Wo steht die Brandmauer?

- Buchautor_innen
- Alberto Toscano
- Buchtitel
- Spätfaschismus
- Buchuntertitel
- Rassismus, Kapitalismus und autoritäre Krisenpolitik
Liberalismus und Faschismus sind keine Gegensätze, sondern verwandte Ausformungen kapitalistischer Herrschaft und staatlicher Autorität. Was bedeutet das für einen Antifaschismus auf Höhe der Zeit?
Ist das Faschismus? Ob Trumps USA, Putins Russland oder Netanjahus Israel: Es ist eines der traurigen wie auch alarmierenden Zeichen unserer Zeit, dass kaum ein Weg an dieser schwerwiegenden Frage vorbeiführt. Dass die Liste aussichtsreicher Kandidat:innen für den fragwürdigen Titel „Faschismus“ noch lange weitergeführt werden könnte (siehe Argentinien, Indien, die Philippinen, Ungarn und so fort), macht die Sache nicht unbedingt besser. In Deutschland wiederum geht man nicht leichtfertig mit dem Faschismus-Begriff um. Dennoch drängt sich auch hierzulande die Frage auf: Verdient das, was wir als global erstarkende Nationalismen, als angeblich alternativlose Militarisierung, als mörderische Grenz- und Migrationsregime, als Transphobie, Rassismus und als viele weitere Formen der um sich greifenden Menschenfeindlichkeit erleben, das Prädikat faschistisch?
Auf diese und ähnliche Fragen wird man in Alberto Toscanos Buch „Spätfaschismus“ keine Antworten finden, zumindest keine direkten. Sich an einer „Checklisten-Soziologie“ zu beteiligen, die die gegenwärtigen Regime der rechten Reaktion mit mehr oder weniger eindeutigen empirischen Markern versieht – von „konservativ“, über „rechtspopulistisch“, bis hin zu „autoritär“ oder eben auch „faschistisch“ –, daran zeigt Toscano nur lauwarmes Interesse. Vielmehr, so Toscano, sei sein Buch
„die Aufzeichnung eines Streifzugs durch verschiedene Orte und Zeiten auf der Suche nach einem der Orientierung dienlichen Kompass. Ist es sinnvoll, die neuen Gesichter der Reaktion als ‚faschistisch‘ zu charakterisieren? Welche der zahlreichen und widerstreitenden Faschismustheorien, die das letzte Jahrhundert hervorgebracht hat, bringen Licht in unsere düstere Zeit? Und welcher Zusammenhang besteht zwischen der Theoretisierung des Faschismus und antifaschistischen Gegenstrategien?“ (S. 9)
Konterrevolutionen des Eigentums
Ganz offensichtlich zielen diese Fragen nicht so sehr auf die detaillierte Rekonstruktion dieser oder jener nationaler „Fälle“ des historischen Faschismus, seien sie auch noch so einschneidend. Toscano ist Philosoph und marxistischer Theoretiker, kein Historiker – und will dies auch nicht sein. Worum es ihm in seinem „Metakommentar zum Faschismus unserer Zeit“ (S. 10) geht, ist eine notwendigerweise unabgeschlossene Theoretisierung des Faschismus als Wiedergänger der kapitalistisch-bürgerlichen Ordnung im Allgemeinen und als widersprüchliches Symptom ihrer gegenwärtigen Umbrüche im Speziellen.
Auch wenn dabei viele der erwartbaren antifaschistischen „Klassiker“ der Frankfurter Schule und ihrer Weggefährt:innen aufschlussreich zu Wort kommen: Es ist einer der großen Vorzüge von Toscanos Buch, dass es nicht bei Adorno & Co stehenbleibt, sondern explizit Denker:innen aus „der langen Geschichte radikalen Schwarzen Denkens über Faschismus und antifaschistischen Widerstand“ (S. 40) in den Vordergrund rückt. Damit verbunden sind Namen wie Angela Davis, Stuart Hall, George Jackson, Cedric Robinson, Ruth Wilson Gilmore und viele mehr. Ohne eine falsche Einstimmigkeit zwischen diesen politisch, historisch und geographisch teils sehr unterschiedlich verorteten Denker:innen zu suggerieren, macht Toscano deutlich, dass es gerade radikale Schwarze Perspektiven sind, die eine wertvolle globalgeschichtliche Weitung des antifaschistischen Blicks im reaktionären Hier und Heute ermöglichen. Diese Perspektive ist verbunden mit einer gewissen Loslösung – keinesfalls aber vernachlässigenden Abkehr – von den beiden europäischen „Idealtypen“ des historischen Faschismus: Hitlers Nazi-Deutschland einerseits, Mussolinis ventennio fascista andererseits. In Toscanos Worten:
„Statt den Faschismus als ein singuläres Ereignis zu behandeln oder ihn mit einer bestimmten Konfiguration europäischer Parteien, Regime und Ideologien gleichzusetzen, müssen wir, mit unserer Zeit und gegen unsere Zeit denkend, ‚den Faschismus in der Gegenwart seines ‚Prozesses‘ betrachten‘. […] Es bedeutet, den Faschismus als ein Phänomen zu verstehen, das eng mit den Voraussetzungen kapitalistischer Herrschaft verbunden ist, die zwar wandelbar und manchmal widersprüchlich sind, im Kern aber eine gewisse Beständigkeit aufweisen. W.E.B. Du Bois hat diesem Kern einen Namen gegeben, der auch heute noch gültig ist: Faschismus ist ‚die Konterrevolution des Eigentums‘. Trotz tiefgreifender Unterschiede können der Terror des Ku-Klux-Klans gegen die Black Reconstruction, der Aufstieg des Squadrismo gegen gewerkschaftliche Organisierung in Italien und die mörderische Kodifizierung des Neoliberalismus in der chilenischen Verfassung alle unter dieser Überschrift verstanden werden.“ (S. 10 f.)
