„Ein Krieg gegen die Kapazität, mitmenschlich zu sein“

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- Gespräch mit Dagmar Herzog
Faschistische Politik wirkt seit jeher über Affekte, Körperbilder und die Abwertung behinderter Menschen – im Nationalsozialismus ebenso wie in den rechten Bewegungen der Gegenwart.
Dagmar Herzog Bereits Alfred Ploetz’ einflussreicher Text zur Eugenik aus dem Jahr 1895 verwebt erotisierte Rassismen mit Behindertenfeindlichkeit: Seiner Argumentation nach müssen die kümmerlichen Babys getötet werden, damit das Volk stark, sexy und intelligent werden kann. Als ich im Januar 2025 bei einer Konferenz in Rom gebeten wurde, über den neuen faschistischen Körper zu sprechen, stand ich plötzlich vor der Aufgabe, meine jahrzehntelange Arbeit zur Geschichte der Sexualpolitik mit meinem gerade fertigen Buch „Eugenische Phantasmen“ zusammenzudenken. Auf den ersten Blick wirken die Themen wie von verschiedenen Planeten. Aber das stimmt nicht. Nazis und ihre Obsessionen stammen vom selben Planeten wie wir.
Schon vor 20 Jahren habe ich die Nazis dabei als Proto-Postmodern beschrieben. Die hatten ein solches Interesse daran, herauszufinden: Wie funktioniert das sexuelle Begehren? Wie funktioniert die Triebrichtung, also das, was man heute sexuelle Orientierung nennt? Ohne 68er-Bashing zu betreiben: Das haben sie falsch verstanden. Sie haben gedacht, dass das Dritte Reich nur repressiv war, und haben die Lustanstachelung, den Ansporn, völlig verpasst. Aber eine zentrale Botschaft des Faschismus ist: Du darfst. Du darfst die Regeln brechen, du bist Teil der In-Gruppe. Du kannst gemein sein und du kannst Lust haben. Alles passt zusammen. Ich habe mit meinen Arbeiten versucht zu zeigen: Sex ist nichts Triviales, Sexualpolitik gibt Aufschluss über die Anziehungskraft des Faschismus. Das muss man ernst nehmen. Und jetzt möchte ich einfach, dass man Behinderung und den Umgang mit ihr nicht mehr als Randthema ansieht. Dass sie nur direkt Betroffene betrifft, das stimmt nicht. Es wird hier auch das Selbstverständnis einer Gesellschaft verhandelt.In deinem Buch wird ein AfD-Wahlplakat diskutiert. Darauf nutzt die Partei das Gemälde „Der Sklavenmarkt“ von Jean-Léon Gérôme: Man sieht nichtweiße Männer, die um eine entblößte, hellhäutigere Frau stehen und sie begutachten. Daran zeigst du, wie einerseits das rassistische Vorurteil – Frauen müssen vor den angeblich gefährlichen „anderen“ Männern beschützt werden – und andererseits eine sexualisierte Fantasie – man kann selbst den entblößten Frauenkörper ungeniert begaffen und sich in der Rolle der dargestellten Männer imaginieren – bedient wird. In den aktuellen rechten Angriffen auf Transrechte sieht man etwas ähnliches: Es wird sich eine ausschweifende Sexualität ausgemalt, die zwar als moralisch abstoßend charakterisiert wird, aber eigentlich drückt sich da vor allem eine eigene Fantasie aus, die man sich verbietet und auf andere projiziert.
Adorno hat das schon 1950, in seinen Arbeiten zur Autoritären Persönlichkeit, beschrieben: Die Objekte des Hasses sind austauschbar. Man muss prüfen, welche Funktion sie bedienen. Bei der Debatte um Transgender ist es eine Mischung. Von „Oh nein, die armen Kinder“ – Trump sagte allen Ernstes während der Wahlkampagne, die Schüler:innen würden morgens zur Schule gehen und mittags mit einem anderen Geschlecht zurückkommen – bis zu seinem Slogan „Kamala Harris is for They/Them, Trump is for You“. Aber weil natürlich die Kinder die Zukunft sind, man sich Sorgen macht und möchte, dass diese perfekt sind, dass man sie lieben kann, dass sie normal werden und so weiter und so fort – also weil diese Vorstellungen sehr verbreitet sind –, spricht das so viele Leute an. Und sehr viele Demokrat:innen haben da auch mitgemacht. Das ist ein Effekt des Faschismus: Er probiert diese Gewalttätigkeit und Gemeinheit erst mal an einzelnen Gruppen aus, und die liberale Mitte rutscht herum, weil sie nicht genau weiß, welche Argumente sie bringen kann. Wen sollen sie schützen? Wo sollen sie Kompromisse machen? Und damit hat sie schon den Raum für neue Angriffe zugestanden.
