Das Joch der Leistungsgesellschaft

- Buchautor_innen
- Olivier David
- Buchtitel
- Keine Aufstiegsgeschichte
- Buchuntertitel
- Warum Armut psychisch krank macht
Die Erinnerung an eine Kindheit und Jugend in Armut erzählt von Ausgrenzung und struktureller Ungleichheit.
„Über Armut wird in unserer Gesellschaft viel zu viel und viel zu absichtlich geschwiegen, ähnlich ist es mit psychischen Erkrankungen.“ (S. 126) Dieses Buch war wohl eine der intensivsten Therapiesitzungen, die ich je hatte – und so war ich während des Lesens so aufgewühlt, als hätte ich gerade mein eigenes Leben seziert, mich entblößt und meine eigenen Dämonen vor den Augen der Öffentlichkeit benannt.
Olivier David schreibt in seiner „Ausstiegsgeschichte“ (S. 239) über sein Aufwachsen und Leben in Armut, mit psychischen Erkrankungen, in zerütteten Familienverhältnissen, mit Gewalt, Krankheit und dem ständigen Gefühl falsch zu sein in einer Welt, die für Menschen wie ihn nicht vorgesehen ist.
Alltagsleben im Ausnahmezustand
Immer wieder stolperte ich beim Lesen über geschilderte Situationen, die ich selbst nur allzu gut kenne. Doch nicht nur deshalb ist mir dieses Buch so nahe gegangen. Es war vor allem die Art, wie David über das Thema und seine zahlreichen Subthemen schreibt. Dieser Sound, dieser Ton, ist mir so vertraut und für mich so authentisch, dass ich immer wieder ins Schlucken, Schluchzen und Weinen gekippt bin.
„Ich bin mehr als meine Diagnosen, schon klar, aber wenn die Art, wie ich aufgewachsen bin, mich zu dem gemacht hat, der ich heute bin, dann ist ein großer Teil meiner Identität mit meinen psychischen Ecken und Kanten verwoben.“ (S. 180)
In Armut zu leben bedeutet, in einem permanenten Ausnahmezustand zu sein. Was für Klassenkolleg*innen, Kommiliton*innen, Arbeitskolleg*innen normal ist, wirkt wie aus einem Paralleluniversum. Der Pool im Garten, regelmäßige Kinobesuche, das neueste Handy, jährliche Urlaubsreisen, tägliche oder wöchentliche Kaffeehausbesuche, teure Hobbies, substanzgeschwängerte Nächte in angesagten Clubs – undenkbar für Menschen wie uns. Dafür eine ständige Angespanntheit, das schlechte Gewissen der Eltern, Verzweiflung und Frustration, die sich nicht selten auf eine gesellschaftlich nicht akzeptierte Weise entlädt. David trifft dieses Gefühl auf den Kopf, wenn er schreibt: „Je prekärer ein Mensch lebt, desto kürzer wird der Zeitraum, in dem er die Kontrolle über seine Ziele und sein Handeln hat.“ (S. 28)
Ich bin immer schon zu laut, zu impulsiv, zu prollig. Bin anderen peinlich. Sie schämen sich für mich. Ich falle in meinen Herkunftsdialekt und werde dafür ausgelacht. Ich bin nicht mit Theater, Oper und Programmkinos aufgewachsen (die ich übrigens bis heute wenn möglich meide). Ich wurde nicht mit klassischer Musik erzogen, wurde nicht in Museen geführt, habe keinen Bezug zu den „großen Meistern“. Ich habe keinen Geschmack, bin eine Banausin, wenn es um bürgerliche Kunst- und Kulturwelten geht. Ich bin anderen peinlich — und immer wieder auch mir selbst.
Als ich zu studieren beginne, habe ich drei Semester lang durchgehend das Gefühl, dumm zu sein. Ich verstehe die zu lesenden Texte nicht, ich kenne die Fremdwörter darin nicht, habe keine Ahnung, was ein gewisser Bourdieu mit kulturellem Kapital meint – auch, weil ich über keines verfüge. Kaschieren, Tarnen und Täuschen. Nur so überlebe ich die ersten Semester und versuche, möglichst nicht aufzufallen. Ich eigne mir manisch Wissen an, verzweifle dabei, kämpfe trotzdem weiter, verliere mich selbst.
Außerhalb der Universität fühle ich mich wohler, umgebe mich mit Menschen, die nicht studieren, mit Arbeitslosen und Junkies, den liebsten und unzuverlässigsten jungen Menschen, die ich mir vorstellen kann. Wir betäuben gemeinsam unseren Schmerz und unsere Unsicherheit. Meine Zwanziger waren geprägt von Studium, Nebenjobs und Drogen. An viele Momente und ganze Phasen habe ich heute keine Erinnerung mehr.
Ich weiß, was es bedeutet kein Geld für Essen oder die nächste Miete zu haben. Ich weiß um die Einsamkeit und Isolation, die durch Armut und Dauerstress entsteht. Ich weiß aber auch um die Solidarität untereinander und die ist es, die mich immer wieder davon abhält zu springen. Und auch hier, die Einsicht: „Menschen, die in Armut leben, werden nie wissen, welche Entscheidungen sie getroffen hätten, hätten sie eine wirkliche Wahl gehabt [...].“ (S. 45)
Gesellschaftsdiagnosen
Wenn Olivier David von seiner Familie, seinen Freund*innen, seiner Hood und seinem Alltag als Kind, Jugendlicher und junger Mann schreibt, dann schreibt er auch über gesellschaftliche Umstände, strukturelle Ungleichheiten, individuelle und kollektive Auswirkungen einer Welt, in der arme und (psychisch) kranke Menschen nicht vorgesehen sind — und er stellt der kapitalistischen, konformistischen Leistungsgesellschaft eine niederschmetternde Diagnose. Gleichzeitig macht er sich und seinen Klassengenoss*innen Mut: „Ich weiß nicht, ob es etwas Schwereres gibt, als sich aus dem Leben herauszuschälen, das man glaubte, verdient zu haben – aber einen Versuch ist es wert.“ (S. 230)
Ich kann Olivier David nicht genug dafür danken, dieses Buch geschrieben zu haben, kann nur erahnen, welch emotionaler und politischer Kraftakt es gewesen sein muss. Dieses Buch trägt mehr zum Verständnis von Armut, Ausgrenzung und Ausschluss bei, als es wissenschaftliche Sachbücher je könnten. Deshalb gibt es von mir eine große Leseempfehlung für „Keine Aufstiegsgeschichte“, denn nur wer ein entsprechendes Bewusstsein entwickelt, ist fähig sich zu organisieren, die eigenen Ketten zu sprengen und kollektiv an der Zerschlagung von Ursachen zu arbeiten. Wir haben schließlich immer noch eine Welt zu gewinnen!
Keine Aufstiegsgeschichte. Warum Armut psychisch krank macht.
Eden Books, Hamburg.
ISBN: 9783959103312.
240 Seiten. 16,95 Euro.