Eine Geschichte des Leides
- Buchautor_innen
- Wolfgang Hien
- Buchtitel
- Die Arbeit des Körpers
- Buchuntertitel
- Von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart
Wenn über Arbeit gesprochen wird, muss die diskursive Perspektive geweitet werden, um das menschliche Leiden nicht aus dem Blick zu verlieren.
Beim wissenschaftlichen Arbeiten scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass man sich beflissen deskriptiv und neutral verhalten soll. Doch negiert dieser Anspruch die Wirklichkeit einer sich widerstreitenden Gesellschaft, die keineswegs den Menschen neutral gegenübertritt. Im weiteren Sinn unterschlägt die neutrale Wissenschaft sogar die Interessenkonflikte, die die bestehende Gesellschaft beherrschen. Eine kritische Theorie der Gesellschaft, die das Leid der Menschen zur Sprache bringen möchte, kann daher nicht neutral sein und ergreift aufgrund der Sache Partei für die Unterdrückten. Wie das aussehen kann, zeigt Wolfgang Hien in seiner Studie „Die Arbeit des Körpers“. Sie ist eine Geschichte des Leides, das der arbeitende Körper in der kapitalistischen Gesellschaft erfährt.
Wolfgang Hien räumt mit der Ideologie eines friedlichen Kapitalismus auf und konzentriert sich auf die brutalen und gewaltvollen Lebenserfahrungen von Menschen, auf deren Rücken erbaut wurde, was heute so selbstverständlich Wohlstand, Freiheit und Fortschritt genannt wird. Die Geschichte der Arbeit beschreibt er dabei stets als eine, die von Widerstand, Kampf und Organisation geprägt ist. Er zeigt, dass die herrschenden Zustände nichts Natürliches oder Schicksalhaftes sind, sondern Ergebnis eines erbitterten Kampfes, der nicht selten mit Armut, Elend oder dem Tod bezahlt wurde. Um diesen Übeln Ausdruck zu verschaffen, steht der Begriff des Leides im Zentrum. Dieser hat eine doppelte Bedeutung: Zum einen meldet er die Unhaltbarkeit der bestehenden Verhältnisse an und zum anderen eröffnet er eine „revolutionäre Perspektive“ (S. 33).
Das Leid zur Sprache bringen
In erster Linie ist Hiens Forschung auf Deutschland und Österreich beschränkt. Doch unterschlägt er keineswegs, dass der Kapitalismus „global begründet und global orientiert“ (S. 329) ist. Gerade auf den letzten Seiten der Arbeit umreißt er die globale Perspektive des Kapitalismus. Auf der einen Seite produziert der Kapitalismus Subjekte, die sich in ihrer Arbeit verwirklicht sehen wollen, deren Alltag und freie Zeit aber durch das Diktat der Ökonomie bestimmt wird. Und auf der anderen Seite herrscht eine weiterhin barbarische Realität im „Kampf ums körperliche Überleben“ (S. 339). Wir sollten uns deswegen nicht darüber hinwegtäuschen lassen: Die Brutalität des Kapitalismus ist nicht Geschichte. Sie hat sich lediglich geografisch oder von den Metropolen der Welt an die Peripherie verschoben. Nicht umsonst gelten Städte in Indien, Pakistan, Bangladesch, China und so weiter als die Werkbänke der Welt. Die Beschreibungen der dortigen Arbeitsverhältnisse „lesen sich wie Berichte aus dem Europa des 19. Jahrhunderts“ (S. 335). Lebensbedrohliche Vergiftungen in brasilianischen Bayer-Betriebsstätten, tödliche Arbeitsunfälle in Textilfabriken in Bangladesch, Kinderarbeit und eine allgemein unterdurchschnittliche Lebenserwartung sind allgegenwärtig. Dabei handelt es sich um Arbeitsverhältnisse von Unternehmen, die in Ländern wie Deutschland ein hohes Ansehen genießen: Bayer, BASF, Bosch, Siemens oder Braun.
