kritik zu unterlaufen. Er macht den Vorteil der „partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften, Betriebsparteien und Arbeitgeberverbänden“ darin aus, dass die Gewerkschaften den Anspruch der Angestellten auf Qualifizierung durchsetzen könnten, den ihnen die Unternehmen schließlich nicht schenken würden. Es blieben sonst eben nur Stellenabbau und Kapitalabwanderung, man solle also nicht behaupten, das sei anspruchslos. Die Ansprüche von Gewerkschaftsarbeit von weit oben so platt herunterzuschrauben, wie es Sozialdemokrat Burmeister tut, ist mies.

Die über dieses Interview hinaus im Band hier und da erfolgende Verwendung der Propagandabegriffe „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ ist ärgerlich. Wer seine Arbeitskraft in Ermangelung anderer Besitztümer als Ware verkauft, um seine Existenz mit dem Lohn in der Welt warenförmiger Lebensmittel zu erhalten, „nimmt“ keine Arbeit, sondern „gibt“ sie. Wer die warenförmige Arbeitskraft von Menschen kauft, um von dem damit produzierten Wert abzuschöpfen, „gibt“ keine Arbeit. Das ist eine völlig verdrehte Darstellung, sie ist aber ganz normaler Sprachgebrauch: ein common nonsense.

Algorithmisches Fahren

Philipp Weisenburger erklärt in seinem Beitrag das Geschäftsmodell von Lieferando und wie die Plattform versucht, Arbeitskämpfe und Arbeitsrechte zu entwaffnen. Dabei werden mehrere Dinge unterstrichen, die in den anhaltenden Diskussionen des Plattform-Kapitalismus schon deutlich geworden sind. Das paradigmatische Geschäftsmodell ist das der (Re-)Intermediation, also das Dazwischenschieben zwischen Produzent:innen und Kund:innen. Das ist geradezu das Gegenteil des vielzitierten „cutting out the middleman“. Die sonst heterogener organisierten Prozesse von Markterschließung, Werbung, Bestellungs- und Zahlungsabwicklung sowie zum Teil Lieferung werden samt und sonders von den Plattformen übernommen, die dafür den Restaurants einen Anteil der Wertschöpfung abknöpfen und manchmal auch Kund:innen eine Liefergebühr berechnen. Damit das ökonomisch sinnvoll ist, muss eine Plattform zum Monopol werden. Gewünscht ist hier der Google-Effekt – „Essen bestellen“ soll gleichbedeutend werden mit „die Plattform nutzen“. Lehrreich beschrieben ist auch die Funktionsweise des algorithmischen Managements. Der gesamte Arbeitsprozess der Lieferung ist netzwerktechnologisch eingehegt und wird durchweg kontrolliert. Die Auftragsvergabe und Navigation der Fahrer:innen im Stadtgebiet erfolgt über einen Algorithmus, gegen den jede Beschwerde zwecklos erscheint, mit dem kein Gespräch möglich ist, da er intransparent aus Daten errechnete Ergebnisse zur Steuerung einsetzt. Diese unpersönliche „Verwissenschaftlichung“ von Management durch datengetriebene Evidenzbasiertheit ist allgemein en vogue, da sie für die Gemanagten schwierig zu kritisieren ist und Beschwerden der Lohnabhängigen leicht als irrational und evidenzlos abgetan werden können.

