Neurodivergente Bewusstwerdung

- Buchautor_innen
- Jodie Hare
- Buchtitel
- Autismus ist keine Krankheit
- Buchuntertitel
- Politik für eine neurodiverse Gesellschaft
Aus einer sozialistischer Perspektive erkundet der schlanke Band, wie Neurodivergenz zum Ausgangspunkt radikaler Gesellschaftskritik werden kann.
Mitte der 1990er Jahre formierte sich schrittweise die Neurodivergenz-Bewegung. Sie bezog sich auf Erfahrungen der früheren Behinderten- und Anti-Psychiatrie-Bewegung, entwickelte diese jedoch maßgeblich weiter. Statt Neurodivergenz weiterhin zu pathologisieren, sollte sich die Sichtweise auf Gehirnstrukturen, Wahrnehmungen und Denkmuster sowie Persönlichkeit und soziales Verhalten erweitern. Daraus erwachsen nicht allein sensible und wertschätzende Umgangsweisen untereinander, sondern neue Perspektiven darauf, wie Gesellschaft emanzipatorisch transformiert werden kann. Die Vernetzungsmöglichkeiten, die das Internet bot sowie die Informationsverbreitung durch soziale Medien ermöglichten es, das Thema Neurodivergenz weit zu streuen. Neuere Erkenntnisse aus den Kognitions- und Neurowissenschaften, ebenso wie eine gewachsene Sensibilität für Diversität, unterfütterten die Argumente der Neurodivergenz-Bewegung. In Verbindung mit psychischen Erkrankungen im beschleunigten, normierenden, staatlichen Kapitalismus wird offensichtlich, dass das Thema viele Menschen bewegt.
Jodie Hares fokussiertes und gut lesbares Buch zum Thema ist Teil dieser Debatten und Entwicklungen. Es knüpft unter anderem an Robert Chapmans aktuelle Publikation „Empire of Normality – Neurodiversity and Capitalism“ (2023) und Nick Walkers „Neuroqueer Heresies“ (2021) an, die an dieser Stelle ebenfalls zu empfehlen sind. Die Autorin betont, dass Neurodivergenz nicht mit Behinderung gleichzusetzen ist. Viele autistische, ADHS-, schizophrene oder lernbehinderte Menschen sind „gut integriert“, das heißt: gezwungen, sich mit ihren spezifischen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen an eine Gesellschaft anzupassen, die nicht nach ihren Bedürfnissen strukturiert ist.
Andererseits leiden zahlreiche neurodivergente Menschen unter den gesellschaftlichen Strukturen, an die sie sich adaptieren sollen. Fragwürdige Pseudo-Therapien wie die Applied Behaviour Analysis verschärfen diesen Zwang eher, als dass sie abweichende Personen „reparieren“ könnten. Deren Ansatz besteht darin, das Verhalten insbesondere autistischer Personen den allgemeingesellschaftlichen Erwartungen entsprechend zu konditionieren. Wenn eine neurotypische Mehrheit verschiedenen neurodivergenten Minderheiten ihre Verhaltensstandards und Abläufe aufzwingt, kann von einer neuronormativen Dominanz gesprochen werden. In Verbindung mit einer staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsform – in der übertriebene individuelle Leistungsanforderungen gestellt, stringent geregelte Abläufe und normierte soziale Konventionen gesetzt werden –, ist Neuronormativität ein Aspekt moderner Herrschaftsordnung.
Von der Pathologisierung zum Neurodivergenz-Paradigma
Zunehmend relevant wird die Unterdrückungsform mit der nachweisbaren Zunahme psychischer Erkrankungen, die nicht vorrangig, aber insbesondere neurodivergente Menschen betreffen. Hare weist auf Studien hin, in denen nachgewiesen wird, dass neurodivergente Menschen übermäßig stark von Armut und Jobverlust, Obdachlosigkeit und Drogenmissbrauch betroffen sind, die zu weiteren sozialen Schwierigkeiten, psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie einer höheren Bedrohung durch Polizeigewalt führen. Die Covid-19-Pandemie hat diesen Missstand laut Hare nochmals verschärft, aber auch ans Licht gebracht, dass systematisch Bewertungen von erhaltenswertem Leben im Gesundheitsbereich, ebenso wie in der staatlichen Sphäre vorgenommen werden.
