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Haiti neu denken

Haiti neu denken
Thema
Essay von Laurent Dubois, übersetzt von Christian Frings

Marlene L. Dauts „Awakening the Ashes“ und Jake Johnstons „Aid State“ machen deutlich: Wer Geschichte und Gegenwart Haitis ignoriert, verschließt sich zentralen Fragen, die unsere gemeinsame Zukunft betreffen.

Essay von Laurent Dubois

Seit seiner Gründung im Jahr 1804 ist Haiti sowohl Objekt als auch Motor von paradigmatischen Veränderungen in der Weltgeschichte gewesen. Noch fünfzehn Jahre vor der Geburt dieses Landes waren die meisten seiner Einwohner*innen in einem brutalen Plantagensystem versklavt, in einer Kolonie, die die profitabelste des französischen Kolonialreichs und vermutlich der ganzen Welt war. Was im August 1791 als Aufstand von versklavten Menschen begann, entwickelte sich zu einer der bemerkenswertesten Revolutionen in der Menschheitsgeschichte: Die zukünftigen Bürger*innen Haitis erkämpften sich ihre Freiheit und zwangen Frankreich, in seinem gesamten Kolonialreich die Sklaverei abzuschaffen. Als Napoleon Bonaparte drohte, diese Emanzipation rückgängig zu machen, erkämpften sich die Haitianer*innen ihre Unabhängigkeit und gründeten ein neues Land, das als erstes Land der Welt die Sklaverei dauerhaft abschaffte. Doch damit war der Krieg noch nicht beendet. Im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte war Haiti endlosen Anfeindungen und Interventionen aus dem Ausland ausgesetzt, erlebte aber auch die Solidarität und Unterstützung von vielen Menschen, die Haitis Kampf als Spiegelbild ihres eigenen sahen. Haiti ist vielleicht das einzige Land der Welt, das bis heute eine derart komplexe Mischung aus Hoffnung und Verachtung aus dem Ausland erdulden muss. Diese Projektionen haben Haitis historische Kontexte und Möglichkeiten geprägt und tun dies auch heute noch.

Sich produktiv mit der Geschichte und Gegenwart Haitis auseinandersetzen

Die Herausforderung beim Schreiben über Haiti besteht darin, dass stets auf die Wechselwirkung zwischen vielen verschiedenen Ebenen der Analyse geachtet werden muss. Insbesondere müssen die Feinheiten und Schichten der nationalen und lokalen Geschichte selbst dann genau berücksichtigt werden, wenn diese Entwicklungen mit großräumigeren regionalen, hemisphärischen und globalen Kräften verflochten sind. Die besonderen Fragen, um die es heute in Haiti geht, unterscheiden sich natürlich von denen des 18., 19. oder frühen 20. Jahrhunderts. Nichts geändert hat sich jedoch daran, dass sich dieses Land an der vordersten Front von Kämpfen befindet, die auf die eine oder andere Weise uns alle betreffen.

„Die Welt hat die Haitianische Revolution im Stich gelassen“, schreibt Marlene L. Daut in der letzten Zeile ihrer kürzlich erschienenen meisterhaften Studie zur intellektuellen Geschichte Haitis, „Awakening the Ashes. An Intellectual History of the Haitian Revolution“ (Das Erwachen der Asche: Eine intellektuelle Geschichte der haitianischen Revolution). Das Buch ist der jüngste Beitrag von Daut in einer ganzen Reihe von Schriften zur intellektuellen Tradition der Karibik, die sie verfasst hat, und sie selbst ist eine der dynamischsten zeitgenössischen Stimmen zu Haiti. Außerdem ist sie eine ehemalige Kollegin von mir an der University of Virginia und ich hatte das Glück, die Entstehung dieses Buches über die letzten Jahre mitverfolgen zu können. In „Awakening the Ashes“ übernimmt sie die wichtige Aufgabe, uns die Haitianische Revolution aus der Sicht der Denker*innen des Landes im 19. Jahrhundert zu zeigen. Ihre Studie erschien kurz vor der Veröffentlichung eines anderen neuen Buchs, das sich mit den bis heute andauernden Folgen dieser Geschichte befasst: In „Aid State. Elite Panic, Disaster Capitalism, and the Battle to Control Haiti“ (Staat der Hilfe: Panik der Eliten, Katastrophenkapitalismus und der Kampf um die Kontrolle über Haiti) stellt Jake Johnston akribisch und schonungslos dar, wie Haiti nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 von den verschiedensten Akteuren buchstäblich im Stich gelassen wurde. Beide Bücher handeln vor allem vom Versagen der Vorstellungskraft. Daut und Johnston schreiben, dass Haiti seit jeher eine Herausforderung für die vorherrschenden Denkweisen und Deutungsmuster darstellte. Und sie zeigen überzeugend, dass gerade aufgrund dieser Herausforderung – und den Versuchen von ausländischen Mächten, sie zu ignorieren und verstummen zu lassen – das Verständnis der Geschichte Haitis und seiner Gegenwart für jede produktive Auseinandersetzung mit unserer gemeinsamen Zukunft als Menschheit unerlässlich ist.