Zu Beginn deines Buchs charakterisierst du das politische Projekt von Trump bis zur AfD als postmodernen Faschismus, vorhin hast du in deiner Antwort die Nazis auch als proto-postmodern bezeichnet. Was meinst du damit genau?
Mit postmodern meine ich, dass die Botschaften ungeniert widersprüchlich sind. Sie sind ein totales „Mix and Match“: hier witzig spielerisch, dort selbstreflexiv ironisch. Der Unterhaltungswert macht sie anschlussfähig für breite Zielgruppen und erlaubt zugleich die geschickte Verleugnung oder Verharmlosung des gerade Gesagten: So war es doch gar nicht gemeint.
Aber der dauernde Vergleich zwischen heute und den 1930er/40er-Jahren bringt uns nicht weiter — wir geraten in unproduktive Streitigkeiten darüber, ob es „schon“ so schlimm sei wie damals oder eben nicht, oder ob man Trump oder andere extrem Rechte überhaupt mit dem Begriff „Faschismus“ beschreiben darf. Als ob diese nicht jeden Tag genüsslich aus diesem Strategiebündel der historischen Faschisten schöpfen und diese für sich umdeuten. Wir verlieren dabei den Blick dafür, wo die relevanten Echos der Vergangenheit zu hören sind. Denn woran erkennt man Faschismus? Es ist eine Bewegung, die sich gegen die Gleichheit aller Menschen – in all ihrer Differenz – richtet, und damit auch gegen die Idee der Solidarität. Die Lust am Herumtrampeln auf Schwächeren ist ein wichtiges Kennzeichen. Faschismus bedient so ein narzisstisches Verlangen nach Größe, er vermittelt seinen Anhänger:innen ein Gefühl der Überlegenheit. Das geschieht unter anderem durch das Rassifizieren von Erklärungen: Die schlechte Lage der Welt – etwa wirtschaftliche und soziale Wandlungen – wird mit dem Vorhandensein von Migrant:innen oder Behinderten erklärt. Die Probleme kommen also entweder von den angeblich „Anderen“, den Fremden, die uns von außen bedrohen und abgewehrt werden müssen, oder von der Imperfektion des „Eigenen“, das darum umso brutaler ausgeschlossen werden muss.Unter Linken war lange die Vorstellung verbreitet, man könnte dem Faschismus oder dem Autoritarismus begegnen, indem man Aufklärung leistet, ihre Widersprüche aufweist, ihre „wahren“ Absichten entlarvt und so die Menschen überzeugt. Dein Essay hilft auch dabei, besser zu verstehen, warum das so schwierig ist.
Bei meinen Doktorierenden beschäftigt mich zum Beispiel gerade sehr, wie ich sie adressieren kann in der derzeitigen Situation: Was für Texte ich ihnen geben muss, was für Fragen ich stellen kann. Welche Friction, welche Reibungen zwischen den Texten aus der Vergangenheit und der Gegenwart ich ihnen anbieten soll und kann. Auch, damit sie mir helfen, nachzuvollziehen, wie sie die Welt verstehen, wie sie die Gegenwart wahr- und aufnehmen. Denn wenn wir nicht benennen können, was jetzt los ist, wenn wir dafür keine Worte haben, dann kommen wir echt in Schwierigkeiten.
Alberto Toscano, der das wichtige Nachwort zu meinem Essay geschrieben hat, hat auf den Punkt gebracht, dass die Bilder, die Sprache und vor allem die Bildsprache der Rechten in Form von Körperbildern und -metaphern auch direkt auf unsere Körper – er sagt, auf das Unbewusste unserer Körper – wirken. Das ist ein Punkt, den er von dem zu früh verstorbenen italienischen Analytiker Elvio Fachinelli übernimmt, aber auch von Naomi Klein, die in ihrem Buch „Doppelgänger“ eloquent über die sozialdarwinistischen Aspekte der Wellness-Ideologie geschrieben hat. Es ist damit gemeint, dass die rechte Ästhetik auch auf einer vorbewussten Ebene wirkt; deshalb erreichen diese Bilder auch Menschen, die sie als Argumente ausformuliert rational ablehnen. Insofern verbindet etwa „sexy racism“ die ästhetische Verführung mit einer tiefer wirkenden psychischen Ansprache.Wie kann man diese Prozesse der Faschisierung beschreiben, die sich in Körpern materialisieren und über Körperbilder affektiv wirksam werden?
