Damit die Scham die Seite wechselt

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- Susanna Hast
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Was bedeutet es, in dieser Welt des kollektiven Leugnens zum Opfer sexualisierter Gewalt gemacht worden zu sein? Ein eindrucksvoller Bericht über den Weg vom Selbsthass zur Wut.
Ein Buch über sexualisierte Gewalt. An einem Mädchen. Ein doppelter Tabubruch. Nicht das Verbrechen an dem Mädchen. Nein, nicht die Gewalt ist das Tabu. Die Gewalt ist grausame Normalität, verdrängt zwar. Aber deswegen nicht weniger real. Nicht weniger häufig. Im Gegenteil. Nein, geächtet ist das Opfer. Das Opfer, das überlebt. Das Opfer, das sich erinnert. Das Opfer, das spricht. Die Existenz des Opfers – das ist das Tabu. Denn wo ein Opfer ist, da war ein Täter. Und wo ein Täter war, da war ein Verbrechen und wo ein Verbrechen war, da liegt eine Schuld begraben.
Und was, wenn das Opfer nicht mehr bereit ist, diese Schuld auf sich zu nehmen? Was, wenn es stark genug ist, sich zu erinnern? Was, wenn es erkennt, dass die Schuld, die es trägt, nicht seine ist? Was, wenn es trotz allem in sich die Kraft findet, die Schuld dahin zurückzugeben, wo sie hingehört: zum Täter. Was, wenn es den Mut findet, anzuklagen? Denn wo ein Täter war, waren da keine Komplizen? Keine Mitwisser, die untätig geblieben sind? Keine, die tatenlos geblieben sind, als sie hätten handeln müssen? Keine, die das Mädchen verantwortlich gemacht haben, weil es bequemer ist, als anzuerkennen, dass ein Täter ein Verbrechen begangen hat und dass es kein Zurück mehr gibt? Keine, die sich abgefunden haben damit, dass ein Kind zerstört wurde und dass niemand die Konsequenzen tragen musste – niemand, außer dem Kind. Keine, die sich entschieden haben, nicht zu wissen, was sie hätten wissen können? Was sie hätten wissen müssen. Keine, die gehofft haben, dass das Mädchen sein Geheimnis tapfer weiterträgt? Alleine, bis zum Grab. Doch. Wahrscheinlich. Wahrscheinlich war es so. An all das erinnern wir Opfer – ob wir wollen oder nicht.
„Als mir die Tragödie widerfährt, verwandele ich mich von einem Mädchen in eine Absonderlichkeit. Ich bin zu einer Repräsentation eines Opfers sexueller Gewalt geworden: eine wiedererkennbare Form, eine wiedererkennbare Vertreterin. … Die Repräsentation eines Opfers sexueller Gewalt ist ein Gast, aber man bittet ihn nicht herein. Die Person ist ein Außenseiter, beschmutzt und kaputt. … Ihre Aufgabe ist es, ein Geheimnis zu bewahren und es gleichzeitig zu enthüllen. Sie muss alles offenlegen, aber gleichzeitig die anderen davor schützen, sich schlecht zu fühlen. ... Deshalb muss sie sich ständig entschuldigen und unsichtbar machen. Erobert. Ausgelöscht. Vergessen. … Die Zerstörung des jungen Mädchens setzt sich auch im Nachhinein fort.“ (S. 48 ff.)
Das ungewöhnlichste an Susanna Hasts Erfahrungen ist wohl, dass sie es geschafft hat, sie öffentlich zu dokumentieren – allen Widerständen zum Trotz. Im Grunde ist es kein Buch über sexualisierte Gewalt. Es ist ein Buch über die Gewalt, die nach der Gewalt kommt. Das Trauma des Verrats, das über dem Trauma des Missbrauchs liegt. Über die zweite Auslöschung des Opfers. Es ist ein Buch über Täterschutz.