In diesem Zusammenhang positioniert sich die Autorin klar antikapitalistisch, insofern die Verknappung von Ressourcen (hinsichtlich Pflege, medizinischer Versorgung, Sorgearbeit usw.) Ausdruck der eklatanten und zunehmenden Ungleichheit in der Klassengesellschaft ist. Statt Neurodivergenz vorrangig nach medizinischen Modellen zu betrachten und als Abweichung einer (ohnehin fiktiven) kognitiven, gesundheitlichen und sozialen Norm zu behandeln, gilt es mit dem Pathologie-Paradigma zu brechen. Zugleich bedeutet dies, Behinderungen nicht zu leugnen, sondern sie ernst zu nehmen:
„Viele Anhänger*innen der Neurodiversitätskampagne versuchen, dieses Narrativ zu bekämpfen, indem sie stattdessen ein soziales Modell der Behinderung vertreten. Dieses betrachtet Behinderung als soziales Konstrukt: etwas, was durch die Weigerung verursacht wird, sämtliche Mitglieder der Gesellschaft in diese zu integrieren. Behinderung wird nicht als individuelles Versagen gesehen, sondern als komplexe Frage, die durch die soziale Umgebung bestimmt ist. Daher ist es die Aufgabe der Gesellschaft, herauszufinden, wie sie am besten mit Behinderung umgehen und Veränderungen vornehmen kann, die dafür sorgen, dass niemand an der Teilhabe am sozialen Leben gehindert wird.“ (S. 29)
Gegen idealisierende Verwertbarmachung
Wie gesagt sind Neurodivergenz (als spezifische Ausprägung von Gehirnstrukturen und damit verbundenen Persönlichkeitsformen) und psychische wie mentale Behinderung nicht gleichzusetzen, doch besteht eine Korrelation. In der Endphase des untergehenden Neoliberalismus weisen insbesondere Social-Media-Plattformen soziale und individuelle Identitäten zu und regen zu ihrer Inszenierung an. Auf Innovation setzende Unternehmen beuten diese anhand ihrer jeweiligen Besonderheiten verstärkt aus. In Hinblick auf neurodivergente Menschen geschieht dies auf dreierlei Weise: Erstens geht es darum, die Bedingungen anzupassen, damit sie sich in den kapitalistischen Verwertungsprozess integrieren und „normal“ lohnarbeiten können. Zweitens stellen dieser Anpassungsbedarf sowie die Sektoren Pflege, Gesundheit und Bildung ihrerseits Bereiche dar, die sich kommerzialisieren lassen. Drittens streben Unternehmen, insbesondere in der Kreativ-, Technologie- und Wissenschaftsbranche danach, die vermuteten Spezialfähigkeiten einiger neurodivergenter Gruppen gezielt auszubeuten. Es ist kein Zufall, dass neurodivergente Personen überproportional Jobs in Wissenschaft, Kunst und Design oder Programmierung finden. Insofern diese Branchen für sie Nischen darstellen können, die ihnen gesellschaftliche Anerkennung, Wertschätzung und materielle Sicherheit geben, ist dagegen nichts einzuwenden. Tatsächlich handeln entsprechende Unternehmen jedoch nach der Prämisse einer vertieften Ausbeutung von Spezialfähigkeiten, für die sie auch bereit sind, in Anpassungsmaßnahmen für ihre neurodivergenten Mitarbeitenden zu investieren.
Die Neurodivergenz-Bewegung kritisiert diese Verwertbarmachung von neurodivergenten Menschen, insofern sie nur einem Bruchteil von ihnen zu Gute kommt. Der Idealisierung weniger besonders begabter neurodivergenter Personen steht eine große Anzahl Menschen gegenüber, die über keine kapitalistisch verwertbaren Spezialfähigkeiten verfügen – und diese auch nicht haben müssen, um gesellschaftlich teilzuhaben, anerkannt zu werden und gegebenenfalls Unterstützung in Anspruch nehmen zu dürfen. Die fragwürdige Idealisierung einiger neurodivergenter Personen unterliegt damit also einer Leistungs- und Verwertungslogik sowie gesetzten Normen, die aufgrund ihres Herrschaftscharakters grundlegend zu kritisieren sind. Ebenso wenig hören damit das paternalistische Mitleid oder die Dämonisierung neurodivergenter Personen, als „anders“ Markierte auf. Weiterhin werden mit dieser „Integration“ die sozialen, gesundheitlichen und psychischen Probleme verschleiert, unter denen zahlreiche Personen in der staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsform leiden. Bedauerlicherweise zeigt sich die Relevanz des Themas nicht zuletzt darin, dass es im Zuge der globalen rechtspopulistischen Reaktion aktiv relativiert und verschwörungsmythologisch missbraucht wird. Die ableistische Diskriminierung tritt somit in neuem Gewand auf.
Neurodivergenz betrifft alle
Schließlich ist festzuhalten, dass zahlreiche Anliegen der Neurodivergenz-Bewegung nicht nur die Lebenssituation verschiedener neurodivergenter Minderheiten verbessern würden, sondern ebenso einem Großteil neurotypischer Menschen zugutekämen. Dazu gehören: auf variable Lerntypen abgestimmte Bildungsformate, Lärmreduzierung auf Straßen, die Dämmung von grellem Licht zu Werbezwecken, Möglichkeiten, eigene Arbeitsabläufe zu schaffen und sich Pausen zu nehmen, nach Bedarf orientierte Pflege- und Unterstützungsleistungen, ein respektvoller und sensibler Umgang miteinander, die Wertschätzung individueller Fähigkeiten und Sichtweisen und vieles mehr. Neben dem Engagement sensibler Personen, die in Psychiatrien und Einrichtungen mit behinderten Menschen arbeiten, gibt es mittlerweile zahlreiche Vereine, in denen sich neurodivergente Personen selbst organisieren. Orientiert an der queeren Bewegung fand so etwa 1993 der erste „Mad Pride Day“ in Toronto statt, der 2013 erstmalig in Berlin durchgeführt wurde. Jodies Hares dünnes Buch ist eine geeignete Einführung in das Themengebiet „Politik der Neurodiversität“. Daher muss auch Michael Schiffmann für seine zügige Übersetzung gedankt werden.
Autismus ist keine Krankheit. Politik für eine neurodiverse Gesellschaft. Übersetzt von: Michael Schiffmann.
Unrast Verlag.
ISBN: 978-3-89771-631-5.
200 Seiten. 18,00 Euro.