Die Narben des Kolonialismus

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- Heimkehren
Das Erbe historischer Traumata kann viele Facetten haben, vor allem individuelle sowie gesellschaftliche Verstrickungen sind aber noch lange nicht transparent gemacht.
Dem Roman „Heimkehren“ von Yaa Gyasi ist ein Zitat vorangestellt, das für den strukturellen Aufbau Pate gestanden zu haben scheint. Es ist ein Sprichwort aus dem Akan (eine der Sprachen in Ghana) und lautet: „Die Familie ist wie ein Wald: Wenn man davorsteht, scheint er undurchdringlich; steht man darin, sieht man, dass jeder Baum seinen Platz hat.“ (S. 5) Im Buch ist anfangs der sprichwörtliche Wald für Lesende nicht erkennbar; im Vordergrund steht der Platz der einzelnen Personen. Es scheint kein Raum zu existieren, in dem sich das Individuum entfalten kann. Gyasi zeigt dies exemplarisch an zwei Figuren beziehungsweise an der Beschreibung von acht Generationen sowie der intergenerationellen Übernahme und Aushandlung von Denkweisen, Handlungsmustern und Alltagspraktiken. Ausgangspunkt der Geschichte sind die Halbschwestern Effia und Esi.
Kolonialismus in Ghana
Mit der Geburt der beiden werden die Leser:innen in den Kolonialismus in Ghana des 18. Jahrhunderts eingeführt. Weiße Engländer siedeln sich an der ghanaischen Küste an und bauen die Festung von Cape Coast, ein Gefängnis für Einheimische und Herzstück für den Sklavenhandel. Die Halbschwestern werden aus einem Dorf in der Nähe von Cape Coast in das Fort gebracht. Esi wird vor ihrem fünfzehnten Geburtstag im Verlies des Forts gefangen genommen. Ihr Vater, der „Große Mann“ (S. 44), zeugte mit einer Dienerin ihre Halbschwester Effia, die dem neuen Gouverneur des Forts versprochen wird. So leben sie eine Zeit lang beide in der Festung: Esi im dunklen Keller, ohne zu wissen, was sie erwartet, Effia ein Stockwerk höher mit ihrem weißen Ehemann.
Die ersten beiden Kapitel eröffnen Einblicke in sehr unterschiedliche Realitäten: Das Leben im Verlies und das freie Leben als Ehefrau in der Festung stehen für die verschiedenen Klassen, die durch die soziokulturellen Praktiken vor Ort eingeführt werden und sich in die Menschen einschreiben. So treten Strukturen in den Vordergrund, die den Alltag, aber auch die Individuen zu bestimmen scheinen. Das Leben an der Seite des Gouverneurs führt in eine Welt der Privilegien, die auf dem Leid anderer beruhen. Menschen werden als Sklaven verkauft und nach Amerika verschifft. Obwohl Effia räumlich von diesem Elend getrennt ist, schwingt die Grausamkeit der Sklaverei in ihrem Alltag mit. Folgt man dem Erzählstrang des Romans, der von den Nachkommen aus Effias Linie handelt, wird deutlich, wie unterschiedlich Habitus, Praktiken und Handlungsräume von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Im Sinne des Soziologen Pierre Bourdieu wird das Handeln eines Individuums nicht nur als das Ausagieren einer allgemeinen Struktur, sondern immer auch als eine Aushandlung bestimmter Dispositionen verstanden, die vorab nicht bestimmt werden können. Der Habitus beschreibt also ein Konzept, das Regelmäßigkeiten einer Gesellschaft erfasst, die Ausdruck eines Kollektivs sind, wenn auch individuell ausgelebt, aber auch „als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein.“ (Bourdieu 1978: S. 13) Dieser Widerspruch zeigt sich bei Effias Sohn Quey, der nach dem Tod seines Vaters einen Außenposten besetzen soll: „Quey hatte genickt und die Stelle angenommen, denn was sonst konnte er tun? Aber innerlich leistete er Widerstand“ (S. 76).
Acht Generationen: Von der historischen Sklaverei zum gegenwärtigen Rassismus
Wenn wir die Schicksale der Nachkommen verfolgen, erkennen wir diesen Widerstand in den unterschiedlichsten Prägungen. Quey wird mit 15 Jahren zur Ausbildung nach England geschickt. Nach dem Tod des Vaters kehrt er zurück und wird ebenfalls Sklavenhändler. Queys Sohn James widersteht dieser habituellen Anrufung und bricht mit den gesellschaftlichen Regelmäßigkeiten, indem er flieht. Er heiratet eine unbescholtene Frau und sucht Frieden mit sich und seiner Umwelt, die indes immer gewaltvollere Formen annimmt. Im Kollektiv breitet sich Gewalt noch mehr aus:
„Der Handel hatte so sehr zugenommen, und die Methoden, Sklaven gefangen zu nehmen, waren so waghalsig geworden, dass viele Stämme dazu übergegangen waren, die Gesichter ihrer Kinder zu kennzeichnen, sodass sie unverwechselbar waren. Menschen aus dem Norden, die am häufigsten gefangen gesetzt wurden, hatten bis zu zwanzig Narben im Gesicht und waren zu hässlich, um sie noch verkaufen zu können.“ (S. 94)
James‘ Sohn Kojo wandert sogar in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, in der Hoffnung, dort als freier Mensch leben zu können. Doch obwohl er formell kein Sklave ist, kann er sich, seine Hautfarbe macht sichtbar warum, nicht wie ein freier Mensch bewegen. Als die Gesetze für entflohene Sklaven verschärft werden, wird seine schwangere Frau in den Süden verschleppt und versklavt. Kojo verbringt den Rest seines Lebens auf der Suche nach ihr und entfremdet sich von seinen Kindern. Sein achtes Kind H erlebt, wie die Sklaverei abgeschafft wird, doch H wird zur Zwangsarbeit in einer Kohlemine verurteilt, wo er auch nach seiner Strafzeit weiter Lohnarbeit verrichtet. Dabei initiiert er einen Gewerkschaftsstreik, der zu einer Erhöhung des Lohns führt. H versucht nicht, aus den Strukturen auszubrechen, sondern innerhalb der Strukturen eine Verbesserung der Situation herbeizuführen.