Ich denke, das hat mit Verunsicherung und Sehnsucht zu tun, ohne dass damit jetzt eine Entschuldigung erfolgen soll. Jeder Faschismus funktioniert, weil er sozusagen in die Seelen hineinreicht: Sehnsucht nach einer glücklichen Liebe, die Fantasie eines sinnvollen Lebens und so weiter. Faschist:innen sprechen die elementarsten menschlichen Bedürfnisse an, und das in einer zunehmend prekarisierten Welt.
Wir erleben gerade eine Welle der Re-Hierarchisierung des menschlichen Werts und einen neu aufkommenden Sozialdarwinismus: Gegenseitige Abhängigkeiten gelten als verpönt, Verantwortung gegenüber Schwächeren wird delegitimiert. Die Angst, selbst nicht konkurrenzfähig zu sein, wird permanent geschürt. Viele junge Männer landen in rechten Internetecken, obwohl sie eigentlich nach Diät-, Fitness- oder Dating-Tipps suchten. Maximilian Krah (AfD, Anm. Red.) zum Beispiel schafft solche Verbindungen in Deutschland mit der Botschaft: „Sei ein Siegfried, nicht ein Soja-Sören“. Echte Männer sind nach dieser Logik rechts, und Soja – als Chiffre für links(-liberal) und ökologisch – schwächt die Muskeln. Ich finde das Wort multifunktional sehr nützlich, denn das ist die Behindertenfeindlichkeit, oder allgemeiner das Trampeln auf den Schwächeren, für Rechtsextreme ganz eindeutig. Einerseits ist die Agression tabubrechend und erlaubnisgebend: Ich kann ein Arschloch sein und Leute klein machen; ich kann mich über Leute mokieren, wie Trump das über einen körperlich behinderten Journalisten gemacht hat. Es erfolgt ein kurz Aufschreien, aber kaum Konsequenzen. Zugleich ist es Ausdruck eines Dominanzgehabes und eng verknüpft mit rassistischen Strategien: Die Demütigung dient der Aufwertung der eigenen Gruppe. Trump stellt sich und seine Leute als „super-genial“ dar und diffamiert etwa Kamala Harris mit Begriffen wie „retarded“ oder „low-IQ“, und das wird dankbar aufgenommen, weil es auch noch dem ärmsten, sozial und gesellschaftlich prekarisierten Weißen – aber eben auch den besser begüterteten, bürgerlich-professionellen Weißen – schmeichelt und ihnen allen ein Gefühl der Erhabenheit über die schwarze Frau an der Spitze der demokratischen Partei gibt. Ich bin im Süden der USA noch in der ausklingenden Jim Crow-Ära geboren und ich weiß, das ist eine intuitive, rassistische Strategie. Sie bemüht immer wieder diese biologistische, und einfach grundfalsche Idee, dass Schwarze dümmer sind als Weiße. So funktioniert Abwertung, und so funktioniert auch Behindertenfeindlichkeit als Provokation und Machtinszenierung zugleich. Sie erlaubt das offene Herabsetzen und schafft durch narzisstische Schmeichelei politische Wirksamkeit.Was hat es damit auf sich, dass sich all diese Rechten als besonders genial wahrnehmen wollen und selbst darstellen? Es ist auffällig, wie viel Raum das heute in ihrer Rhetorik einnimmt.
Diese Fetischisierung des Intelligenzquotienten ist im Grunde eine Strategie, in der Natur angeblich Hierarchien zu finden, die dann wachsende gesellschaftliche Ungleichheiten legitimieren sollen. Die Botschaft lautet: Wir haben das Recht, die gesellschaftliche und globale Elite zu sein, weil wir so genial sind — im Gegensatz zu den Dummen – und zugleich spricht es den Ehrgeiz der Durchschnittsmenschen an. Das alles ist natürlich riesiger Unsinn, aber es funktioniert, weil Menschen sich an diesem angestrebten Ideal der Überlegenheit orientieren. Sie wollen dazugehören, sich selbst optimieren, sich aufwerten — und genau das wird bedient. Man sieht das bei Trump, bei Elon Musk, bei den Tech-Bros in den USA: eine eigentlich klägliche, aber sehr erfolgreiche Strategie, die dann in rechten Internetforen ständig reproduziert wird. Dieser neu aufkommende Sozialdarwinismus, diese neue Obsession mit dem IQ, durchzieht die gesellschaftliche Diskussion inzwischen auf eine Weise, wie ich es vor fünf oder sechs Jahren kaum für möglich gehalten hätte. Und das in einem Land wie den USA, das eigentlich stark anti-intellektuell geprägt ist. Im Kern geht es darum, ein riesiges Umverteilungsprojekt nach oben zu legitimieren — die Kleptokratie, die wir gerade erleben. Die öffentliche Hand wird geplündert, Vermögen konzentriert, und die Erklärung dafür soll eben nicht in massiven Steuererleichterungen oder staatlichen Verträgen oder ererbtem Reichtum liegen, sondern in der Behauptung einer „natürlichen“ Überlegenheit.