Timo Daum fragt in seinem Text: „Was ist digital an Tesla?“(S. 201). Bei dem Autokonzern gibt es Upgrades, Bug-Fixes, Patches on the way, weil das Auto ein fahrendes Plattform-Endgerät ist, das durch Tesla zentral angesteuert werden kann. Es sammelt konstant Daten für das Unternehmen. Dieses kann den Besitzer:innen der Fahrzeuge Funktionen vorenthalten oder freischalten, je nach dem, was jene abonniert haben. So wird selbst die Nutzung einzelner Funktionen eines bereits gekauften Fahrzeugs noch zum fortlaufenden Geschäft, weil das Fahrzeug nicht länger als abgestimmtes Gesamtprodukt verkauft wird, sondern als modulares, veränderbares und immer mit dem Produzenten verbundenes Aktivum, das zugleich Produkt und Produktionsmittel ist. Außerdem kontrollieren so nicht länger die Nutzer:innen autonom die von ihnen erworbenen, fertigen Fahrzeuge, sondern die Plattformen überwachen und greifen in die Nutzung des Fahrzeugs nach eigenem Ermessen im laufenden Betrieb ein. Das ist eine Zentralisierung von Kontrolle und Verantwortung auf der Seite eines Unternehmens, dessen primärer Tonangeber Elon Musk auch zentraler Teil der aktuellen US-Regierung unter Trump ist.

Von wegen „Produser“

Manche gehen in der Digitalisierungsdiskussion so weit zu sagen, dass die Benutzer:innen zugleich auch Arbeiter:innen seien, weil sie durch ihre Benutzung des Produkts als Produktionsmittel Wert erzeugten. Was hier Arbeit macht, ist das Sammeln von Daten. Das passiert konzernseitig und ohne das dauernde, bewusste oder aktive Zutun der Fahrer:innen. Aber: Die langfristige kommunikationstechnologische Einbindung der Konsument:innen als ständige, bewusstlose Datenemittent:innen und laufend befragte User:innen von forever-betas erzeugt bei diesen das Gefühl einer Teilhabe, geradezu einer Mitarbeit am Produkt, das trügerischer kaum sein könnte. Ihre Verfügungsmacht über eine einmal erworbene Ware ist in Zeiten der halb gekauften, halb gemieteten Plattformprodukte nichtig. Aber das dumme Gefühl zählt ja: Hauptsache ich werde immerzu ein bisschen von ihnen gefragt, was ich so denke, dann dürfen die alles besitzen.

Nun käme es ja gerade darauf an, die Arbeit, ihre Zwecke, Ziele, Prozesse und Mittel unter die demokratische Kontrolle derer zu bringen, die sie verrichten, damit diese nicht länger als bloß lohnabhängige Getriebene oder wenigstens oberflächlich um ihre Meinung und ihr Gewährleistungswissen befragte Scheinsubjekte eine Rolle spielen. Was bereits alles an Automatisierung, Erleichterung, Verdichtung und Effizienzsteigerung von Arbeit möglich ist, ist in manchen Bereichen geradezu fantastisch. Es geschieht aber unter den falschen Voraussetzungen von Kapitalismus und Staatenkonkurrenz in einer Zeit aggressiver werdender, sich immer nackter machender Herrschaftsblöcke. Eine kommunistische Digitalisierung könnte eine „Neue Arbeit“ hervorbringen, die den Namen vielleicht verdient hätte.

Zusätzlich verwendete Quellen

Ronald M. Schernikau (1990): Rede auf dem Kongreß der Schriftsteller der DDR, 1. bis 3. März 1990. Abrufbar beim Archiv von schernikau.net.

Peter Schadt (Hg.)Nathan Weis (Hg.) 2025:
Scheinsubjekt Digitalisierung. Politische Ökonomie der Arbeit 4.0.
Beltz Juventa, Weinheim.
ISBN: 978-3-7799-7465-9.
309 Seiten. 52,00 Euro.
Zitathinweis: Max Weinland: Subjekte eines „Megatrends“? Erschienen in: Erbe(n). 75/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/bLEcz. Abgerufen am: 16. 04. 2025 08:21.

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Peter Schadt (Hg.)Nathan Weis (Hg.) 2025:
Scheinsubjekt Digitalisierung. Politische Ökonomie der Arbeit 4.0.
Beltz Juventa, Weinheim.
ISBN: 978-3-7799-7465-9.
309 Seiten. 52,00 Euro.