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Der dünne Schleier der Menschlichkeit

Buchautor_innen
Kurt Tallert
Buchtitel
Spur und Abweg

Das schriftstellerische Debüt zeichnet in leisen Tönen die Verfolgungsgeschichte einer Familie durch die Nazis nach.

Als ich erfuhr, dass die biographische Erzählung „Spur und Abweg“ von Kurt Tallert zum Teil in Bad Honnef und Bonn und somit ganz in der Nähe meines Wohnortes stattfand, wurde ich neugierig. Kurt Tallert beschreibt den Lebensweg seines Vaters Harry Tallert, der als „Halbjude" von den Nationalsozialisten schon als Jugendlicher verfolgt wurde. Mit 17 Jahren deportierte ihn die Gestapo in ein Lager. Er überlebte und blieb nach der Befreiung durch die Alliierten trotz all der erlebten Schrecken in Deutschland, wurde in der Nachkriegszeit Journalist und war von 1965 bis 1972 Abgeordneter des deutschen Bundestags für die SPD. Tallert erzählt auch einen Teil seines eigenen Lebens, die Geschichte eines Kindes der 80er Jahre, welches in zweiter und nicht dritter Generation von dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte betroffen ist.

Der zunächst etwas rätselhaft anmutende Titel des Buches stellt sich als sehr stimmig heraus: Kurt Tallert besucht 2018 das damals vor wenigen Tagen teilweise abgebrannte Elternhaus in dem der Schreibtisch seines Vaters noch unversehrt stand und in dessen Schubladen Post- und Grußkarten, Briefe und Notizen seines Vaters erhalten geblieben sind. Spuren aus dem Leben seines Vaters die zu Szenen, Situationen und Bildern werden, welche den Menschen Kurt Tallert bereits als Kind geprägt haben und teilweise in ihrer Gesamtheit erst jetzt ans Licht kommen: Gespräche mit der Mutter, Briefe, Gedichte, Mitschriebe, Texte und Erinnerungen, die Harry Tallert selbst hinterlassen hat, Briefe und Erinnerungen von Großeltern und anderen Verwandten. Dabei stößt er immer wieder auf Abwege und Absurditäten, die so eigentlich nie hätten geschehen dürfen – die aber leider die Realität der NS-Zeit ausmachten, in der sein Vater als Kind und Jugendlicher lebte.

Schatten der Nazis

Kurt Tallert beschreibt, wie er als Kind nach und nach von der Vergangenheit seines Vaters und seiner Familie erfuhr und wie er als Erwachsener, der heute selbst Vater ist, die Bruchstücke seiner Kindheit durch neue Erkenntnisse zusammensetzen kann. Im Kapitel „Ettersberg – 1992“ beschreibt er seine kindlichen Gedanken bei einem Besuch des Konzentrationslagers Buchenwald zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder:

„Ich lernte an diesem Tag den Nationalsozialismus als das Gegebene kennen, dessen Kehrseite das Genommene war. Vergangenheit und Gegenwart vermischten sich vor dieser als Rechteck empfundenen Landschaft. Die Leute, die Asylantenheime anzündeten und die meine Eltern ‚Neonazis‘ nannten, die untätigen Zuschauer, die untätige Polizei, all das fügte sich in das große Bild ein, das ich hier zum ersten Mal betrachtete.“ (S. 37)

So führt Tallerts Suche bis hin zu den tiefsten menschlichen Abgründen des Holocaust, die bis heute unauslöschliche Spuren hinterlassen haben. Seine Suche nach historischen Fakten und persönlichen Erinnerungen verwebt Kurt Tallert mit Fragen nach der eigenen Identität, der seiner Familie und nach dem Trauma seines Vaters – einem Trauma, das aus dessen Verfolgung als „Halbjude“ in der NS-Zeit erwuchs und auch in der Bundesrepublik immer wieder aufflammte, wodurch Vergebung schwierig, wenn nicht gar unmöglich wurde:

„Nachdem Herbert Wehner bekanntgab, daß das Präsidentenamt beim Bundesamt für Verfassungsschutz durch den ebenfalls in der NS-Zeit tätig gewordenen Günter Nollau besetzt werden sollte, meldete sich der im Dritten Reich von der Gestapo verfolgte Abgeordnete Harry Tallert zu Wort: Ihm werde ‚speiübel‘, wenn er mit ansehen müsse, daß immer wieder Leute in hohe Positionen eingeschleust werden, die ihn an die übelsten Zeiten der deutschen Vergangenheit erinnern, ob es sich nun um Hahnemann, Nollau oder wen auch immer handele. Ich habe dazu eine Notitz vom 17. Januar 1994 gefunden: Der einzige, der seinerzeit gegen Nollaus (des ehemaligen SD-Mannes) Berufung lauthals in der SPD-Fraktion protestierte, war ich. Warum zum Teufel müssen immer noch frühere NSDAP-Leute für solche Jobs nominiert werden, noch dazu von der SPD, wollte ich wissen.“ (S. 166)

