Zum Inhalt springen

Notbremse der Revolution

Buchautor_innen
Aufstände der Erde
Buchtitel
Erste Beben

Der Selbstbericht zeigt, wie sich ein Kollektiv zur Verteidigung von Land und Wasser als eine der wichtigsten aktivistischen Gruppen der ökosozialistischen Bewegungen etabliert hat.

Selten hat mich die Übersetzung eines Buches ins Deutsche so gefreut wie „Erste Beben“ von den Aufständen der Erde (original: Soulèvements de la Terre, SdT), erschienen bei Assoziation A im März diesen Jahres. Denn Aufstände und breite emanzipatorische Bewegungen, wie sie viele Teile der Welt ergreifen, werden in Deutschland häufig eher mit herablassendem Wohlwollen bedacht oder gleich als Ausgeburt von gewalttätigem, dumpfem Populismus. Schließlich lautet die Annahme: Wenn irgendwelche Leute ohne Namen oder Renommee und ohne Führung von sich aus aufbegehren, wissen sie nicht, was sie tun.

Das Kollektiv ungenannter Autor*innen von „Erste Beben“ setzt sich zusammen aus Denker*innen-Aktivist*innen der Aufstände der Erde. Einige von ihnen hatten sich im Januar 2021 auf dem besetzten Gelände der Zone à Défendre (ZAD) in der kleinen Gemeinde Notre-Dame-des-Landes zusammengefunden und die Bewegung angestoßen. Damals schienen „die von verschiedenen Bewegungen in den Vorjahren geöffneten Breschen wieder geschlossen, als wären nach dem Aufstand der Gelbwesten alle Diskussionen erstickt“ (S. 7).

Es mag verwundern, dass in diesem – unverkennbar – von Intellektuellen verfassten Buch immer wieder ausgerechnet auf die Gelbwesten verwiesen wird, dass die SdT sich als Weiterführung dieses breiten, von der französischen Provinz, den „kleinen Leuten“ ausgehenden Aufstands verstehen. Aber schon die Gelbwesten hatten rasch ansteckend auf die zunächst verdatterten Pariser Eliten kritischer Denker*innen und Aktiver gewirkt.

In „Erste Beben“ wird deutlich: Die Soulèvements sind Teil und Fortführung aufständischer Bewegungen wie jener gegen das unter Macron durchgepeitschte Arbeitsgesetz; gegen die rassistische Polizeigewalt, der alle paar Monate ein junger Mann aus den Vorstädten zum Opfer fällt; gegen den brutalen Neokolonialismus, mit dem Frankreich nach wie vor erbarmungslos seine Départements „jenseits des Meeres“, und nicht nur sie, überzieht.

Wer ist das „Wir“?

Nichts geht verloren! Weder die Erfahrungen früherer Aufstände, noch die Reflexionen der Beteiligten – auch darüber, was gescheitert oder in eine ungewollte Richtung entglitten ist. So sparen die SdT in diesem Rückblick nicht mit kritischen Überlegungen zu Fehleinschätzungen, etwa im Zusammenhang der „Entwaffnung“ des Bassins von Sainte-Soline – riesige Wasserspeicherbecken, die der industriellen Landwirtschaft zur Verfügung gestellt werden, nachdem der Klimawandel und eben diese industrielle Landwirtschaft selber zur Austrocknung ganzer Landstriche führen. An der Gegenmaßnahme waren im März 2023 30.000 Menschen aus ganz Frankreich beteiligt. Doch hatten die SdT die Gewaltbereitschaft von Staat und Polizei gegen ihre friedliche Aktion unterschätzt. Es wurden 5.000 Geschosse in zwei Stunden auf sie abgegeben, die Ambulanzen daran gehindert, zu den zum Teil schwer Verletzten zu gelangen.

Im Laufe der ersten drei Jahre der SdT stellten sich die Beteiligten systematisch den Fragen, mit denen auch andere Aufstände konfrontiert sind, denen sie aber häufig nicht so konsequent nachgehen, wie es die SdT tun. Wie sie dies in „Erste Beben“ nachzeichnen, ist für all jene aufschlussreich, die sich fragen, wie wir uns zu einer grundsätzlich anderen Welt aufmachen können, ohne unterwegs zermalmt, zermürbt oder vereinnahmt zu werden, einer Welt, die nicht nur einfach „besser“ ist, sondern an die Stelle des offenkundig verheerenden Ganzen treten muss. Wie kann es einem möglichst weit verzweigten Wir mit unterschiedlichsten Kompetenzen gelingen, die Notbremse der Lokomotive zu ziehen, wie Walter Benjamin das Revolutionäre umdeutete. Wie können wir parallel zum Ausbremsen, ehe alles in den Abgrund rast, eine andere Welt anbahnen, die allen ihren Bewohner*innen und den natürlichen Voraussetzungen des Lebens gerecht wird?

Jedenfalls, so die Überlegung (und Praxis) der SdT, bedarf es einer ebenso fluiden wie auch verbindlichen Organisierung bei diesem Unterfangen. Wir sind konfrontiert mit Paradoxien – und mit einem Staat, der zu nichts anderem da ist, als den Status quo mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und zunehmend mit Gewalt unangreifbar zu machen. Wer kann dieses Wir sein, das sich fragend auf den Weg macht? Jedenfalls eines, das Wissen, Erfahrungen, Kompetenzen teilt, gemeinsam klüger wird.

