Eugenische Energiebällchen

- Buchautor_innen
- Naomi Klein
- Buchtitel
- Doppelgänger
- Buchuntertitel
- Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart
Wie Wellness-Ideologien, Selbstoptimierung und Verschwörungsnarrative Körperpolitiken autoritär umformieren und Solidarität aushöhlen.
Rückblick 2020: Mit gewaltiger Musik unterlegte Videos, in denen wilde Tiere die menschenleeren Großstädte zurückerobern. Memes mit Aufschriften von „Die Erde heilt“ bis „Wir sind das Virus“. Besucherinnen von Gottesdiensten in Megakirchen, die strahlend verkünden, ihrem Körper könne nichts passieren: „Ich bin im Blut des Herrn gebadet!“ (S. 215). Nach Sandelholz duftende Yogalehrerinnen, die sich geradezu den Tod derjenigen herbeiwünschen, deren Immunsystem nicht so stark wie ihr eigenes ist. Dem Corona-Virus die Aufgabe einer „Herdenkeulung“ zukommen lassen, einer „Vernichtung eines Teil des Gesamtbestands (…), um die natürliche Welt von menschlicher Überbeanspruchung zu enlasten und zu sanieren“ (S. 211). Das sind nur einige der Auswüchse scheinbar längst vergangener Zeit, an die uns Naomi Klein in ihrem Buch „Doppelgänger“ zurückerinnert. Darin zeigt sie insbesondere mit Rückgriff auf die Corona-Pandemie, dass die Beschäftigung mit unseren Körpern nicht bloß Privatsache ist, sondern darin auch politische Grundüberzeugungen verwoben sind, die in Krisenzeiten als Vehikel für antisoziale und autoritäre Praktiken fungieren können.
Doppelgänger als Methode
Kleins Buch beginnt mit der Beschreibung eine kuriosen Verwechslung: Naomi Wolf, einst feministische Bestsellerautorin, die sich zunehmend in Verschwörungswelten und rechten, maskulinistischen Internet-Räumen bewegt, erscheint der Autorin immer wieder als ihr „Doppelgänger“. Sie beschreibt diese Verwechslungen mit der „anderen Naomi“ als Erfahrung einer Spiegelung, in der sich symptomatische, verzerrte, auf den Kopf gedrehte, sinistre Verschiebungen der Gegenwart zeigen. Aus dieser persönlichen Zäsur und der Abarbeitung an dem „Naomi-Naomi-Problem“ (S. 194) formt Klein eine essayistische Erzählung, die Alltagserzählungen, Pandemieerlebnisse, Rückblicke auf ihre eigene Schaffensphase, literarische Ausflüge in die Welt der Doppelgänger-Literatur und politische Analyse verknüpft. Die Spiegelmetaphorik trägt das Buch: Es handelt sich nicht (nur) um ein intellektuelles Gefecht im Spiegelkabinett, sondern um die Frage, warum emanzipatorische Sprache und Körperpraktiken in autoritäre Umdeutungen kippen, und uns der Blick in den Spiegel der Erkenntnis dazu so schwer fällt. Denn was sehen wir denn über uns in dem Spiegel, der diese autoritären Umformierungen ermöglicht? In der englischen Originalausgabe lautet der Untertitel des Buchs deshalb auch „A Trip into the Mirror World“; die deutsche Übersetzung, die von einer „gestörten Gegenwart" spricht, macht diesen Bogen nicht. Ingesamt fehlt der Übersetzung oft die Leichtigkeit, mit der Klein ihre Gedanken und Lernprozesse zusammenwebt; wer kann, möge sich deshalb des Originals bedienen.
„Ich fühle mich sprachlos!“
Ein besonders wichtiger Punkt in Kleins Analyse ist, wie rechte Bewegungen progressive Vokabeln und Praktiken übernehmen und uminterpretieren. Sie schildert etwa, wie der feministische Slogan „My body, my choice“ plötzlich von Impfgegner*innen aufgegriffen wurde, die mit demselben Slogan für ihr Recht auf Ungeimpftsein demonstrierten. Der wichtige Black-Lives-Matter-Ruf „I can’t breathe“ tauchte auf Anti-Masken-Plakaten auf. Gleichzeitig scheinen den Linken selbst die Worte abhanden gekommen zu sein; auch dieser Befund taucht an verschiedenen Stellen auf:
„‘Wir haben den Diskurs verändert…‘, sagte ein Freund neulich zu mir und verstummte dann. Ja, das haben wir. Aber wir haben es offenbar genau in dem Augenblick getan, als Worte und Ideen eine radikale Enwertung erlebten, einen Crash (…).“ (S. 197)
Und dann, eine ungemütliche Doppelgänger-Frage: „Was, wenn Worte – auf Papier geschrieben oder im Protest gerufen – nur das verändern, was Menschen und Institutionen sagen, aber nicht das, was sie tun?“ (S. 195).