Du betonst, dass die Behindertenfeindlichkeit bei der AfD – auch im Vergleich zu anderen extrem rechten Parteien weltweit – besonders stark ausgeprägt ist. Und du ziehst Linien zurück zur Explosion eugenischen Denkens in der Weimarer Republik nach dem Ersten Weltkrieg und natürlich in der Zeit des Nationalsozialismus. Es scheint dir hier auch um eine deutsche Spezifik zu gehen.
Im „Dritten Reich“ ging es nicht nur um Rassenhass gegen angebliche „Außenstehende“, sondern auch um Rassenangst. Um das, was ich zuvor als Sorge über die Imperfektion im „Eigenen“ ausgeführt habe. Diese Imperfektion sollte ausgetilgt werden – wie die Historikerin Gisela Bock es auf den Punkt brachte: Die gelobte „Herrenrasse“ war noch nicht das real existierende deutsche Volk, sondern musste erst hervorgebracht werden. Die Menschen, die in den „Euthanasie“-Programmen und darüber hinaus ermordet wurden, und die Menschen, die zwangssterilisiert wurden: Das alles wurde hauptsächlich mit den Diagnosen psychischer Krankheit oder (angeblichem) „Schwachsinn“ legitimiert. Es kursierte im Deutschland der Zwischenkriegszeit die Fantasie, dass 20, sogar 30% der Mitbürger:innen so „suboptimal“ waren, dass sie keine Kinder kriegen sollten. Da waren theatralisch ausgemalte Untergangsszenarien – Warnungen, dass das Überleben der Nation auf dem Spiel stehe – am Werk. Es funktionierte fast wie eine zweite Dolchstoß-Legende – man könne angesichts solch eines unerträglichen Ausmaßes an Imperfektion gar nicht mehr Stolz empfinden, Deutsch zu sein.
Bei der AfD und ihrer Fixierung auf das Thema Behinderung zeigt sich nun erneut eine klassische Mischung aus Ekel-Stimulierung und Ökonomie-Rhetorik: von den Debatten über einen Zusammenhang zwischen angeblich „inzestuösen“ Ehen (bei geflüchteten Menschen) und kognitiven Beeinträchtigungen, also letztlich: eugenistische Vererbungslehre, bis zu Josef Dörrs (einem AfD-Politiker aus dem Saarland, Anm.Red.) Vergleich von Down-Syndrom mit einer ansteckenden Krankheit. Parallel dazu das ständige Pochen auf Kosten, das Insistieren, dass angemessene Unterstützung für Menschen mit Behinderung einfach zu teuer sei. „Das kostet zu viel“ — die Botschaft lautet, Menschen mit Behinderung nähmen anderen etwas weg. Und das Angebot an die Anhänger:innen ist: Du kannst zu den „Normalen“ gehören, aber dafür muss eben aussortiert werden. Die neue Rechte will damit nicht einfach zurück zu einem konservativen Traditionalismus, sie will vorwärts in eine illiberale Zukunft und den Sozialdarwinismus weiter salonfähig machen.Du sprichst vom Kampf der AfD gegen Inklusion daher auch nicht als Backlash, sondern als „Frontlash“ — warum ist dieser Diskurs so mobilisierend?
