Tristesse und Isolation

- Buchautor_innen
- Michel Houellebecq
- Buchtitel
- Die Möglichkeit einer Insel
Der satirische Zukunftsroman zeigt, dass erst die kritische Distanz zum Bestehenden eine Abkehr vom Kapitalismus und seinem Menschenbild möglich macht.
Daniel, ein Comedian mittleren Alters, schließt sich, eher aus Langweile als aus Überzeugung, einer New-Age Sekte an. Diese arbeitet auf Lanzarote daran, den Menschen durch den sogenannten „Neo-Menschen“ zu ersetzen. Ein Sprung viele Jahre in die Zukunft: Das Projekt hatte Erfolg, inzwischen gibt es einen Klon von Daniel in der 25. Generation.
Das ist die Konstellation in Michel Houellebecqs Science-Fiction-Roman „Die Möglichkeit einer Insel“. In Retrospektive berichten Daniel 1 sowie seine Klone Daniel 24 und 25 von ihrem „gemeinsamen“ Leben. Letztere verkörpern die Konsequenz eines apokalyptischen Kapitalismus. Ohne körperliche Empfindungen und Lust fristen sie in bunkerartigen Wohnanlagen ein Dasein in ewig reproduzierter Einsamkeit. Sie chatten miteinander in abstrakt poetischen Textfragmenten, ewig auf Bildschirme starrend. Sterben sie, so werden sie geklont und postalisch an ihre Heimatadresse geschickt.
Michel Houellebecq ist ein umstrittener Autor, wird jedoch häufig verkürzt rezipiert und wiedergegeben. Gerade die kritische Re-Lektüre dieses vor zwanzig Jahren erschienen Romans lohnt sich mit Blick auf die Frage, wo denn die „Möglichkeit“ innerhalb dieses Szenarios liegt?
Houellebecq von links lesen?
In einer linken Lesart Houellebecqs wurde wiederholt auf reaktionäre, pessimistische, aber auch visionäre Elemente seiner Texte hingewiesen. Bei „Die Möglichkeit einer Insel“ ließe sich dieses übliche Prozedere ohne weiteres durchführen. Es ist einerseits ein Roman aus der Perspektive eines reaktionären Erzählers, der den sich bereits in den 2000er Jahren anbahnenden, kleinbürgerlichen Zynismus der westlichen Unterhaltungsindustrie zu seinem wirtschaftlichen Vorteil nutzt. Daniel sagt an einer Stelle offen: „Ich ersparte der Welt schmerzhafte und überflüssige Revolutionen – denn die Wurzel aller Übel war biologisch bedingt und unabhängig von jeder erdenklichen Form gesellschaftlicher Veränderung […]“ (S. 140). Wie bereits hier deutlich wird, ist die Regression des Protagonisten nicht im politischen Sinn programmatisch, sondern untrennbarer Teil seiner pessimistischen Lebenseinstellung. Immer wieder geht es um die eigentliche objektive Sinnlosigkeit der Existenz im Angesicht des Endes – wiederholt gibt es deutliche Bezüge auf die Philosophie Arthur Schopenhauers. Darin steckt auch ein bürgerlich romantisches Motiv: „Von dort aus betrachtete ich das weite, graue Meer, das ebenso und grau war wie mein Leben.“ (S. 350)
Wie das politisch Regressive aber in dem Pessimismus des Romans steckt, so wirkt auch dieser wiederum wie ein Teil des Visionären. Diesem tut man keinen Gefallen, indem man es auf Bezüge zum Silicon-Valley und tatsächlich existierenden Bestrebungen einer heutigen Bourgeoisie reduziert, die nach biologischer Unsterblichkeit trachtet. Das Visionäre besteht hier eher in dem Blick des Erzählers auf die Welt um ihn herum und vor allem in seiner eigenen Funktion darin. So lebt Daniel große Teile des Romans in Spanien, wovon er aus verschiedenen Gründen profitiert. Bei einem Spaziergang begegnet er nicht weiter spezifizierten Arbeitern, wobei er das Gefühl hat, dass diese ihm gegenüber „einen dumpfen animalischen Haß [empfanden], der dadurch, daß er ohnmächtig war, noch verstärkt wurde, denn das Gesellschaftssystem war da, um Menschen wie mich zu schützen.“ (S. 345)
Dies sind Stellen, in denen eine kritische Perspektive auf die Klassengesellschaft des globalen siegreichen Kapitalismus der 2000er Jahre aufblitzt, die sich hier auf eine nukleare Katastrophe zuspitzt. Die Elemente der Regression, des Pessimismus und der Vision verdichten sich hier zu etwas, was nicht nur unter Zynismus fällt, wie es wiederholt Romanen zum Vorwurf gemacht wurde. Daniel 25 wird mit uns als Leser*in den Bericht lesen und kommentiert den Stil dieses ersten Daniels mit den Worten: „[Daniel1] scheint oft der einzige gewesen zu sein, der ein wenig Abstand gewonnen und wirklich die Bedeutung dessen erkannt hat, was sich vor seinen Augen abspielt.“ (S. 339) Und es ist dieses Motiv der inneren Distanz, die den Roman zu einem gelungenen Werk macht.
