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Die Erinnerung der Leerstellen

Buchautor_innen
Sacha Wares und John Pring
Buchtitel
Museum of Austerity
Buchuntertitel
Immersive Mixed Reality Experience

Ein immersives mixed-reality Gastspiel macht die Folgen von Austeritätspolitik auf Menschen mit
körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen intensiv sichtbar.

Philippa Day, Diane Hullah, Errol Graham – drei Namen aus dem Museum of Austerity, die stellvertretend für die vielen Menschen stehen können, die aufgrund von gekürzten Sozialleistungen und den daraus resultierenden Leiden ihr Leben verloren haben.

2016 stellte ein UN-Ausschuss fest, dass aufgrund der seit 2010 im Vereinigten Königreich durchgeführten Sozialreformen „schwerwiegende oder systematische Verletzungen” der Rechte von Menschen mit Behinderungen stattgefunden haben. 2021 konnte eine breite Öffentlichkeit in den Zeitungen lesen, wie zahlreiche Menschen mit Lernbehinderungen ohne ihre Zustimmung oder ohne eine individuelle Einschätzung während der Covid-19 Pandemie vom National Health Service dazu gedrängt wurden, einem Hinweis zur Nichtdurchführung einer Herz-Lungen-Wiederbelebung zuzustimmen. Auch heute sind diejenigen, die vermeintlich „nicht produktiv“ sind, beständig ökonomischer und sozialer Entwertung ausgesetzt und werden als Belastung eines fragilen Gesellschaftsapparates diskreditiert.

Individuelle Geschichten sind unter der weitreichenden britischen Austeritätspolitik jedoch schon längst zu Generationenfragen geworden - prekäre Realität konstituiert Normalität. Wie erinnern wir uns aber an Einzelne, wenn das kollektive Bewusstsein den Geschichten der Ungerechtigkeit und des Leids schon tausendfach begegnet ist?

Eine Galerie der Abwesenheiten

Im multi-sensorischen Gastspiel Museum of Austerity betreten Besucher:innen einen in der Ausstattung dem britischen Parlament nachempfundenen großflächigen Raum, der deutliche Lücken aufweist: leere Bänke, leere Sessel, leere Ecken. Ausgestattet mit VR-Brillen, die sowohl einen Blick in die „analoge“ Umgebung ermöglichen, als auch ein erweitertes virtuelles Bild evozieren, treffen wir hier auf die lebendigen Hologrammkörper von Toten, die in vielfältigen Dialekten die Leerstellen des Ortes, in dem gewissermaßen ihr Urteilsspruch gefällt wurde, mit ihrer Präsenz und ihren Lebensgeschichten füllen.

Junge und alte Menschen werden sichtbar, still sitzend, liegend, sich an die Wand anlehnend, inmitten weniger Habseligkeiten oder in einem Krankenhausbett. In Form, Farbe und Gestik roh und schemenhaft, in Anwesenheit nur auf Zeit, existieren sie im Zwischenraum von Erinnerung und Gegenwart. Nichts hier erinnert an den popkulturellen Gebrauch hochglänzender Hologramme auf Musikbühnen oder an hologrammbasierte Kunstinstallationen, die entweder einer Simulation des Lebendigen oder einer vollständigen Entfremdung von Form und Materialität nachgehen. Auch sind die Charaktere des Museum of Austerity keine interaktiven Gesprächspartner:innen ritualisierter Memorialisierung, wie beispielsweise befragbare 3-D Hologramme von Zeitzeug:innen, vielmehr betrachten wir Ausstellungsobjekte: immaterielle Statuen, geisterhafte Projektionen und unbewegliche Abbilder, deren fragile Präsenz Verlust und Verletzlichkeit sowie emotionale Nähe statt abstrakte Überhöhung anklingen lassen.

Wie erzählen wir Körper, die nicht mehr da sind?

