Der Wert des Körpers Aktuelle Ausgabe Nr. 77, 14. Oktober 2025

Über unseren Körper erfahren wir die Welt – keine Seele ohne Leib. Der Körper ist Ort von Lust und Angst, von Begehren und Verletzlichkeit, aber auch Mittel kapitalistischer Ausbeutung und Schauplatz gesellschaftlicher Kämpfe. In ihn schreiben sich Ideale, Normen und Machtverhältnisse ein. Er ist niemals bloß gegeben, sondern stets politisch, ökonomisch und kulturell geformt. Dem Kapitalismus dient er als Ressource: Er soll funktionieren, leisten, durchhalten. Doch Arbeit, Zwang und Erschöpfung hinterlassen Spuren – die Körper der Arbeitenden tragen die unsichtbaren Lasten der Produktion. Chronische Schmerzen, frühzeitiges Altern und die ungleiche Verteilung von Gesundheit und Lebenserwartung bezeugen die Gewalt der Klassengesellschaft. Der Körper wird so zum physischen Archiv sozialer Ungleichheit.
Gleichzeitig wird der Körper zum Objekt neoliberaler Ideologien, die Verantwortung für Gesundheit und Leistungsfähigkeit ins Private verschieben. Wer scheitert, wer krank wird, wer nicht „funktioniert“, gilt als selbst schuld. Strukturelle Ausbeutung verschwindet hinter der Fassade individueller Disziplin. Die Körper sollen fit, schön, jung und optimiert sein – das Ideal eines ständigen Selbstmanagements. Dabei verschmilzt ökonomischer Druck mit ästhetischem Zwang: Schönheit wird zur Pflicht, Gesundheit zur Moral, Jugend zum Kapital. In den Körpern unserer Zeit drückt sich eine doppelte Forderung aus – sie sollen produktiv sein und begehrenswert.
Doch welche Körper passen in diese Ordnung – und welche nicht? Wer gilt als abweichend, als zu viel, zu alt, zu krank, zu schwer? Rassifizierte, weibliche, queere, trans*, behinderte, alte oder proletarische Körper werden auf vielfältige Weise reguliert, abgewertet oder unsichtbar gemacht. Sie sind Zielscheiben biopolitischer Kontrolle, geschlechtsspezifischer und rassistischer Gewalt – und zugleich auch Orte des Widerstands. Der Körper einer Fabrikarbeiterin, die Hände eines Pflegers, die Stimmbänder einer Dichterin – sie alle erzählen Geschichten von Mühe, Ausschluss, Solidarität und Überleben.
Auch in der Literatur ist der Körper nie neutral. Er wird beschrieben, geformt, inszeniert – als verletzlicher, als begehrter, als arbeitender Körper. Texte machen sichtbar, wie Schmerz, Arbeit, Lust oder Gewalt im Körper eingeschrieben sind. Diese Ausgabe beschäftigt sich damit, wie der Kapitalismus Körper physisch und ideologisch zurichtet und wie diese Körper in Literatur und Texte eingeschrieben, reflektiert und sichtbar gemacht werden. Was sind unsere Körper wert?
Für die Ausgabe #78 im Januar 2026 richten wir den Blick im Schwerpunkt auf die da ganz, ganz oben: es geht um Space Capitalism und Klassenkampf im All.
Wir wünschen euch viel Spaß beim kritischen Lesen!