Der extrem rechte Yogalehrer von Nebenan
Einen wichtigen Teil des Buchs macht die genaue Untersuchung der unheilvollen Allianz von Far-Right und Far-Out aus: „Die extreme Rechte trifft den Eso-Extremismus“ (S. 201ff.). Klein macht deutlich, dass viele Fitness-Coaches, Chiropraktiker:innen und Wellness-Influencer:innen während der Pandemie nicht nur Yoga-Posen und Energiebällchen-Rezepte teilten, sondern auch autoritäre Anti-Impf- und QAnon-Verschwörungsideologien. Die Wellness-Industrie — lange Zeit ein „harmlos“ wirkender Markt für Selbstoptimierung, Gesundheit und Achtsamkeit — ist längst zu einem ideologischen Umschlagplatz für alle möglichen (Parallel-)Realitäten geworden.
Die Autorin argumentiert, dass der Körper in diesen Diskursen zunehmend zur alleinigen Verantwortungssphäre des Individuums wird: Das Wellness-Subjekt ist ein unternehmerisches Selbst, anstatt Gesundheits- und Sorgefragen als strukturelle Probleme (fehlende Gelder, Zugänge, Infrastruktur, nicht zu schweigen von massiven Ungleichheiten aufgrund von Klasse, race, Geschlecht und so weiter) zu begreifen, werden Körper und Gesundheit als individuell optimierbare Projekte konstruiert. Diese Verschiebung ist für Klein kein Zufall, sondern Ausdruck eines neoliberalen Projekts, das kollektive, solidarische Fürsorge abbaut und durch privat konsumierbare Gesundheitsversprechen und vor allem Eigenverantwortung ersetzt. Die Wellness wirkt als Kompensation für Entfremdung und Kontrollverlust, verschleiert aber die ökonomischen Ursachen der Krise – oder verschiebt die vermeintlichen Gründe dafür auf die Anderen.
„Etwas Neues war entstanden“, resümiert Klein die toxische Mischung von Rechten mit „liberalen Crossover-Stars“: „ein giftiges Gebräu, in das machtvolle Vorstellungen einer natürlichen Lebensweise, körperlicher Stärke, Fitness, Reinheit und Göttlichkeit eingeflossen waren. Auf der Gegenseite standen Unnatürlichkeit, körperliche Schwäche, Trägheit, Verseuchung und Verdammnis.“ (S. 210) Daraus folgt das fatale Credo: Wer einen schwächeren Körper hat, hat es vermutlich selbst verschuldet und verdiene weniger Fürsorge – Gedanken, die auf fatale Weise kompatibel sind mit eugenischen Idealen und ökofaschistischem Gedankengut.
Kleins „Doppelgänger“ ist eine scharfsinnige Kritik des gegenwärtigen autoritären (Körper-)Diskurses und schreckt auch nicht davor zurück, das eigene Ringen um einen geeigneten Umgang mit diesen Entwicklungen darzustellen. Nur dadurch lernen wir.
Zum Schluss warnt Naomi Klein dennoch vor Pessimismus. Ihr Buch liefert keine einfachen Rezepte, sondern eine Landkarte der Gegenwart und ihrer Parallelwelten. Spiegelhaft weist es auf die eigenen dunklen Seiten hin – und sowohl auf den Umgang des Einzelnen als auch auf unseren kollektiven Umgang mit gesellschaftlichen Krisen. Denn der Sinn von Spiegeln ist ja: Erkenne dich selbst – auch, um das Andere zu verstehen. Und dann ins Handeln zu kommen.
Doppelgänger. Eine Analyse unserer gestörten Gegenwart. Übersetzt von: Peter Robert und Rita Seuß.
S. Fischer Verlag.
ISBN: 978-3-10-397644-1.
496 Seiten. 30,00 Euro.