Obwohl die zwei Bücher in sehr unterschiedlichen Stilen und mit unterschiedlichem Anliegen geschrieben sind, fordern sie uns beide nachdrücklich zu einem grundlegend neuen Nachdenken über Haiti auf, das uns anders an die Gegenwart und Zukunft des Landes herangehen lassen sollte. Johnstons investigative Arbeit ist fesselnd geschrieben und knüpft an frühere kritische Analysen zu den Reaktionen auf das Erdbeben von 2010 an, wie beispielsweise Jonathan Katz’ ausgezeichnete Untersuchung „The Big Truck That Went By. How the World Came to Save Haiti and Left Behind a Disaster“ (Der große Lastwagen, der vorbeifuhr. Wie die Welt Haiti retten wollte und eine Katastrophe hinterließ, 2013). Johnston erzählt eine vielschichtige und globale Geschichte von ausländischen Regierungen mit ihren zahlreichen (oft konkurrierenden und unkoordinierten) Behörden, von Konzernen und ihren humanitären Projekten, von Söldnern und von einer Vielzahl von Akteuren in Haiti, wie Regierungsbeamten und lokalen Führern bis hin zu Einzelpersonen auf der Suche nach einem Umgang mit diesen Konstellationen. Sie alle liefern uns einen schonungslosen und eindringlichen Einblick in die Ursachen ihrer Realität. Das Buch findet seinen Platz in einer Reihe von früheren journalistischen Arbeiten zur jeweils aktuellen haitianischen Geschichte wie beispielsweise dem Bericht von Al Burt und Bernard Diederich über die Ära von François Duvalier, der ab 1957 ein diktatorisches Regime aufbaute und bis 1971 an der Macht blieb, bis sein Sohn Jean-Claude seine Nachfolge antrat. Einen ähnlichen Beitrag verdanken wir Amy Wilentz, die in ihrem wichtigen Buch „The Rainy Season. Haiti Since Duvalier“ (Die Regenzeit. Haiti seit Duvalier, 1989) die Zeit nach dem Sturz von Jean-Claude Duvalier im Jahr 1986 und den anschließenden Aufstieg von Jean-Bertrand Aristide schildert, der der erste demokratisch gewählte Präsident des Landes werden sollte.