Trotz der statischen Positionierung der virtuellen Körper im Raum handelt es sich nicht um ein konventionelles Museumserlebnis; vorsichtiges Herantasten zeigt, Besucher:innen entscheiden eigenständig, wie nah sie der jeweiligen Geschichte kommen möchten. Aus der Distanz, zum Beispiel über eine Klanginstallation von Parlamentsdebatten, hören wir großspurige Worte des ehemaligen Premierministers Boris Johnson, beim Näherkommen an eine Person sind es Freunde oder Angehörige, die sprechen und wer ganz nahe kommt, hört die reproduzierte Stimme der Person selbst. Diese unterschiedlichen Level von Intimität etablieren Besuchende als Akteur:innen – konzeptuell vollzieht sich damit eine Verschiebung von gegenseitiger sich bedingender Passivität, Zuschauer:in versus Ausstellungsobjekt, hin zu interaktiven Handlungsoptionen. So ist es etwa auch möglich, Themen wie häusliche Gewalt oder Missbrauch auf Wunsch aus den Erzählungen herauszunehmen, um den Besuch mehr auf die eigenen Bedürfnisse zuzuschneiden. Auffällig bleibt in dem aktiven Miteinander jedoch die Abwesenheit eines wahrhaft kollektiven Erlebnisses, denn Konversation zwischen den Besucher:innen untereinander ist kaum möglich, Headset und Klanginstallation kreieren unüberbrückbare Rahmen der Fokussierung.

Das skulpturelle Ausstellungsmaterial der virtuellen Körper lässt einen experimentellen Ort der Gegenüberstellung entstehen, keinen Cyberspace um die Wesenseinheiten des digitalen Zeitalters, die virtuellen Eigenidentitäten, sondern eine emphatische Konfrontation von Mensch und menschlicher Geschichte. Die Fragmentation dieser Interaktion steht hier ganz im Einklang mit den kranken Körpern der Protagonist:innen und deren gewaltvoller Rezeption in der Gesellschaft. Im Unterschied zu „echten“ Museen mit ihren Mumien und Totenschädeln basiert das Museum of Austerity jedoch auf dem expliziten Einverständnis der Angehörigen und statt einer Vergegenständlichung menschlicher Überreste erleben wir hier eine Performance. Die Toten sind nicht auferstanden, sie begegnen uns als personifizierte Erzählung, als ein Puppentheater, aus dessen individuellem Erinnerungsschatz wir uns transzendierende Geschichte(n) kuratieren können.

Ein Akt der Solidarität

Errol, Diane und Philippa verkörpern die Erfahrungen, die tausende von Menschen machen, trotzdem ist jede ihrer Geschichten einzigartig. Ihre Körper funktionieren hier als virtuelle „körperförmige“ Behältnisse einzeln erfahrbarer Lebensereignisse, die die Besucher:innen zugleich mit der Distanzlosigkeit eines persönlichen Gesprächs und einer sichtbar verlorenen Entfremdung inmitten ihrer feindlichen Umgebung berühren.

Das Ausstellen dieser digitalen Nachzeichnung kranker, sterbender Körper im Museumskontext ist ein politischer Akt und was wir hier finden, fern vom Elendsvoyeurismus kommerzieller Medien, ist das eigene praktizierte Zuhören, das Einordnen der Geschehnisse in den eigenen Erfahrungshorizont. Die Stärke des Museum of Austerity liegt nicht in einer Überhöhung des Virtuellen, die das Verhältnis von Medium und Subjekt kontinuierlich reflektiert, sondern in dem Referenzraum, den es erschafft: Wie erleben wir die Geschichten von anderen selbst? Wie fühlt sich Erinnerung an? Und was erzählen die Menschen, denen niemand zuhört?

Auf einem der Feedback-Kärtchen am Ausgang steht die letzte Frage, die übrig bleibt: „Und jetzt? Wo kann ich mich organisieren, um etwas zu tun?“

Zusätzliche Informationen

Das Museum of Austerity ist vom 5. Dezember 2025 bis 16. Januar 2026 in London im Young Vic Theatre zu besuchen. Kuratiert wird die Ausstellung von Sacha Wares. Weitere Daten und Ausstellungsorte folgen.

Sacha Wares / John Pring 2024:
Museum of Austerity. Immersive Mixed Reality Experience.
Interaktive Ausstellung, Young Vic Theatre, London.
Zitathinweis: Anna Norpoth: Die Erinnerung der Leerstellen. Erschienen in: Der Wert des Körpers. 77/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/iGEXy. Abgerufen am: 15. 10. 2025 10:59.

Zum Buch
Sacha Wares / John Pring 2024:
Museum of Austerity. Immersive Mixed Reality Experience.
Interaktive Ausstellung, Young Vic Theatre, London.