Zitate aus Schriftstücken und Sprachaufnahmen seines Vaters, Auszüge aus Dokumenten, Erzählungen seiner Mutter, Gedichte und Briefe – unter anderem auch aus der Gefangenschaft – fügen sich in Kurt Tallerts Buch mosaikartig zu einem großen Ganzen zusammen. Nach und nach wird sichtbar, wie weit die grausamen Erlebnisse seines Vaters ihre Kreise ziehen und welches Ausmaß die Taten der Nationalsozialisten für den einzelnen Menschen und seine Familie hatten – Auswirkungen, die über Jahrzehnte und Generationen hinweg fortbestehen. Tallert vereint historische und biographische Fakten mit emotionalem Erleben, so dass eine Trennung zwischen beidem nicht möglich scheint und vielleicht auch gar nicht möglich sein soll.

Der Autor begibt sich nicht nur auf geistige Spurensuche, er geht ihnen auch wortwörtlich nach:

„Kam ich hier nur einen Hauch näher an das heran, was mein Vater hier gemacht, gesehen, erlebt hatte? Als ich mich langsamen Schrittes zwischen den Überresten der Krankenbaracke und eines Wachtturms in dem kleinen Waldstück hin und her bewegte, fielen mir die Beschreibungen der Schönheit der natürlichen Umgebung in den Briefen meines Vaters ein. Immer wieder zogen dabei die Berge seine Aufmerksamkeit auf sich: ‚Der Schnee liegt nun auf den Bergen und auch hat die Natur ihr Winterkleid angelegt für mich, da ich die Berge nicht kenne, ist es alles besonders schön. Noch schöner wäre es allerdings unter anderen Umständen. (12.12.1944)‘“ (S. 175)

Eine Lektüre die Pflicht sein sollte

Trotz der Schwere des Themas schafft Kurt Tallert es mit seinem Schreibstil, seine Leser*innen über die schwer erträglichen Einzelheiten des Lebens während des Nationalsozialismus und der eigenen Betroffenheit insofern hinwegzuhelfen, als dass man seinen Text dennoch gerne liest. Es fühlt sich an, als ob man Tallert ein Stück weit auf seinem Lebensweg begleiten darf welchen er immer mit hoher Eloquenz und einer gewissen Leichtigkeit beschreibt.

„Spur und Abweg“ ist ein Buch, das intelligente, nachdenkliche, philosophische und vor allem leise Töne anschlägt. Beim Lesen wird einem bewusst, wie dünn der Schleier zwischen Realität, Vernunft, Menschlichkeit auf der einen und Wahnsinn und Unmenschlichkeit auf der anderen Seite ist; wie wenig es braucht, um ihn beiseite zu ziehen und eine andere, grausame Realität zu erschaffen, die dann nicht mehr nur bequem vom Sessel aus mit intellektuellem Abstand in Büchern nachzulesen oder in Schwarz-Weiß-Dokumentationen zu sehen ist. Wie real – und keineswegs unwahrscheinlich – die Möglichkeit ist, dass in Zeiten eines fast globalen Rechtsrucks, der schleichenden Abschaffung von Menschenrechten und der zunehmenden Kriminalisierung von Antifaschismus dieser dünne Schleier gänzlich verschwindet und eine neue Realität entsteht, in der unsere Kinder, unsere Familien, unsere Freunde – also all jene, die das Pech haben, einer gerade unerwünschten Minderheit anzugehören – plötzlich zum „Abwegigen“ erklärt werden können.

Kurt Tallert 2024:
Spur und Abweg.
Dumont Verlag.
ISBN: 978-3-7558-1008-7.
240 Seiten. 14,00 Euro.
Zitathinweis: Anahid Sowa: Der dünne Schleier der Menschlichkeit. Erschienen in: Der Wert des Körpers. 77/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/Ev5FZ. Abgerufen am: 15. 10. 2025 11:07.

Zum Buch
Kurt Tallert 2024:
Spur und Abweg.
Dumont Verlag.
ISBN: 978-3-7558-1008-7.
240 Seiten. 14,00 Euro.