Liebe und Menschsein
Dieser zukünftige Daniel liest das, was wir auch lesen; den Lebensbericht des ersten Daniels. Dies tut er, weil es in dieser Zukunft nicht möglich ist, Erinnerungen zu übertragen. Es muss aber auch unter diesen biologisch überlegeneren Neo-Menschen eine Form der kulturellen Kohärenz konstruiert werden und dafür gibt es die Berichte, welche der jeweils nächste Daniel liest, um sich darüber in seiner Persönlichkeit begreifen zu können. Gefühle sind ihm dabei nahezu fremd, wodurch ein Motiv verhandelt wird, was sich allgemein durch alle Romane Houellebecqs zieht: die zunehmend ökonomisch bedingte Unmöglichkeit der Liebe: „Die Liebe scheint für die Menschen der letzten Periode zugleich Höhepunkt und eine Unmöglichkeit, Gegenstand des Bedauerns und der Verehrung gewesen zu sein […]“ (S. 170). So entfaltet die namensgebende Insel auch eine doppelte Bedeutung. Zum einen spielt sie auf Lanzarote an, andererseits auf das entfremdende Gefühl der Isolation in einer kapitalistischen Gesellschaft, die zunehmend isoliert und vereinsamt sich auf die triste Existenz der Klone der Zukunft hin zuspitzt – zu vollkommen eindimensionalen Wesen, dem neuen Menschen eines neoliberalen, technokratischen Kapitalismus.
Die „Möglichkeit“ besteht nun jedoch darin, dass dieser zukünftige Daniel zunehmend versucht, sich ein Verständnis davon anzueignen, was es heißt ein Mensch in Freiheit zu sein und was es bedeuten könnte, sich zu verlieben. So stellt Daniel 25 zum Ende des Romans fest, dass er seinen ersten Vorgänger trotz des Leids und tragischen Endes, um dessen Möglichkeit zur Liebe beneidet. Als Leser:in nimmt man dabei eine doppelte Distanz ein: zum einen gegenüber dem Bericht Daniels, der eine unsympathische Figur bleibt, aber auch seine Klone haben etwas enorm Entfremdendes. Und doch ästhetisiert diese abgeklärte Sprache und die emotionslose Kälte eine Form, die für eine soziale Isolation steht, die sich in den 2000er Jahren bereits ankündigte und später weiter verschärfte.
Daniel 25 wird sich an den einzigen Personen, zu denen er so etwas wie eine Bindung aufbaut, „Marie 23“, orientieren und wird versuchen, aus den gewohnten Gefilden auszubrechen. Dies gelingt ihm nur aufgrund ihrer abstrakten poetischen Bilder, die sie ihm über die Chats zuschickt sowie sein intensives Studium der alten Berichte. Der Begriff der mutmaßlich eigenen Erinnerung wird in der Verbindung mit dem Künstlerischen zu einer Form der Erkenntnis, einer Gemachtheit des tristen Schicksals und zugleich zur Möglichkeit einer Emanzipation gegenüber dem Neo-Menschsein. Darin steckt die Möglichkeit eines Humanismus, der verdeutlicht, dass wir uns gegenüber einem Menschenbild auflehnen müssen, in das uns der Kapitalismus hineinzwingt. Der Roman nimmt dabei eine stark individuelle Perspektive ein. Doch liegt in der Andeutung, dass Marie23 dieselbe Entwicklung durchmacht (und andere auch) ein kollektivistisches Element. Dieser gelungene Roman zeigt, dass das eigene Menschsein erkannt werden muss.
Die Möglichkeit einer Insel. Übersetzt von: Uli Wittman.
Dumont Verlag.
ISBN: 978-3-8321-8917-4.
448 Seiten. 12,00 Euro.