Zugleich haben wir es nicht nur mit einer Spaltung in Nord und Süd zu tun. Die Gewalt der Lohnverhältnisse zieht sich „quer durch die kapitalistische Welt“ (S. 339). Auch innerhalb der Arbeiter:innenklasse findet ein stetiges Ringen um Anerkennung und Abgrenzung statt. Deutlich wurde dies beispielsweise an der Migrationspolitik der BRD in den 60er und 70er Jahren:
„Zunächst arbeiteten Millionen Einheimische, dann zunehmend Millionen von Migranten und Migrantinnen unter Verhältnissen, die von Schmutz, Dreck, Staub, Gift, Hitze, Kälte, Unfällen, körperlicher Schwerstarbeit, Diskriminierung, Sozialrassismus und behördlicher Ignoranz geprägt waren.“ (S. 203)
Hinsichtlich partieller Aufstiegsmöglichkeiten in der deutschen Nachkriegszeit übernehmen vermehrt migrantisierte Arbeiter:innen die gefährliche, dreckige und harte Arbeit, die zuvor noch von „Einheimischen“ verrichtet werden musste. Diese neue Verteilung der Arbeit knüpfte nicht nur perfekt an den menschenverachtenden Rassismus der Kapitalseite an, sondern ebenso an die Ressentiments der Arbeiter:innenklasse, die sich der harten und dreckigen Arbeit nicht mehr würdig sah. Die Verachtung der Hilflosesten und Schwächsten integrierte sich in die Arbeiter:innenklasse. Es entsteht eine innere Spaltung zwischen dem „arbeitsaristokratischen Deutschen und minderwertigen Ausländern“ (S. 206). Die Arbeitsverhältnisse bekommen damit einen rassistischen und vor allem postkolonialen Schlag. Dieser Diskurs setzt sich bis heute fort, beispielsweise in Gestalt der „qualifizierten Arbeitskraft“.
Gemischt mit entweder biologistischen oder kulturalistischen Ideologien produziert der Kapitalismus Legitimationsstrategien, die sich in der Verteilung von Arbeit oder Fortbestehen bestimmter Arbeitsverhältnisse zeigen. Das wird auch deutlich, wenn es um gesundheitliche Aspekte geht. So zeigt Hien eindrücklich, dass das Kapital seit jeher daran interessiert ist, seine gesundheitlichen Folgen zu externalisieren und andere Ursachen dafür ins Feld zu führen. Eine prominente Erklärung ist der Verweis auf die Biologie. Auch heute lässt sich am Diskurs um psychische Erkrankung ein Backlash hin zu biologistischen Erklärungsversuchen finden, die deren Ursache nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen verortet, sondern sie durch genetische oder neurobiologische Dispositionen des Individuums erklärt wissen will.
Von wegen human…
Und so ist auch die sogenannte Arbeit 4.0 keineswegs würdevoll oder human. Unter dem Label Arbeit 4.0 wird eine computerbasierte, digitale und automatisierte Arbeit verstanden, die nicht auf körperlicher Arbeit beruht. An Beispielen wie Zalando, Amazon oder auch der IT-Branche wird das Bild der schönen neuen Arbeitswelt jedoch Lügen gestraft. „Reine Körperpolitik wird zu einer Politik erweitert, die das Seelische und Geistige umfasst. Gefordert wird nicht mehr die bloße Verausgabung der Arbeitskraft, sondern die des ganzen Menschen“ (S. 269). Auch zu der oft propagierten Abschaffung der körperlichen Arbeit wird es so schnell nicht kommen. Hien räumt zwar ein, dass es eine wichtige Unterstützung durch Roboter im Arbeitsprozess gibt, aber die menschliche Arbeitskraft dadurch nicht obsolet würde. Vielmehr verdichtet sich der Arbeitsprozess noch drastischer: „Für einen Arbeitsschritt, den der Roboter übernimmt, kommen fünf oder zehn neue Arbeitsschritte auf den Menschen zu, der in der unmittelbaren Produktion eingesetzt wird.“ (S. 273) Das verdeutlicht Hien an Beispielen wie der Automobilindustrie oder Onlinediensten wie Zalando. Die digitale Unterstützung, zum Beispiel um Barcodes zu scannen, erweist sich hier als hilfreiches Kontroll- und Überwachungsmittel von Arbeitsvorgängen. War der Toilettengang zuvor noch eine Möglichkeit, um Pause zu machen, ist nun genauestens protokolliert, wer wann, wie und wo sich „gehen lassen“ hat und damit Repressalien riskiert.
Da die Breite und Vielschichtigkeit des Buches keine einfache Zusammenfassung erlaubt, sollten sich die Leser:innen selbst überzeugen. Wolfgang Hiens Studie zur Arbeit des Körpers ist nicht nur eine klare Leseempfehlung, sondern ein Muss für eine kritische Perspektive auf vergangene und gegenwärtige Arbeitsverhältnisse. Die detaillierten Schilderungen der Arbeitsverhältnisse – global und lokal –, die getrost verdrängt und wahlweise unbekannt bleiben, lassen einen bitter aufstoßen. Die Fülle an Quellen und ihre interdisziplinären Zusammenhänge aus Philosophie, Arbeitsgeschichte und Literatur sind wirklich beeindruckend und erschüttern das eigene Weltbild.
Die Arbeit des Körpers. Von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart. 2. Auflage.
Mandelbaum Verlag, Wien.
ISBN: 978385476-798-5.
364 Seiten. 25,00 Euro.