Ich habe lange gegrübelt, was das soll; warum in jedem regionalen Ableger dieser Partei immer wieder Programme gegen Inklusion aufgelegt werden. Ist das wirklich eine Verunsicherung — unsere Kinder schneiden in den PISA-Studien nicht mehr so gut ab, auf wen schiebt man das? Oder ist es, wie bei Trump, eine Schmeichelei: „Wenigstens sind eure Kinder nicht so langsam“? Unter anderem durch die Arbeit von Saskia Müller über die Lehrerschaft im Nationalsozialismus – die den Kindern Verachtung gegenüber Schutzlosen regelrecht anerzogen hat – , und durch die Menschen, die in meinem Buch „Eugenische Phantasmen“ als wunderbare, beharrliche linke Kritiker:innen auftauchen und welche schon in den 1970er-1980er Jahren die Pioniere der Integration und Inklusion waren, habe ich viel über die faschistische Beschäftigung mit Behinderung nachgedacht, also warum Rechtsextreme Behinderung wieder unsichtbar machen wollen. Will man den möglichen Erwerb von Empathie und Solidarität bei Kindern verhindern? Wenn Menschen mit Behinderung in Förderschulen weggeschoben werden, sieht man sie ja nicht — man lernt nie den Umgang mit den Verletzlichkeiten oder Unterstützungsbedürfnissen anderer und übernimmt auch keine Verantwortung – und man lernt auch nichts über deren Stärken und Gaben. Ich meine, alle Studien zeigen, dass ausnahmslos alle Kinder profitieren, wenn Inklusion gut gemacht wird. Aber jetzt wird es ja, mit beeindruckenden Ausnahmen, allzuoft entweder unzureichend oder schlecht gemacht.
Dass ich den Kampf gegen Inklusion als präemptiven „Frontlash“ bezeichne, kommt daher, dass es ja gar keine vollzogene Inklusion gibt, gegen die man sich wendet. Die AfD weiß, dass die „Altparteien“ ambivalent gegenüber Inklusion sind und dass es in Deutschland ein weitverbreitetes, unhinterfragtes Festhalten am dreigliedrigen Schulmodell gibt. Sie weiß, dass sie deshalb offene Türen einrennt, wenn sie den Tabubruch wagt. So hetzt man gegen Inklusion, auch weil das in Deutschland historisch tief verwurzelt ist und sich daher politisch gut instrumentalisieren lässt.Du zeigst sehr überzeugend, dass es eine besondere Geschichte der Behindertenfeindlichkeit in Deutschland gibt, die sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg herausbildet und bis heute nachwirkt. In seinem bereits erwähnten Nachwort macht Toscano aber auch für die US-amerikanische Geschichte einen Zeitpunkt aus, indem die Zuschreibung von Behinderung oder die Zurückweisung dieser Zuschreibung eine große Rolle spielten, und zwar bei dem Zugang zu Bürgerrechten für schwarze Menschen nach der Abschaffung der Sklaverei.
Es gibt Historiker:innen in den USA, die zu dem Doppelthema Rassismus und Behinderung arbeiten. Davon ausgehend sehe ich den stärksten Nachhall in dem, was „The Bell Curve“ genannt wird. Das ist der Titel eines rassistischen Buchs von Richard Herrnstein and Charles Murray von 1994 – Quinn Slobodian hat in seinem neuen Buch „Hayek’s Bastards“ ein ganzes Kapitel zu der gegenwärtigen Wiederkehr von deren Thesen verfasst. Dahinter steht die Idee, die wir schon angesprochen haben, dass nichtweiße Menschen eben aufgrund ihrer niedrigeren Intelligenz sozial schwächer seien. Das ist die amerikanische rassistische Obsession und natürlich eine Lüge, sie ist wissenschaftlich auch komplett unhaltbar. Und trotzdem wird es immer wieder aufgewärmt und neu aufbereitet, weil das dem Narzissmus der Weißen schmeichelt und zugleich von der momentan verschärften Umverteilung des Reichtums von Unten nach Oben ablenkt.