Haiti als Wegbereiter

Daut und Johnston machen beide deutlich, dass die Ereignisse in Haiti nicht nur die Welt im Allgemeinen geprägt haben, sondern oft auch Vorläufer und Vorboten dessen waren, was anderswo kommen sollte. Die Revolution in Haiti war ein Wendepunkt in der Geschichte der Sklaverei im atlantischen Raum und sie radikalisierte die Debatten um Abolitionismus und die Aktionsformen gegen die Sklaverei. Wie Daut schreibt, haben die Gründer des Landes mit der Schaffung des „ersten antikolonialen und antirassistischen Staates, den die Welt je gesehen hatte“, die langsame und mühsame Abschaffung der Sklaverei in anderen Teilen der Welt ins Auge gefasst und ermöglicht. Aus diesem Grund, so Daut, „erregte Haitis erste Verfassung sofort die Aufmerksamkeit der ausländischen Medien“, was uns daran erinnert, dass die Wirkung solcher Medienberichte – auf die Johnston sich heute konzentriert – bis zur Gründung des Landes zurückreicht. Diejenigen, die sich durch das Beispiel Haitis bedroht sahen, entwickelten neue Techniken gegen die kleine Nation. Die frühe diplomatische Geschichte der Vereinigten Staaten kreiste beispielsweise um Washingtons Bemühungen, Haiti politisch zu isolieren. Die Entschädigung, die Frankreich 1825 Haiti als Gegenleistung für die diplomatische Anerkennung aufzwang und die von der New York Times in ihrem Projekt „The Ransom“ (Das Lösegeld) 2022 dokumentiert wurde, stürzte das Land in einen Sumpf aus Auslandsschulden, wie sie im 20. Jahrhundert ein weltweit bekanntes Phänomen werden sollten. Die Besetzung des Landes durch die USA von 1915 bis 1934 war ein entscheidender Moment für die Herausbildung einer breiteren Palette von Praktiken in den Amerikas und anderen Teilen der Welt und sie prägte die populären Klischees und die Kultur in Nordamerika. Die Form der humanitären Hilfe nach Naturkatastrophen, die Haiti von außen aufgezwungen wurde, ist nur eine besonders intensive Umsetzung von Strategien, die immer offensichtlicher verheerende Auswirkungen auf Menschen auf der ganzen Welt haben werden.

Weil sich das haitianische Denken am Schnittpunkt zwischen revolutionären Bewegungen und den gegen sie eingesetzten Kontrolltechnologien entwickelte, ist es für uns alle eine besonders wertvolle Ressource. Sie darzustellen ist das große Verdienst der Arbeit von Daut. In „Awakening the Ashes“ geht sie von der Prämisse aus, dass während und nach der haitianischen Revolution Denker*innen im Land tiefgreifende und einflussreiche Wege gefunden haben, um über das Wesen der Geschichte selbst – und damit über menschliches Handeln und seine Möglichkeiten – nachzudenken. Daut schreibt, dass diese Denker*innen zu ihren „Wegweisern“ geworden seien und lädt uns ein, sie in diesem Sinne zu verstehen:

„Ich verlasse mich auf ihre Augen und Ohren, ihre Taten und Handlungen, ihre Poesie und ihre Träume, um die Geschichte der Freiheit und Souveränität von Schwarzen zu erzählen, die von der haitianischen Revolution gegen Sklaverei, Rassismus und Kolonialismus geprägt ist.“

Daut beginnt mit Baron de Vastey (dem Thema ihres vorherigen Buches „Baron de Vastey and the Origins of Black Atlantic Humanism“ aus dem Jahr 2017), dessen „Methodik darin bestand, die Toten zu befragen, um sie ihre Geschichten aus dem Grab erzählen zu lassen“, indem er versuchte, „die Asche“ der Opfer des Kolonialismus und der Sklaverei „aufzuwecken“. Er sprach mit und durch diejenigen, deren „Zeugnisse aus der Tiefe kamen“. Zusammen mit anderen Denkern seiner Generation hatte Vastey die dramatischen Umwälzungen der 1790er- und frühen 1800er-Jahre erlebt und beteiligte sich daran, die Zukunft des unabhängigen Haitis zu gestalten. Ihre „Methode“ zum Schreiben von Geschichte „leiteten sie unmittelbar aus dem revolutionären Denken Haitis ab“, schreibt Daut. Vastey und andere Theoretiker*innen seien methodisch innovativ gewesen, insbesondere indem sie häufig Augenzeugenberichte von Überlebenden der Gewalt durch Sklaverei und Krieg einbezogen. Dies habe es ihnen ermöglicht, „Geschichte in Zusammenarbeit mit den Unterdrückten“ zu schreiben.