Neoliberaler Rassismus, faschistische Freiheit
Faschismus als Konterrevolution des Eigentums – Du Bois’ prägnante Formel dient Toscano als Ausgangspunkt für eine Erkundung der vielschichtigen Verschränkungen von liberalem „Normal-“ und faschistischem „Ausnahmezustand“. Nicht zuletzt mit Blick auf das Primat des Privateigentums, seiner staatlich-rassifizierten Durchsetzung und Aufrechterhaltung bildeten Liberalismus und Faschismus keineswegs politisch-ideologische Gegensätze, sondern differentiell verwobene Ausformungen kapitalistischer Herrschaft und staatlicher Autorität. Toscano nähert sich dieser keineswegs neuen, aber sich heute neu artikulierenden Einsicht aus zwei Richtungen.
Einerseits, so Toscano, sei es wichtig, die Nähe des Faschismus zu verschiedenen Formen der Freiheit zu erkennen. Zwar wird der Begriff der Freiheit in unserem politischen und medialen Alltagsvokabular meist dem Liberalismus zugeschrieben. Er ist jedoch auch fester Bestandteil des rhetorischen Arsenals faschistischer Ideolog:innen. Von Benito Mussolini über Donald Trump bis hin zu Rainer Kraft, dem klimapolitischen Sprecher der AfD, sind es immer wieder Versprechungen der Freiheit, etwa von staatlichen Eingriffen in der Klima- und Gesundheitspolitik oder zum Privateigentum in der Wirtschaftspolitik, die als Anrufungen an ein als weiß kodifiziertes Publikum oder auch „Volk“ gerichtet werden. Erhellend ist hier etwa ein Zitat Krafts, welches Toscano aufgreift, demzufolge „die etablierten Parteien in Deutschland ‚mit dem Weltuntergang drohen und eine Massenhysterie schüren, damit die Menschen akzeptieren, dass mehr und mehr von ihrem Eigentum und ihrer Freiheit gestohlen wird‘“ (S. 62). Statements wie dieses untermauern Toscanos These, „dass wir ein besseres Verständnis faschistischer Potenziale und Subjektivitäten gewinnen können, wenn wir uns mit diesem scheinbaren Oxymoron, faschistische Freiheit, auseinandersetzen“ (S.62 f.).
Während der Faschismus demnach weitaus „liberaler“ auftritt als oftmals imaginiert, müsse andererseits der (Neo-)Liberalismus vielfach autoritärer, rassistischer und staatsaffiner gedacht werden als es sein freiheitsliebendes und libertäres Selbstbild vorgibt. Wichtig dabei: Entgegen der propagandistischen neoliberalen Selbsterzählung vom radikalen Staatsabbau (man denke etwa an Mileis und Musks groteske Kettensägenauftritte), ist der Neoliberalismus ein zutiefst staatstragendes Gebilde. Im Anschluss an Ruth Wilson Gilmore bezeichnet Toscano diesen vermeintlichen Widerspruch als das Paradoxon eines „antistaatlichen Staates“: eines neoliberalen Staates, „der seinen eigenen Untergang verspricht und der dieses Versprechen dazu nutzt, seine Kapazitäten und seine Macht zu vergrößern, zu intensivieren und zu differenzieren“ (S. 78). Bezeichnenderweise geschieht diese Erweiterung nicht in Richtung eines Sozialstaates, der der zunehmenden Faschisierung unserer Gegenwart effektiv entgegenwirken könnte und der tatsächlich angegriffen und abgebaut wird, sondern zugunsten dessen, was Gilmore wiederum als „racial state“ bezeichnet. Dieser verschaffe sich „gerade dadurch Legitimität, dass er bestimmte Menschen gewaltsam dominiert und sie dadurch als diejenigen definiert (und für andere sichtbar macht), die herumgeschubst werden sollen“ (S. 78). Ein Schelm, wer dabei an Friedrich Merz und an hiesige Debatten über beziehungsweise mediale Hetzjagden auf Sozialhilfeempfänger:innen und Migrant:innen denkt.
Und in Deutschland?
In Deutschland gingen im Nachgang der CDU-Anbiederung an die AfD Anfang Februar 2025 mehrere Hunderttausend Menschen auf die Straße. An vorderster Demo-Front war etwa in Berlin zu lesen: „Wir sind die Brandmauer. Keine Zusammenarbeit mit der AfD“. Wie weit aber trägt ein Antifaschismus, der das Problem hauptsächlich bei der AfD verortet und der seine Brandmauer entsprechend zwischen ihr und der sogenannten „bürgerlichen Mitte“ errichtet? Laut Toscanos Analyse nicht besonders weit (siehe vertiefend: Zelik 2025).
Toscanos Buch wurde sowohl in der angloamerikanischen als auch in der deutschsprachigen Linken breit und meist sehr positiv rezipiert. Und das zurecht. Es liefert grundlegende theoretische Orientierung für einen Antifaschismus, der die Faschisierung unserer Gegenwart nicht entlang einfacher geschichtlicher Analogien, sondern aus ihren eigenen Logiken, Widersprüchen und historischen Entstehungsbedingungen begreift und bekämpft.
Zusätzlich verwendete Literatur
Zelik, Raul: Treiber des Faschismus, analyse & kritik, 17. Juni 2025. Online einsehbar hier.
Spätfaschismus. Rassismus, Kapitalismus und autoritäre Krisenpolitik. Übersetzt von: Jonathan Rößler.
Unrast Verlag.
ISBN: 978-3-89771-636-0.
216 Seiten. 19,80 Euro.