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Kampf um die Brüste

Buchautor_innen
Julia Fritzsche
Buchtitel
Oben ohne

Ein Rückblick in die Geschichte der Nacktheit erinnert an vergangene körperliche Freiheiten und warnt vor der neuen Prüderie in den sozialen Medien.

Eine Massenschlägerei mit 500 Leuten und 200 Polizist*innen entbrannte wegen sechs nackter weiblicher* Brüste, an einem sonnigen Badestrand, dem Huntington Beach, USA. Das war 1986. Manche Männer fanden die nackten Brüste falsch, andere richtig. Was also tun? Klarer Fall: sich schlagen. Für nur zwei Brüste am Berliner Spielplatz Plansche wurde einer Frau* von der herbeigerufenen Polizei, wie üblich, recht rüde befohlen, ihre Brüste zu bedecken und zu gehen, das alles vor ihrem verängstigten kleinen Sohn. Sie hatte sich spontan gedacht, was die Männer dort dürfen, dürfe sie natürlich auch – ganz im Sinne der Gleichbehandlung vor dem Gesetz. Das war nicht 1986, sondern 2021. Statt freiwillig eine Strafe zu zahlen, klagte Gabrielle Lebreton gegen den Senat und dessen Brustverbot. Nach einem langen Weg durch die Instanzen bekam sie 2023 Recht und seither dürfen Nippel, egal welchen Geschlechts, wenigstens in Berliner Freibädern entblößt werden. Ferner erhielt sie eine Entschädigung von 750 Euro – statt der geforderten 10.000 – weil sie, so das Gericht, zwar Recht habe, aber sich die Frechheit herausnahm, ihr Recht eben auch einzufordern.

Die Geschichte der Brust

Trotz eigenartiger Rechtsauffassung sei dies ein Erfolg, resümiert Julia Fritzsche in „Oben Ohne“. Die Autorin teilt nicht nur ihre Eindrücke vom Berliner Brustprozess, den sie über die gesamte Zeit begleitet hat, sondern geht 200 Jahre in die Geschichte des Badestrandes zurück, seine Moden von Verhüllung und Nacktheit. Die Brust durfte, nachdem sie zunächst ganz verbannt war, zuerst wieder am Strand gezeigt werden, und dafür musste der Sandstrand überhaupt einmal als Urlaubsort erfunden werden. So wenig wie schroffe Berge war auch das Meer ein Sehnsuchtsort. Es stand für Schiffbruch und Gefahr, nicht für Erholung.

Kein Geringerer als Goethe schilderte die Freuden eines Bades in der Ostsee. Langsam wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts daraus eine Mode, jedoch immer noch für die Wenigen, die überhaupt Urlaub machen konnten. Stück für Stück entstanden die ersten Sommerbäder und Kurorte und natürlich die Badeanzüge. Die können wir uns, so Fritzsche, eher wie einen heutigen Burkini vorstellen. Noch Goethe soll mit langen Ärmeln, langen Beinen und bedecktem Hals geschwommen (worden) sein. Offenbar galt schon ein nackter Unterarm als obszön. So unpraktisch ging es das ganze 19. Jahrhundert weiter – mit dem einem großen Intermezzo, der Pariser Julirevolution von 1830. Der Maler Eugene Delacroix gab ihr mit dem Bild der barbusigen Marianne, die eine Trikolore in der einen und ein Gewehr in der anderen Hand hält und neben einem ebenfalls bewaffneten Jungen der Volksmasse voranstürmt, eine Ikone. Danach ging es gleichwohl prüde weiter, woran die Niederlage des von Marianne geführten Proletariats einigen Anteil hatte, wie die Autorin skizziert.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Badeanzüge nur peu à peu kürzer, hier ein kurzer Ärmel, da kurze Hosen oder gar mal ein nackter Hals. Von nackten Brüsten noch lang keine Rede, für keinerlei Geschlecht.

Umkämpfte Nacktheit

Erst während des ersten Weltkriegs wurde für Männer in Europa scheinbar plötzlich die Brust freigegeben. Und auch in der Nachkriegszeit blieb die nackte Brust von Männern legalisiert. Hier liefert die Autorin leider keine Begründung, und wir können nur vermuten, dass nicht nur viel Menschlichkeit in den Schützengräben zu Bruch ging, sondern auch der einengende Puritanismus, oder dass in Fortsetzung der Marianne von 1830, die Revolutionen und Aufstände ab 1917 neben sozialen Befreiungen, wie das allgemeine Wahlrecht, wieder einmal die Brustbefreiung im Gepäck hatten. Dafür spricht, dass die USA hier lange hinterherhinkten. Bis 1938 mussten auch Männer einen Ganzkörperbadeanzug tragen!