Daut will uns mit ihrer Arbeit diese Denker*innen zugänglich machen und fordert uns auf, uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Im gesamten Text untersucht Daut, wie sie von der vorherrschenden Geschichtsschreibung marginalisiert und aus ihr ausgelöscht wurden, und stützt sich dabei auf Michel-Rolph Trouillots berühmte These über das Verschweigen der haitianischen Revolution in seinem grundlegenden Werk „Silencing the Past. Power and the Production of History“ (1995). Sie stützt sich auch auf die Erkenntnisse aus Trouillots erstem Buch, einer interpretativen Geschichte in kreolischer Sprache mit dem Titel „Ti dife boule sou istoua Ayiti“, die 1977 von einem unabhängigen Verlag in Brooklyn veröffentlicht und kürzlich unter dem Titel „Stirring the Pot of Haitian History“ (2021) ins Englische übersetzt wurde. Wie Daut betont, suchte Trouillot in seinem gesamten Werk nach verschiedenen Wegen, die Geschichte seines Landes zu konzeptualisieren, insbesondere durch die Verwendung „klangvoller Begriffe“ wie „kalfou (Kreuzung)“ oder „rasanbleman (Zusammenkunft)“. Daut behauptet, dass die Auslöschung des haitianischen Gedankenguts unser breiteres Verständnis der globalen Geistesgeschichte eingeschränkt hat. Darüber hinaus kann sie überzeugend nachweisen, wie ein Großteil des historischen und politischen Diskurses außerhalb Haitis im 19. Jahrhundert von den von ihr dokumentierten Denkrichtungen geprägt wurde. „Auch wenn sie manchmal ihrerseits von Ideen aus dem Ausland angeregt wurden, inspirierten Schriftsteller*innen aus Haiti jene außerhalb ihres Landes“, darunter Persönlichkeiten wie Jules Michelet, einen der Begründer der französischen Geschichtsschreibung und der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen.

„Awakening the Ashes“ konzentriert sich auf einen Aspekt des haitianischen Denkens, der heute genauso aktuell ist wie im 19. Jahrhundert: Haiti nimmt einen relativ kleinen geografischen Raum auf einer Insel ein, die es sich mit der Dominikanischen Republik teilt, und doch war es schon immer ein strategisch und geopolitisch wichtiger Ort, an dem weltgeschichtliche Konflikte ausgetragen und verarbeitet wurden. Während andere oft versucht haben, die Stimmen aus Haiti kleinzureden, verstummen zu lassen oder zu ignorieren, haben sich die Einwohner*innen des Landes zu Recht als „Hauptakteure in einer revolutionären Phase der Welt“ gesehen, wie Daut schreibt.

„Diskursive Wutanfälle“

Seit dem Moment, als die Menschen von Haiti im Jahr 1791 einen Aufstand starteten, der zur Abschaffung der Sklaverei führen sollte, wurden sie zur ständigen Zielscheibe jener, die sich vor den Folgen dieser Bewegungen fürchteten. Daut versteht es besonders gut, die verschiedenen Verrenkungen derer zu parodieren und zu verspotten, die die Errungenschaften der Haitianer*innen gerade deshalb herabsetzen wollten, weil sie Angst vor ihnen hatten. Zur „inkohärenten“ Analyse von Toussaint Louverture durch einen französischen Beamten schreibt sie:

„Seiner Einschätzung nach sei Louverture dumm, ungebildet, inkompetent und unfähig gewesen, Französisch oder komplexe Probleme zu verstehen, aber zugleich auch der führende Kopf und Architekt der gesamten Revolution und seines eigenen Unabhängigkeitsprojekts, der Monarchen überlisten konnte.“

Derartige Verrenkungen hatten – manchmal absichtlich, manchmal unbewusst – zur Folge, dass die Rolle und das Denken der Haitianer*innen selbst herabgewürdigt wurden.