Abgestoßen
Aber warum hat sie denn niemand geschützt? Wie konnte so etwas passieren? Hat niemand etwas gewusst? Hat sie es niemandem erzählt? „Diese Frage ist furchtbar. Ich hasse diese Frage. Sie setzt voraus, dass es möglich gewesen wäre, zu reden, und dass wieder ich das Problem bin.“ (S. 100) Sie weigert sich, ihr Schweigen zu bereuen. Wieder eine Schuld, die sie tragen soll, die nicht ihre ist. Sie hat geschwiegen, „denn ich hatte keine Wahl. Ich sagte unzählige Male, nein, lass los. Ich sagte es laut, es gab nichts misszuverstehen. Dann schwieg ich. Meine Stimme wurde mir gestohlen.“ (S. 235) Ein erstes Mal, durch die Täter. Und dann noch ein zweites Mal, durch die Gesellschaft, die ihre Realität nicht wahrhaben will. Sie habe versucht, zu erzählen, was ihr angetan wurde und „es jedes Mal bereut“ (S. 96). Immer wieder schreibt sie von der Verantwortung, die sie spürt, andere vor der Wahrheit zu schützen. Niemand hat sie vor den Tätern geschützt. Und jetzt trägt sie die Last, andere davor zu schützen, der Brutalität dieser Welt ins Gesicht sehen zu müssen. Vor sich und der Wahrheit, die sie tragen muss. Zum Beispiel, indem sie die „Belastung durch die Gewalt“ in sich genauso „negiert“, wie „es die Gemeinschaft tut, die darin keine Katastrophe sehen will“ (S. 159). Oder, indem sie versucht, im Privaten Verantwortung für die Spuren zu übernehmen, die die Verbrechen in ihr hinterlassen haben. Als ließe sich der Missbrauch im Nachhinein wegregulieren. Als könnte doch noch wieder alles gut werden, wenn das Opfer nur im richtigen Moment immer konsequent daran denkt, die richtige Atemübung zu machen. Therapie und
„die Traumaselbsthilfekultur bergen die Gefahr, dass das Trauma zu meinem einsamen Klagen wird. Die Gewalt droht zu etwas zu werden, das außer Sichtweite gerät, wenn sie mir geschieht, in meinem Innern, in meinem Kopf, zwischen meinen Beinen, obwohl es mir zum Trotz geschieht, als Folge der Tatenlosigkeit und der Gleichgültigkeit von anderen.“ (S. 167 f.)
Was sie zu erzählen hat, der Bericht eines Opfers, die Aussage der einzigen Zeugin, ist eine „Bedrohung für die Identität der anderen.“ (S. 104) Wer wirklich anerkennt, was Mädchen in dieser Gesellschaft angetan wird, wie kann der danach einfach weiter machen, wie vorher? Als sei alles in Ordnung. Als müsste sich nichts ändern. Wenn wir die Wahrheit wirklich an uns heranlassen, dann bleibt keine Beziehung unberührt. Weil wir uns alle positionieren müssten. Weil wir alle Opfer kennen. Weil wir alle Täter kennen. „Es ist so viel einfacher für alle, wenn das Mädchen sich damit abfindet.“ (S. 89)
Erinnern – trotz allem
Die Angst, was passiert, wenn sie diese Rolle als Trägerin fremder Schuld zurückweist, durchzieht das ganze Buch. Die „kognitive Gewalt“ des Leugnens und Herunterspielen der Verbrechen führe „zu verrückten Gedanken, wie etwa, ob ich eine Erlaubnis … hätte einholen müssen“ (S. 105). Eine Erlaubnis, sich überhaupt zu erinnern. Es ist nicht nur die Grausamkeit des Erlebten, die sie hemmt zu erinnern, zu sprechen. Es ist vor allem auch „die Angst vor dem Auffliegen“ (S. 149). Denn, „wenn eine Frau gehört wird, dann geht das für sie nicht gut aus.“ (S. 83)
„Wenn schon das Erinnern einen hohen Preis hat, was kostet mich dann das Erzählen? … Manchmal höre ich, ich sei mutig. Ist es mutig, auf dünnes Eis zu treten und dabei ein wenig zu ertrinken? Mut klingt wie etwas, das vernünftige Menschen meiden …“ (S. 123)
Sie geht davon aus, dass sie Menschen verlieren wird, wenn sie spricht. Wenn sie sich selbst die Erlaubnis gibt, sich zu erinnern. Und davon zu berichten. Wenn sie sich erlaubt, ehrlich zu sein. Und trotzdem hat Susanna Hast dieses Buch geschrieben – und veröffentlicht. Warum tut sie sich das an? Weil wir mit den Erinnerungen nicht nur die Verbrechen, sondern auch unser Selbst begraben. Weil wir längst begraben sind, und eine Last, die einen erdrückt, wie kann man die vergessen? Wie soll man sich retten, wenn man das verleugnet, was einen erstickt? Erinnerung wird zu einer Notwendigkeit der Selbstbehauptung. Weil man mit den Erinnerungen auch immer einen Teil des eigenen Ichs begräbt. Das Mädchen, das missbraucht wurde, „das verbannte Mädchen“ (S. 192). Wie soll man sein zerbrochenes Ich wieder zusammen puzzeln, wenn man nicht alle Teile benutzen darf? Wie soll man sich befreien, wenn man verdrängt hat, dass es einen gibt? Die eigenen Erinnerungen aufgeben, verleugnen, bedeutet sein Ich zu zerstören. Das ist es, was Täterschutz missbrauchten Kinder zumutet. Sich vorauseilend an der Zerstörung des eigenen Ichs zu beteiligen und sich dann auch noch zu schämen, für den Wahnsinn der dadurch entsteht.