Noch einen Krieg später kam der große Evolutionssprung: der Bikini. Tatsächlich, so schildert die Autorin, ist dieser nach jenem Atoll benannt, wo die USA ihre Atombombentests machten. Ein zynischer Name, aber einmal in der Welt, nicht mehr zu ändern. Nach dem Bikini legalisierten einige Länder in den 1970er und 80er Jahren sogar die nackte weibliche* Brust, unter anderem Frankreich, Italien, und Spanien, später das indische Goa. Einerseits hatte '68 eine große Welle der Befreiung gebracht; die Zeit war allgemein reif für die Brust. Zum anderen konkurrierten die Badestrände um Tourist*innen, die sich gerne nackt sonnen wollten. Doch seit den 1990er Jahren wird die Brustfreiheit immer weiter eingeschränkt. Die große Befreiungswelle von '68 war erschöpft. Auch hier bleibt uns die Autorin leider eine Begründung schuldig, aber abermals legt das Datum des Umbruchs eine Parallele zum Politischen nahe. Mit dem Ende des Sozialismus und der Restauration eines brutalen und ungeschminkten Kapitalismus gingen soziale Errungenschaften verloren und mit ihnen wieder einmal die Brustfreiheit.

Ein großer Teil des Buches ist der neuen Prüderie in den sozialen Netzwerken wie Instagram und Facebook gewidmet. Bis dahin lernt die Leserin* anhand vieler Beispiele, dass die USA stets wesentlich puritanischer, um nicht zu sagen, Jahrzehnte hinterher waren. Darüber konnten die europäischen Nippelbesitzer*innen lange Zeit erhaben lächeln, doch wer schon einmal sein Brustfoto aus dem Urlaub oder gar vom Stillen auf Social Media geteilt hat, musste die Grenzen der Freiheit sehen. Die Regeln werden in Kalifornien gemacht von ultraprüden US-Amerikaner*innen. Wie wir seit Trump II mehr als deutlich sehen, steht ein großer Teil des Silicon Valley hinter seinem Projekt und nicht wenige Hauptaktionär*innen der Plattformen gehören zur Strömung der ultrarechten Evangelikalen. Nippelfeinde, allesamt. Im Oktober war die US-Sparte TikToks offenbar nach langem Ringen doch an Trump-freundliche Tech-Milliardäre verkauft. Mit X-Twitter, Facebook und Instagram sind damit in den USA alle großen Plattformen im rechten Lager. TikTok außerhalb der USA bleibt offenbar vorerst davon unberührt, und damit in Europa die einzige Nippel- und Brust-freundliche Plattform. Sogar Videos von Stillenden sind erlaubt. Hingegen bringt eine Suche auf Instagram tatsächlich nichts dergleichen. Das Konto free.nippels hat bezeichnenderweise 0 Beiträge.

Doch wie Fritzsche zeigt, war der Klimax der Brustfreiheit schon seit Mitte der 80er Jahre überschritten. Dass die Lust am Brustzeigen mit dem Ende des Staatssozialismus um 1990 ins Hintertreffen geriet, deutet sie an. Und über die DDR hat sie Gutes zu sagen, dort war sowohl das Stillen als auch das Brustzeigen und Ganzkörpernacktbaden am FKK-Strand allgemein üblich und nicht kriminalisiert. Und der Kampf um die Brust wird nach wie vor an den Badestränden der Republik ausgetragen. So berichtet im Buch eine ältere Leipzigerin, sie fühle sich an ihrem angestammten FKK-Strand am Baggersee von den jungen Hüpfern in ihren Badeanzügen „bedroht“. Wie die Autorin zeigt, schwappt mit der jungen Generation und ihrer Instagram-Sozialisierung die evangelikale Prüderie über den Atlantik. Dabei wurde das Internet in den 1990er und 2000er Jahren als große Freiheit angepriesen. Wer hätte geahnt, dass daraus einmal ein Kampf um die Nacktheit am Badestrand wird?

Nippel-Privileg

Wer wen ansehen „darf“ oder sich herausnimmt, wen anzuschauen, das hat viel mit Machtverhältnissen und Patriarchat zu tun. Wer wieviel zeigen darf wird ebenso entlang dieser Verhältnisse, jedenfalls oftmals von außen definiert und kommentiert. Auch in linken Kontexten ist Nacktheit umkämpft. Auf Konzerten und Klimacamps gilt zumeist ein allgemeines Nippelverbot, damit als Männer gelesene Personen kein patriarchales Privileg haben gegenüber als Frauen gelesenen.

Julia Fritzsche schließt nicht überraschend mit einem Aufruf zur Befreiung vom Patriarchat und Rassismus, denn neben anderen guten Dingen käme damit auch die Freiheit zum Brustzeigen. Wer für all das Gründe sucht, findet sie hier nicht. Die Autorin beschreibt zwar sehr aufschlussreich das Auf und Ab der Freiheiten und Beschränkungen, aber nicht wirklich, warum es dazu kam. Wer sich hier eine umfangreichere Erklärung wünscht, die über den naheliegenden Fingerzeig auf das offensichtliche Wirken des Patriarchats hinausreicht, findet sie eher bei anderen Autorinnen* wie Silvia Federici, Bini Adamczak oder Angela Davis.

Julia Fritzsche 2024:
Oben ohne.
Edition Nautilus.
ISBN: 978-3-96054-346-6.
216 Seiten. 18,00 Euro.
Zitathinweis: Conrad Kunze: Kampf um die Brüste. Erschienen in: Der Wert des Körpers. 77/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/TprmZ. Abgerufen am: 15. 10. 2025 10:57.

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Julia Fritzsche 2024:
Oben ohne.
Edition Nautilus.
ISBN: 978-3-96054-346-6.
216 Seiten. 18,00 Euro.