Seit den 1790er-Jahren und bis heute gibt es viele Versionen der haitianischen Revolution, die es irgendwie schaffen, die tatsächlichen Haitianer*innen aus der Geschichte auszuklammern. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die Handlungen bestimmter weißer Akteure (damals gab es eine ganze Denkschule, die die gesamte unglückliche Situation royalistischen Verschwörern zuschrieb, die die Aufständischen als Marionetten benutzt hätten) oder sehen in Moskitos und Gelbfieber die Hauptursachen für den Erfolg der Haitianischen Revolution. Ihnen allen ist die Grundannahme gemeinsam, dass versklavte Menschen zu dieser Zeit nicht auf dem gleichen Niveau wie andere denken konnten, um abstrakte politische und philosophische Ideen mit strategischen Entscheidungen zu verbinden, die auf einer sorgfältigen Beobachtung der geopolitischen Realitäten beruhen. Solche Interpretationen sind angesichts einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Revolution unhaltbar, aber sie erfüllen einen wichtigen Zweck, indem sie es den Menschen ermöglichen, sich nicht allzu viele Gedanken über Haiti und seine Bedeutung machen zu müssen. Daut beschreibt ganze Abschnitte langatmiger Schriften über Haiti treffend und einprägsam als eine „scheinbar endlose Reihe diskursiver Wutanfälle“.

Auch Johnston berichtet in seinem Buch recht bissig von einer Reihe zeitgenössischer internationaler Akteure. Angeblich wollen sie sich für die Haitianer*innen einsetzen, in vielen Fällen ignorieren sie allerdings deren eigene Projekte und Visionen für ihr Land, sobald solche lokalen Initiativen nicht mit ihren eigenen Interessen übereinstimmen. Johnston folgt in „Aid State“ vielen der mächtigen Persönlichkeiten, die Haiti in den letzten Jahrzehnten gelenkt haben, und analysiert eine Reihe von „diskursiven Wutanfällen“, die auch sie dabei hatten. Eindrucksvoll veranschaulicht er, wie die politischen und wirtschaftlichen Krisen Haitis ständig durch Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Landes mitverursacht werden, und zeigt auf, wie vereinfachende Interpretationen – die einzelne ausländische Akteure oder Maßnahmen herausgreifen oder sich in pauschale Angriffe auf die Bevölkerung und Kultur Haitis flüchten – die Möglichkeiten für positive Veränderungen untergraben haben. Johnston liefert eine Interpretation dafür, wie ausländische Mächte oft mit wenig Transparenz Entscheidungen getroffen haben, die zur Entstehung genau der Krisen beigetragen haben, die sie nun beklagen, und wie verschiedene Akteure in kurzsichtigen Kategorien der Analyse gefangen blieben.

Haiti verdient, wie Daut und Johnston deutlich machen, eine Analyse auf demselben Niveau wie die jedes anderen Ortes auch; eine Analyse, die alle Faktoren berücksichtigt, die seine Realität prägen. Für Haiti ist dies jedoch besonders wichtig, da viele ausländische Akteure tief in die Geschehnisse eingreifen und die Narrative von Rassismus durchzogen sind (einem Rassismus, der den Diskurs über Haiti sowohl geprägt hat als auch selbst von ihm geprägt wurde). Gerade weil der Mangel an konzeptioneller Vorstellungskraft die Möglichkeiten Haitis besonders stark eingeschränkt hat, bieten Lösungsversuche für die Probleme dieses Landes wichtige Einblicke in unsere heutige Welt im Allgemeinen.

Kontrollversuche

Johnston stellt fest, dass ausländische Regierungen in „Zeiten des Umbruchs“ besonders besorgt um Haiti sind und in solchen Momenten versuchen, die politischen Ereignisse im Land zu kontrollieren. Das Erdbeben von 2010 war eine solche Phase. Johnston zeigt, dass ausländische Regierungen und Organisationen in der Folge wieder auf Ansätze zurückgriffen, die sie eigentlich hätten hinterfragen müssen. Wie er anmerkt, wies der haitianische Präsident René Préval mitten im Wiederaufbauprozess in einer Rede vor den Vereinten Nationen im September 2010 darauf hin und „zog eine direkte Linie vom damaligen Kolonialismus zur heutigen Globalisierung“. Wie Préval selbst erklärte,

„muss die Globalisierung, die vor Jahrhunderten mit der Kolonialisierung und der Verschleppung afrikanischer Sklaven begann, die auf Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen arbeiten mussten, deren Produkte dann in den Westen oder Norden exportiert wurden, völlig neu gestaltet werden“.