Andererseits würde ich sagen, dass Behindertenfeindlichkeit in den USA anders funktioniert und zwar, weil bis vor einigen Jahren eine viel sentimentalere Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung und ihren Familien gepflegt wurde. Die liebevollen, sich einsetzenden Eltern wurden viel anrührerender dargestellt und gestützt. Natürlich leisten sie auch Übermenschliches, sind gesellschaftlich und finanziell oft allein gelassen, das will ich nicht verklären, aber die gesellschaftliche Einstellung dazu ist anders. Das kommt in Teilen sicher aus dem evangelikalen Christentum, unter anderem weil das Phänomen der Schwangerschaftsabbrüche aufgrund pränataler Diagnosen von der Anti-Abtreibungsbewegung geschickt als Einfallstor benutzt wurde, um das Abbruchsrecht insgesamt als zutiefst unmoralisch zu stigmatisieren; da wurden Eltern, die sich für ihre Kinder mit Beeinträchtigung entschieden, als heroisch gefeiert. Mit Trump scheint es aber nun auf einmal auch hier einen radikalen Shift zu geben. Auch bei Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr.s MAGA/MAHA-Kampagne (Make America Healthy Again, Anm. der. Red.) – perfiderweise just inmitten der zur Schau getragenen Sorge für die „Traumata“ der Eltern von Kindern mit Autismus – herrscht jetzt ein neuer, Behinderung erneut stigmatisierender und zugleich sozialdarwinistischer Ton. Wieder mal ein postmoderner Mischmasch. Das Problem in Deutschland war ein anderes. Nach 1945 blieb diese Lüge, diese Fiktion, dass Behinderung vor allem vererbt wird, bis in die 70er Jahre hinein dominant. Während die Familien weiter mit Scham behaftet waren, wenn sie ein behindertes Kind hatten, gab es für die Täter:innen, die Diagnosen ausgestellt, sterilisiert und gemordet hatten, Unterschriftenlisten und sie wurden weiter als Koryphäen gefeiert. Erst mit den neuen sozialen Bewegungen, mit dem mutigen Einsatz marxistischer Behindertenpädagog:innen im Westen und dissidenten Christ:innen im Osten, der Selbstorganisierung und Bewegungen von Menschen mit Behinderungen wurde das anders. Das dauerte 40 Jahre in Deutschland.Der „faschistische Körper“ wird bei dir psychoanalytisch vor allem über Affekte, Begehren, Projektionen erklärt. Aus materialistischer Sicht würde man einwerfen, Körper sind ja auch in Produktions- und Reproduktionsverhältnisse eingebunden und werden von diesen hervorgebracht — wie greifst du die materielle Dimension in deiner Arbeit auf?
Ich glaube hier liegt womöglich einer der Schlüssel, um die Verschiebung vom Fokus auf den starken Körper, wie er den historischen Faschismus ausgezeichnet hat, zur Fetischisierung der Intelligenz, wie sie heutige rechte Bewegungen prägt, zu verstehen. Erstens brauchte der Faschismus der 1930er/40er Jahre im industriellen Kapitalismus – und nicht zuletzt auf den Schlachtfeldern – starke, zur körperlichen Arbeit fähige Menschen. Heute sehen die rechten Eliten viele Körper als ökonomisch überflüssig an. Die groteske Aussage von Curtis Yarvin über die Herstellung von Biodiesel aus „unproduktiven“ Menschen oder seine Fantasie, man könne sie in Käfige einsperren und mittels Virtual Reality ruhig stellen, zeigt diese Verschiebung an. Auch wenn wir jetzt an verschiedene Kriegszenarien in der Welt denken, ist da etwas in Bewegung geraten. In diesen hochtechnologisierten Kampffeldern benötigt auch der Faschismus möglicherweise nicht im selben Maß klassische Bilder der soldatischen Männlichkeit.