Weitere Nachkommen von H beleuchten wichtige Zeit- und Handlungsspielräume (oder das Fehlen derselben) der nächsten Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten: Streben nach Wohlstand, Anpassung, systematische Unterdrückung und den Kampf um Anerkennung. H’s Großenkelin Marjorie schließlich lebt in der amerikanischen Gegenwart und verbindet ihre ghanaischen Wurzeln mit ihrem amerikanischen Selbst. Ihre Identität wird nicht durch einen unversöhnlichen Kampf zwischen zwei verschiedenen Entitäten geformt, sondern durch den Zusammenhalt einer Geschichte, die auf einem transatlantischen Raum und einer transatlantischen Zeit basiert. Hier endet der Roman versöhnlich, denn Majorie reist nach Ghana und besucht die Festung von Cape Coast. Auf der Grundlage von Traumgeschichten ihrer Großmutter verfasst sie ein Gedicht, in dem sie die Geschichte der Festung und der vorangegangenen Familien-Generationen verarbeitet. Darin heißt es:
„Wir, beide, schwarz. Ich, du. Eine erwachsen aus Kakaoerde, geboren aus einer Schote, die Haut unverletzt, noch blutend. Wir, beide, waten hinaus. Das Wasser scheint verschieden, ist jedoch dasselbe Unseres. Schwesternhaut. Wer konnte das wissen? Ich nicht. Du nicht.“ (S. 386)
Alle machten mit
Die Kapitel des Buches beschreiben zwar nur Ausschnitte aus dem Leben der verschiedenen Nachkommen, aber sie geben uns einen Einblick in die Weitergabe von Traumata und die Vererbung von soziokulturellen Strukturen, die die Handlungsmacht des Einzelnen färben. In eine bestimmte Familie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort hineingeboren zu werden, beeinflusst den Verlauf des Lebens. Egal, wie sehr wir uns als Individuum bemühen, wir können nicht einfach aus diesen Bahnen ausbrechen und anderen Lebensgeschichten folgen, da sie unseren Handlungen einen Schatten vorauswerfen. Yaa Gyasi schafft es mit den vielen Figuren, die über Jahrhunderte aufeinanderfolgen, dass wir als Leser:innen Verstrickungen von über 250 Jahren nachvollziehen können. Dabei treten über 50 Personen in Erscheinung, die mal der verheirateten Effia in Ghana, mal der versklavten Esi bis nach Amerika folgen. Nachahmung und gewaltvolle Reaktion auf Gewalt werden kritisch hinterfragt. Die Schuld wird nicht bei einer Person gesucht oder nur einseitig verortet:
„Alle machen mit. Asante, Fante, Ga, Briten, Holländer, Amerikaner. Und dieser Gedanke ist nicht falsch. Uns allen wird beigebracht, so zu denken. Als meine Brüder und die anderen verschleppt wurden, hat mein Dorf um sie getrauert und zugleich die militärischen Anstrengungen verdoppelt. Und was heißt das? Das wir verlorenes Leben rächen, indem wir noch mehr Leben nehmen? Für mich ergibt das keinen Sinn.“ (S. 141)
Die Positionen von Opfern und Tätern werden in ihrer Dichotomie dekonstruiert und die verschiedenen Rollen derer, die mitgemacht oder weggeschaut haben, erspürt. Es gibt mehr als zwei Seiten, Ideologien und Interessen, die durch die Figuren verkörpert werden. Das zentrale Vermächtnis, das sich aus den Schicksalen von Effia und Esi ergibt, ist die Weitergabe von Identität und Trauma. Effias Nachkommen kämpfen mit den sozialen und kulturellen Folgen des Kolonialismus und der Mittäterschaft ihrer Vorfahren. Esis Kinder und Kindeskinder hingegen tragen die Narben der Sklaverei und die Last der Diaspora mit sich.
Yaa Gyasi zeigt, wie sich die Geschichte von Generation zu Generation entfaltet und wie die Entscheidungen und Umstände der Vorfahren das Leben der Nachkommen prägen. Das Buch legt eindrucksvoll dar, dass die Vergangenheit nicht einfach vergeht – sie lebt in den Menschen weiter, sei es durch kollektive Erinnerungen, gesellschaftliche Strukturen oder persönliche Traumata. Dennoch vermittelt Gyasi auch Hoffnung: Trotz aller Hindernisse gelingt es den Nachkommen, ihre Identität neu zu definieren und Wege zu finden, die Schatten der Vergangenheit zu überwinden. Das Erbe von Effia und Esi ist somit eine komplexe Mischung aus Schmerz, Widerstand und der unermüdlichen Suche nach Heilung und Gerechtigkeit.
Zusätzlich verwendete Literatur
Bourdieu, Pierre (1978): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Heimkehren. Übersetzt von: Anette Grube.
Dumont Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-8321-6460-7.
416 Seiten. 14,00 Euro.