Diese Kritik an den internationalen Reaktionen auf das Erdbeben habe vielen in der Regierung und den Hilfsorganisationen der USA nicht gefallen. In seinem Buch dokumentiert Johnston detailliert, welche Rolle diese Akteure aus den USA Ende 2010 dabei spielten, die Präsidentschaftswahlen zu beeinflussen, um eine Wahl des Kandidaten aus Prévals Partei, Jude Célestin, zu verhindern. Auf der Grundlage von Interviews und privaten E-Mails, die durch WikiLeaks veröffentlicht wurden, zeigt Johnston, dass die Vereinigten Staaten letztlich nur an einer „Fassade der Demokratie“ in Haiti interessiert waren. In einem Interview, das Johnston mit Préval führte, schildert der ehemalige Präsident, wie er, als die Vereinigten Staaten begannen, die Ergebnisse der Wahlen von 2010 anzufechten (was sich letztlich bis ins Jahr 2011 hinzog), den US-amerikanischen Botschafter fragte, warum sie sich einmischten, obwohl doch nur haitianische politische Parteien rechtlich befugt seien, die Wahlergebnisse anzufechten. Darauf soll der Botschafter geantwortet haben: „Ich bin Teil dieser Wahlen, weil ich sie bezahle.“ Die Vereinigten Staaten und andere ausländische Regierungen hatten 18 Millionen Dollar in die Infrastruktur und das Personal für die Durchführung der Wahlen im Land investiert. Aber hinter den Kulissen sei es zu massiven Eingriffen und Manipulationen gekommen, schreibt Johnston.

Was auf der Ebene der Wahlen geschah, war jedoch nur Teil einer viel umfassenderen Reihe von Entscheidungen darüber, wer Haiti nach dem Erdbeben kontrollieren und prägen sollte, die Johnston so vernichtend kritisiert. „Der Globale Norden“, schreibt Johnston, „hat den Ländern des Globalen Südens eine Mustervorlage geliefert, nach der sie die Entwicklungsleiter hinaufklettern könnten, aber auf dem Weg nach oben sind immer wieder die Sprossen durchgebrochen.“ Préval wies jedoch auf ein noch größeres Problem hin, nämlich dass die Entwicklungsleiter selbst im Kolonialismus bestanden hatte. Die reichen Nationen Europas und die Vereinigten Staaten – deren Vorbild Haiti angeblich nacheifern sollte – sind, was sie heute sind, aufgrund derselben Prozesse, die Haiti zu dem gemacht haben, was es heute ist. Es gibt keine Möglichkeit, die Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung, die in Frankreich stattfanden, in Haiti zu wiederholen. Wer sollte Haiti heute das bieten, was sich Frankreich durch die massiven Gewinne aus der Plantagensklaverei verschaffen konnte und was die wirtschaftliche Expansion des 18. und 19. Jahrhunderts in England unterfütterte?

Katastrophenkapitalismus

Derzeit haben die Entwicklungsmodelle, die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vorherrschten, ohnehin zunehmend ausgedient. Es scheint illusorisch, dass solche Modelle Haiti oder anderen Ländern in einer ähnlichen Lage zu einer wirtschaftlichen Entwicklung verhelfen könnten, ganz unabhängig davon, ob der Aufschwung durch eine neoliberale Politik der Privatisierung von öffentlichen Versorgungsbetrieben oder durch den Bau von Industrieparks in Gang gebracht werden soll (dies sind die beiden großen Vorschläge, die Haiti in den letzten Jahrzehnten unterbreitet wurden). Johnston zeichnet ein noch düstereres Bild, das uns alarmieren sollte. Er warnt davor, dass der „Katastrophenkapitalismus“, von dem er und andere sprechen, aus Fällen wie dem Erdbeben in Haiti enorme Gewinne ziehen wird. Wie er dokumentiert, sehen viele Akteure in solchen Krisen eine Chance, denn humanitäre Hilfe ist ein großes Geschäft, das sowohl Einzelpersonen als auch Unternehmen bereichern kann. Johnston beendet sein Buch mit einem Bericht über die Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Jahr 2021 und die seitdem zunehmend gewalttätige Lage im Land. Abschließend stellt er fest, dass die aktuelle Situation das logische Ergebnis einer jahrzehntelangen Schwächung des haitianischen Staates und der politischen Manipulationen ist, mit der die Herausbildung einer wirklichen Demokratie verhindert werden sollte.