Zweitens die Care-Frage: Produktions- und Reproduktionsverhältnisse sind zentral. Wo ich einerseits sage, Körperlichkeit wird zunehmend überflüssig – sogar die vielen prekären, illegalisierten Menschen, die heutzutage die Agrarwirtschaft, die Bauarbeiten, das reibungslose Funktionieren der Lieferketten ermöglichen, sollen diesen Fantasien nach in den kommenden Jahren durch Roboter ersetzt werden – denke ich andererseits: Das stimmt nur zum Teil! Für Care werden Körper noch gebraucht. Das kann eigentlich ein Roboter nicht so machen wie ein Mensch. Es gibt ja so viel, was wir herstellen oder in das wir Geld stecken, was wir gar nicht nötig haben. Was wir brauchen, ist mehr Care. Sie sollte besser bezahlt werden, besser gewürdigt werden und es sollte mehr davon geben. Und wenn ich zugleich sehe, dass Krankheiten wie Masern, die eigentlich verschwunden waren, insbesondere Dank der Impfgegner:innen wieder zunehmen; wie sich Armut und Hunger in den USA ausbreiten, wie alle Klimaschutzmaßnahmen zurückgenommen werden und zugleich für die KI-Entwicklung Unmengen an fossiler und nuklearer Energie verbraucht wird, dann habe ich das Gefühl: Die Trumpianer wollen die Apokalypse bewusst beschleunigen – und schwören ihre Anhänger:innen bereits jetzt darauf ein. Man sieht das überall, in der Stadt wie auf dem Land: Schlangestehen an den Tafeln, wachsende Not, zerstörte Umwelt. Es ist eine Politik, die den Untergang nicht nur in Kauf nimmt, sondern aktiv vorantreibt.Es gibt von Daniel Keil einen Artikel, der beschreibt: Eigentlich geht es diesen Akteur:innen darum, die Zerstörung selbst in Wert zu setzen. Also, es ist ein Programm, in dem kurzfristige Profite erzielt werden, indem man selber auf die Zerstörung wettet, und darin geht man eine Allianz mit der fossilen Industrie ein, die Sorge hat, aufgrund der im Raum stehenden ökologischen Transformation ihre Investments zu verlieren. Das Interessante ist aber, dass du zeigst: Auch als politisches Programm kann das ein Versprechen geben. Und das ist: Du kannst dazugehören und musst dann an deinem Leben nichts grundsätzliches ändern, wenn du die Zerstörung akzeptierst. Es ist eine der schockierendsten Stellen in deinem Buch, wo du Schulklassenbesuche in NS-Gedenkstätten schilderst und beschreibst, dass die Guides verzweifeln, weil sie den Kindern nicht mehr vermitteln können, dass das entsetzlich und moralisch falsch war, dass die behinderten Menschen ermordet wurden, weil die sagen: Betrifft mich nicht, ich bin nicht gemeint, ich bin gesund. Und wenn ihnen nahe gelegt wird, Behinderung könne jedem, eben auch ihnen passieren, dann ist der Gedanke an das Abhängig-Werden offensichtlich so bedrohlich, dass manche lieber gleich sterben würden, als sich selbst als schwach zu erleben.
Ich denke sehr viel über die Frage der Identifikation nach – bzw. über Identifikationsprozesse. Deshalb beginne ich in meinem Buch „Eugenische Phantasmen“ – am Ende der Einleitung – mit einem Text von Adorno, „Erziehung nach Auschwitz“. Da gibt es diesen einen bemerkenswerten Satz zum Holocaust: „Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, daß so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können.“ Und zugleich ist dies der einzige Text von Adorno, in der er – en passant – das Thema der NS-„Euthanasie“ anspricht: „Es wäre etwa auf die Geschichte der Euthanasiemorde einzugehen, die in Deutschland, dank des Widerstands dagegen, doch nicht in dem ganzen Umfang begangen wurden, in dem die Nationalsozialisten sie geplant hatten.“ Allerdings wandte er dann sofort pessimistisch und bekümmert ein: „Der Widerstand war auf die eigene Gruppe beschränkt, gerade das ist ein besonders auffälliges, weitverbreitetes Symptom der universalen Kälte.“ Die relevanten zwei Worte hier sind „eigene Gruppe“. Für Adorno waren die Juden jene „anderen“, mit denen sich nichtjüdische Deutsche „unfähig zur Identifikation“ zeigten; er nahm voller Trauer an, dass sich Widerstand gegen die Krankenmorde regte, weil die Opfer Teil der „eigenen Gruppe“ (also nichtjüdische Deutsche) waren. Er ging also von einem Kontrast aus zwischen den emotionalen Dynamiken der „Euthanasie“ und denen des Judenmords. Aber im Rest des Buches führe ich dann aus, das es komplizierter ist und sich das gerade beim Umgang mit Behinderung zeigt.