„Es ist einfach, einem Kind Gefühle von Schuld und Angst aufzuladen, die mit ihm selbst nichts zu tun haben. Das Kind fügt sich, fügt sich immer mehr – ich kenne diese Macht. Ich verschweige und ersticke, bis die Gefühle irgendwann aus mir hervorbrechen oder mich in eine Art geisteskranken Zustand bringen.“ (S. 210)
Wut
Mit der Erinnerung kommt die Wut. Sie sei „müde“ die „Geheimnisse zu bewahren“ (S. 124). Müde, sich zu verlieren, um andere vor der Wahrheit zu schützen. Also kämpft sie um ihre Erinnerung und schreibt dieses Buch. Sie schreibt sich durch ihre Erinnerungen, sammelt Beweise, ringt sich die Erlaubnis ab, formuliert die erste, vorsichtige Anklage. Sie beginnt mit dem Kampf, sich zu glauben. Trotz Erinnerungslücken. Seite für Seite schreibt sie um ihr Ich. Um ihr Leben. In Würde. Sie sucht ihre Erinnerungen und findet ihre Wut. Denn die Ursache der Verbrechen kann sie in ihrem Innern nicht finden. Die Ursache der Verbrechen liegt nicht in ihr. Sie liegt im Außen. Und dahin beginnt sie ihre Aggression zu richten. Weg von sich. Nach außen. Zaghaft, vorsichtig – aber doch. Sie fragt sich, „wie es wäre, nicht mich selbst, sondern sie zu hassen“ (S. 223). Plötzlich, endlich scheint die Wut durch: „Wenn ich zum Subjekt werde, höre ich auf, erniedrigt zu sein, und ich werde aggressiv, wütend und bedrohlich.“ (S. 230)
Zu Beginn des Buches reist sie in ihre Erinnerungen als „Kriminalermittlerin“, bei der man das Gefühl nicht loswird, dass sie immer auch ein bisschen gegen sich selbst ermittelt. Ist es wirklich passiert? War es wirklich ein Verbrechen? War sie wirklich nicht schuld? Am Ende reist sie in ihre Erinnerungen, um sich zu beschützen. Um sich zu retten. Wenigstens in der Fantasie.
„Ich hole sie da raus, denke ich. … Ich gehe hinein, marschiere voran, greife in seine fettigen Haare, zerre ihn zu Boden, ich trete und schlage … und meine Wut ist nicht unterdrückt … sie ist erbitterter Zorn … ein echtes Gefühl, das ich schon lange fühlen wollte, aber nicht konnte. In dieser Szene liegt kein edles Verzeihen oder das Weiterleben des eigenen Lebens, sondern rohe Emotion und ein Sprung ins Dunkel. … Ich bin in das Zimmer zurückgekehrt, um die Gewalt zu Ende zu bringen, die mein Körper immer weiter wiederholt. … Ich spüre in dieser Wut meinen eigenen Anfang. Als würde ich die Geschichte der Gewalt neu schreiben, nehme ich meine Sexualität und meinen Wert in Besitz, und sehe zu, wie die Jungen zu meinen Füßen auf dem Boden zucken.“ (S. 224)
Wo Wahnsinn drohte, ist jetzt Wahrheit ausgegraben. Und aus Selbsthass ist Wut geworden. Aus Selbstverleugnung Widerstand. Was, wenn wir das alle schaffen würden?
Beweiskörper. Übersetzt von: Tanja Küddelsmann.
Edition Nautilus.
ISBN: 978-3-96054-468-5.
248 Seiten. 24,00 Euro.