Im heutigen Haiti gibt es viele Stimmen, die wie die von Daut vorgestellten Denker*innen einen radikal anderen Ansatz für die Probleme des Landes fordern. Jean Casimir, Soziologe und ehemaliger Botschafter in den Vereinigten Staaten, hat in seinen Arbeiten – darunter „The Haitians. A Decolonial History“ (2020), das ich ins Englische übersetzt habe – immer wieder betont, dass die Kategorien der Analyse, wie sie selbst von haitianischen Intellektuellen seit langem verwendet werden, grundlegend kritisiert werden müssen. Eine Überarbeitung ihrer Denkmuster würde laut Casimir dazu beitragen, einen gangbaren politischen Weg zu finden, der auf den Visionen und der Weltanschauung der haitianischen Bevölkerung basiert und nicht auf denen von Interessengruppen, die den Bestrebungen und Praktiken der Haitianer*innen seit jeher feindlich gegenüberstehen. Die traditionellen Muster, in Haiti einzugreifen, darunter der Einsatz ausländischer Truppen und humanitäre Interventionen, scheinen zumindest vorläufig ausgereizt zu sein. Derzeit besteht das Dilemma darin, dass die heftigen Krisen, mit denen die haitianische Bevölkerung konfrontiert ist, dringend angegangen werden müssen, aber nur ein tiefgreifendes und umfassendes Umdenken über die Möglichkeiten des Landes zu einem gangbaren Weg in die Zukunft führen kann. Das benötigt Zeit, und es scheint, als bliebe keine Zeit mehr.

LARB-Mitarbeiter Laurent Dubois ist John L. Nau III Bicentennial Professor für Geschichte und Prinzipien der Demokratie an der University of Virginia sowie Co-Direktor für akademische Angelegenheiten der Democracy Initiative der UVA. Er ist Spezialist für die Geschichte und Kultur der atlantischen Welt und seine wissenschaftliche Arbeit umfasst die Karibik (insbesondere Haiti), Nordamerika und Frankreich. Zum 200. Jahrestag veröffentlichte er 2004 mit „Avengers of the New World. The Story of the Haitian Revolution“ (Die Rächer der Neuen Welt. Die Geschichte der Haitianischen Revolution) eine bahnbrechend neue Interpretation dieser einzigartigen Revolution.

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Diese Besprechung erschien ursprünglich am 30. Januar 2024 in der Los Angeles Review of Books unter dem Titel „Haiti Reimagined: On Marlene L. Daut’s ‚Awakening the Ashes‘ and Jake Johnston’s ‚Aid State‘“, online einsehbar hier.

Die Veröffentlichung der Überersetzung wurde ermöglicht durch eine Spende von ILA – Das Lateinamerika-Magazin. Die Nummer 483 aus dem März 2025 enthält einen Schwerpunkt zur Geschichte und aktuellen Situation von Haiti, siehe online hier.

Zusätzliches Material

The Ransom: A New York Times Investigative Project. The New York Times. 23. Mai 2022, updated 09. Mai 2025, online einsehbar hier.

Angaben zu den besprochenen Büchern

Marlene L. Daut 2023: Awakening the Ashes. An Intellectual History, University of North Carolina Press, Chapel Hill, NC. ISBN 978-1-4696-7684-5. 440 Seiten. Ca. 33,00 Euro.

Jake Johnston 2024: Aid State. Elite Panic, Disaster Capitalism, and the Battle to Control Haiti, St. Martin’s Press, New York, NY. ISBN 978-1-2504-0596-8. 384 Seiten. Ca. 19,00 Euro

Zitathinweis: Laurent Dubois: Haiti neu denken. Erschienen in: Kein Mensch ist eine Insel – oder doch? 76/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/YatUy. Abgerufen am: 17. 07. 2025 09:44.