Im Vorwort heißt es:

„Wir sind Bäuer*innen, die Lebensmittel produzieren, indem sie die bewirtschaftete Erde auf verantwortungsvolle Weise behandeln. Wir werden uns nicht zwischen ökonomischem und pestizidinduziertem Suizid einkeilen lassen. […] Ohne eine Massenbewegung, die […] weit darüber hinausgeht, um für viel größere Ziele zu kämpfen, sind wir dazu verdammt, uns von einer kurzfristigen Maßnahme zur nächsten zu hangeln, während das Gesamtsystem weiterhin der Agrarindustrie die Taschen füllt.“ (S. 9)

Dieser Logik – das Konkrete, Lokale, Spezifische und zugleich immer auch das davon untrennbare Ganze, die großen Zusammenhänge, auch die Globalen – im Blick zu haben, entspricht es aber auch, dass sich die SdT „ganz andere“ Themen vornehmen, so die Zement- und Betonbranche oder die Logistik, inzwischen auch das Verlagswesen und die Medien, denen ihre Entwaffnungskampagnen ebenso gelten wie der industriellen Landwirtschaft.

Die Falle der Vereinnahmung

Nur folgerichtig ist es daher, dass ihre engste Verbündete die Confédération Paysanne ist, der in Frankreich flächendeckend präsente französische Zweig der internationalen Bäuerinnen*Bauern-Bewegung La Via Campesina. Land- und Wasserraub und die Logik der für die Wenigen (im Globalen Norden) profitablen Ungleichheit, derzeit überall rasant vorangetrieben, lässt sich nicht mit ausschließlichem Fokus auf Frankreich konfrontieren.

Die Aktivist*innen-Denker*innen der SdT kommen auch „aus autonomen Gruppen […] haben die Kämpfe um den zurechtgestutzten Einstiegsvertrag für Berufsanfänger*innen […] miterlebt, die Streiks an Schulen und Unis, die […] damit verbundenen Riesen-Demos.“ Doch, so geben sie sich quasi selbst zu bedenken, ihre Revolte verliere

„sich manchmal auch in verstreuten Kleinkonflikten […] in einer harsch opponierenden Subkultur, die fast keinen Kontakt mehr zur breiten Bevölkerung hat. Oft schrecken wir vor konkreten Vorschlägen und den damit einhergehenden Widersprüchen zurück, diese Zögerlichkeit aber bringt uns um die Aussicht auf revolutionären Wandel.“ (ebd.)

Hier klingt bereits an, was in den vier Kapiteln von „Erste Beben“ weiter entfaltet wird: der unbedingt zu überwindende linksradikale Purismus, der nicht bereit ist, sich klarzumachen, dass andere, die mindestens ebenso wichtige Subjekte einer grundlegenden Veränderung sind, sich zu Recht weigern und auf konkrete Schritte in die richtige Richtung verzichten, auch wenn diese, für sich genommen, nicht revolutionär sein mögen. Denn diese Weigerung bedeutet durchaus nicht, dass man faule Kompromisse eingeht. Die Voraussetzung ist allerdings: Während das immer neu sich zusammenfindende Wir anhebt, einen Schritt zu tun, ihn tut, behutsam und entschlossen zugleich, fragt es sich, wo es in die Falle der Vereinnahmung tappen könnte.

Und, heißt es schließlich zum Wir, das sich im Vorwort präsentiert:

„Wir sind lokale Kollektive und Anwohner*innen, die entschlossen gegen Großbaustellen vorgehen, die unsere Lebensräume bedrohen, wir verteidigen mit Leib und Seele unsere Viertel und Dörfer. Wir finden uns in den Territorien, die wir lieben, zusammen, um sie mit unseren vielfältigen Kenntnissen aus unterschiedlichen Berufen und Tätigkeiten, mit unseren Ressourcen und praktischem Wissen zu unterstützen.“ (ebd.)

Die deutsche Ausgabe hat den Vorzug, dass sie etwa ein Jahr nach der französischen herausgekommen ist und durch ein Interview mit zwei Aktivist*innen der SdT abgerundet wird. So erfährt die*der deutsche Leser*in, wie sich die Bewegung rasant weiterentwickelt hat. Unaufhaltsam, wie es scheint: auch durch Polizeigewalt, juristische Attacken und Verbotsandrohungen nicht kleinzukriegen.

Aufstände der Erde 2025:
Erste Beben. Übersetzt von: Sula Textor, Claire Schmartz, Andreas Jandl & Franck Traps.
Assoziation A.
ISBN: 978-3-86241-509-0.
352 Seiten. 24,00 Euro.
Zitathinweis: Sophia Deeg: Notbremse der Revolution. Erschienen in: Der Wert des Körpers. 77/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/k4j3X. Abgerufen am: 15. 10. 2025 11:04.

Zum Buch
Aufstände der Erde 2025:
Erste Beben. Übersetzt von: Sula Textor, Claire Schmartz, Andreas Jandl & Franck Traps.
Assoziation A.
ISBN: 978-3-86241-509-0.
352 Seiten. 24,00 Euro.