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Kein Mensch ist eine Insel – oder doch? Aktuelle Ausgabe Nr. 76, 15. Juli 2025

Kein Mensch ist eine Insel – oder doch?

Orte der Sehnsucht, der Entfaltung und der Freiheit? Oder: Ort der Verbannung und Isolation? Inseln sind Schauplätze utopischer Träume – und Albträume von Herrschaft und Kontrolle. Denken wir an Alcatraz, Robben Island oder die Gefängnisinsel İmralı, auf der der kurdische Revolutionär Abdullah Öcalan seit 1999 isoliert wird. Inseln werden immer wieder genutzt, um unliebsame Menschen dem Blick der Gesellschaft zu entziehen – politische Gefangene, Aufständische, Abtrünnige. Sie sind Teil einer globalen Sicherheitsarchitektur, die sich immer brutaler gegen diejenigen richtet, die im Sinne privilegierter Staatsprojekte unerwünscht sind. Die europäischen Außengrenzen sind ein Netzwerk von Inseln: Lampedusa, Samos oder Lesbos sind schon lange beides – Urlaubsziele und abschottbare Orte des Ausharrens, der Entrechtung, der Hoffnungslosigkeit.

Das ist keine neue Entwicklung. Inseln sind eng mit der Geschichte von Kolonisierung, geostrategischen Interessen, kriegerischen Auseinandersetzungen und Ausbeutung verwoben. Die Karibik, der Pazifik, der Indische Ozean – überall auf der Welt wurden Inseln zu Plantagen, zu Militärstützpunkten, zu Orten der Versklavung und des Rohstoffraubs. Heute sind sie Spielbälle eines Inselkapitalismus: Sie sind Steuerparadiese für die Superreichen, Privatbesitz abseits von Gesetzen und Strafverfolgung und nicht zuletzt vermeintlich idyllische Tourismusparadiese, die auf Naturzerstörung, Ausbeutung und Verdrängung der dort lebenden Menschen basieren.

„No man is an island“, schrieb der englische Dichter John Donne im 17. Jahrhundert und meinte damit, dass kein Mensch völlig unabhängig von anderen existiert – eine frühe Form der Idee, dass unsere Leben miteinander verwoben sind. Karl Marx zufolge produziert der Kapitalismus genau das Gegenteil: isolierte Individuen. Den Vorstellungen Gottfried Wilhelm Leibniz‘ folgend nutzt er den Begriff der abgekapselten „Monade“, die einzig auf sich selbst angewiesen ist. Marx kritisiert die Idee der kapitalistischen Vereinzelung, weil sie leugnet, dass der Mensch grundlegend in soziale und gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden ist. 

Aber: Inseln sind nicht nur Orte der Isolation, sondern auch des Widerstands. Haiti wurde zum Symbol einer antikolonialen Revolution, als die versklavte Bevölkerung ihre Kolonialisten besiegte und die erste Schwarze Republik gründete. Kuba blieb über Jahrzehnte ein Kristallisationspunkt sozialistischer Visionen und internationaler Solidarität. Auch Korsika, Irland, die Karibik – Inseln waren und sind nicht nur Orte der Unterdrückung, sondern auch der Rebellion.

Doch was bedeutet das heute? Wer wird verbannt, wer darf anlanden? Wer ist sichtbar, wer nicht? Welche Inseln haben ihren Platz in der Literatur, in Abenteuerfilmen und Fernsehshows gefunden, in der Philosophie, in der politischen Praxis? Wo führen Inseln zur Vereinzelung, zur Kontrolle und zur Isolation – und wo sind sie Orte des Widerstands, der Solidarität und kollektiver Kämpfe?

In der nächsten Ausgabe # 77 geht es im Schwerpunkt um den umkämpften Wert des Körpers und wie dieser politisch, ökonomisch und kulturell geformt wird.

Wir wünschen euch viel Spaß beim kritischen Lesen!

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