Verstand man Behinderte am besten als Insider der damals vorherrschenden Gruppe, und das war (wie Adorno niedergeschlagen unterstellte) der einzige Grund dafür, dass jemand es riskierte, sich offiziell für sie einzusetzen? Oder waren Menschen mit Behinderung doch auch verschmähte „Andere“? Zudem: Wenn nichtbehinderte Deutsche Menschen mit Behinderungen tatsächlich zu „ihresgleichen“ zählten, empfanden sie für sie Mitleid? Oder eher Abscheu? Nach meiner Einschätzung trägt gerade die zwiespältige Einstellung zu den Menschen, die aufgrund kognitiver oder psychischer Beeinträchtigungen zu Opfern wurden, viel zur Erklärung der Missachtung und Grausamkeit bei, der sie regelmäßig ausgesetzt waren. Dass Menschen mit geistigen Behinderungen allzu oft als entbehrliche „sie“ herabgewürdigt und verächtlich gemacht wurden, dass sich ihre Förderungs- und Pflegebedingungen aber leider nicht verbesserten, als man sie – gerade nach dem verlorenen ersten Weltkrieg – als beschämenden, ärgerlich großen Teil von „uns“ zu sehen begann, ist eines der entsetzlichen Rätsel, um die es in dem Buch dann geht. Um jetzt den Bogen zurück zum „neuen faschistischen Körper“ zu schlagen: Christoph Schneider, ein Guide in der Gedenkstätte Hadamar, hat in einem Artikel 2021 sehr treffend gefragt: Können sich Kinder heutzutage mit Menschen mit Behinderung, ob die verfolgten und ermordeten in der Vergangenheit oder die Mitmenschen in der Gegenwart, identifizieren – oder nicht? Es geht um diese Kapazität der Identifikation, die Fähigkeit, sich in die Lage anderer hineinzuversetzen. Das ist etwas Elementares, zutiefst Menschliches – und genau das wird heute aktiv bekämpft. Alle solidarischen Bande werden angegriffen: Denken wir etwa an Menschen mit Migrationshintergrund oder unsicherem Aufenthaltsstatus in den USA. Selbst wenn man sie nur davor warnt, dass das ICE (die brutale, militärisch auftretende Abschiebebehörde in den USA, Anm. Red.) auf dem Weg zu ihnen ist, gilt das juristisch bereits als „harboring“, als Beherbergen – und ist strafbar. Also diese Akte der Solidarität, die sich da in vielfältiger Weise dagegen stellen, die sind so kostbar. Empathie und Solidarität werden selbst kriminalisiert. Es ist ein Krieg gegen die Empathie, ich kann das gar nicht anders beschreiben. Wir erleben einen Krieg gegen die existenzielle Sicherheit, gegen die Wahrheit und die Wahrheitssuche (dafür stehen ja Schulen und Unis und wissenschaftliche Forschung, aber auch Gerichte und Medien), aber vor allem ist es jeden Tag ein Krieg gegen die Kapazität, mitmenschlich zu sein.Wenn – wie du sagst – der behindertenfeindliche Diskurs und der Kampf gegen Inklusion dazu dienen, Solidarität und Empathie zu verlernen, und das eben auch nur allzu gut zur bislang herrschenden neoliberalen Politik passt: Was folgt daraus für antifaschistische Gegenstrategien?
Jede:r muss seinen/ihren/deren eigenen Weg finden, etwas, was zum eigenen Charakter und dem eigenen Skillset passt: Manche machen eloquenten Protest, der anderen Mut macht, manche zetteln Gerichtsprozesse an gegen Trump und seine Schergen, manche unterstützen demokratische, linke Politik. Andere geben ihr Geld oder ihre Wohnung her, damit Menschen untertauchen, geschützt werden, Rechtsanwält:innen bezahlt werden, dass Leute zu essen haben, zu benötigter Gesundheitsversorgung kommen. Max Weber hat einen Kontrast herausgearbeitet zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, aber ich denke, wir brauchen beides, das eine ist das Supplement zum anderen. Das heisst: Protestieren ist wichtig, aber protegieren auch. Letzteres passiert eher im Verborgenen, ist aber nicht weniger zentral. Ein Bekannter, der in der Gewerkschaftsarbeit aktiv ist, hat mir kürzlich einen sehr treffenden Text von ihm zugeschickt. Er schrieb, ich paraphrasiere: Panik und Verzweiflung sind genau das, was sie – die Trumpist:innen – uns einflößen wollen. Die entscheidende Frage ist also: Was wollen sie, dass wir nicht fühlen? Und genau das sollten wir bewusst fühlen: Lebensfreude. Selbstbewusstsein. Furchtlose Kreativität. Und eine unerschütterliche Hoffnung auf eine Zukunft, in der wir gewinnen.
* Das Gespräch führten Johanna Bröse und Morten Paul. Dagmar Herzog ist Distinguished Professor of History am Graduate Center der City University of New York. Sie unterrichtet und schreibt zur Sexual- und Geschlechtergeschichte in der Moderne, Nationalsozialismus und Holocaust, Geschichten des Disability-Aktivismus und der Care-Arbeit, Psychiatrie und Psychoanalyse. Publikationen u.a.: Die Politisierung der Lust (Siedler 2005; Psychosozial 2021); Sexuality in Europe (Cambridge 2011); Cold War Freud (Suhrkamp 2023, Rezension „Kalter Krieg auf der Couch“ von Morten Paul, Ausgabe #71); Eugenische Phantasmen (Suhrkamp 2024); Der neue faschistische Körper (Wirklichkeit Books 2025).