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Nautisches Himmelfahrtskommando

Buchautor_innen
Simon Füchtenschnieder
Buchtitel
Meuterei im Paradies
Buchuntertitel
Die Fahrt der Bounty und die globale Wirtschaft im 18. Jahrhundert

Klassenkampf auf hoher See, paradiesische Inseln und botanischer Imperialismus verflechten sich in diesem globalen Wirtschaftskrimi zu einer vielschichtigen Erzählung.

Packend und historisch differenziert setzt Füchtenschnieder die wahrscheinlich berühmteste Meuterei der Menschheit in ihren materialistischen und globalgeschichtlichen Kontext. Ruder voll und bei!

Im Dezember 1787 startete Kapitän William Bligh mit der Bounty von Spithead in Richtung Südsee. Der Kapitän wurde von der britischen Krone damit beauftragt, die polynesische Brotfrucht aus Tahiti in die Karibik zu transportieren, um die dortige Versorgung der zahlreichen und unterernährten Sklav:innen zu verbessern. Dieser „botanische Imperialismus“ (S. 7) geschah ganz im Sinne des christlichen „Providentialismus“, der naturnahen Theologie, die Entdeckertum und die Errichtung von Kolonien als von Gott vorherbestimmt ansah. Diese wurde in interessenskongruenter Einheit mit der neuen Wissenschaftspolitik der institutionalisierten Aufklärung von Royal Society und Royal Navy auf ihren Entdeckungs-, Handels- und Eroberungsreisen praktiziert. Vor allem das Interesse der karibischen Plantagenbesitzer gab den Ausschlag der Reise, auf die der Kapitän trotz mehrfacher Beteuerung mit einem für die lange Reise viel zu kleinem Schiff unterausgerüstet und mit mangelhafter Kommandostruktur auf eine Art „nautisches Himmelfahrtskommando“ (S. 173) geschickt wurde.

Nach einem kurzen Zwischenstopp auf Teneriffa sollte die Reise der Bounty eigentlich Kap Horn umrunden, was allerdings nach 30 Tagen Sturm, Hagel und Schnee aufgegeben werden musste. Stattdessen nahm die Bounty den entgegengesetzten Weg über das Kap der Guten Hoffnung und den Indischen Ozean und damit über 10.000 zusätzliche Seemeilen schwermütig in Kauf. Im August 1788 erreichte Bligh mit der Bounty Tasmanien und nahm Wasser, Proviant und Holz für Reparaturen auf, bevor sie das sich als waschechtes Paradies entpuppende Tahiti erreichten. Die Freundlichkeit und sexuelle Offenheit der Tahitianer:innen, die fruchtbare und üppige Versorgungslage sowie der sich entspannende Arbeitsalltag an Land machte das langersehnte Ziel zur lebensfreundlichen Idylle, an die sich die Mannschaft gut und schnell gewöhnte. Der harte Kontrast zum fabrikähnlichen Leben auf See unter einem als jähzornig und pedantisch wahrgenommenen Kapitän wird heute als einer der Hauptursachen für die kommende Meuterei eingeschätzt.

Der tatsächliche Auslöser für die Meuterei, die nur drei Wochen nach dem Aufbruch aus dem gelobten Land – mehr spontan als von langer Hand geplant – ausbrach, erscheint nun eher als Lappalie: der Bestand der Kokosnüsse an Deck entsprach am Morgen nicht mehr der vom Proviantmeister angegebenen Menge. Das von Misstrauen und Anschuldigen schwer belastete Band zwischen Kapitän und großen Teilen seiner Crew riss. Die Meuterer ließen William Bligh noch im Schlafanzug an Deck bringen und auf ein kleines Beiboot aussetzen. 18 Seeleute gingen freiwillig oder unfreiwillig mit ihm und nur seinem Schreiberling ist es zu verdanken, dass Kapitän Bligh auch sein Navigationswerkzeug überlassen wurde. Und dann gelang Bligh eine „nautische Meisterleistung“ (S. 18), in 48 Tagen erreichte die auf offenem Meer ausgesetzte Barkasse das mehr als 3.500 Seemeilen entfernte Kupang auf Timor und damit einen sicheren Hafen der niederländischen Ostindienkompanie.

Zurück in England wurden einige der gefassten Meuterer nach Gefangennahme vor Gericht gestellt. Der Gerichtsprozess fand allerdings ohne den Kapitän selbst statt, da dieser schon wieder unterwegs in die Südsee war. Diesmal mit zwei Schiffen und deutlich besser ausgerüstet. Mit Bedacht und besserer Vorbereitung gelang beim zweiten Versuch, was zunächst so kläglich scheiterte. Mehrere hundert Setzlinge des Brotfruchtbaumes und anderer tropischer Pflanzen wurden auf St. Helena, St. Vincent, Jamaika und im Londoner Botanischen Garten verpflanzt und änderten damit nachhaltig die Vegetation und die Küche der Karibik. Und die nicht-gefassten Meuterer siedelten und überlebten auf der einsamen Insel Pitcairn, wo ihre Nachfahren bis heute den Großteil der Bevölkerung des Mikrostaates stellen. Alkoholmissbrauch, freikirchliche Selbstüberhöhung, Vergewaltigung und Mord prägten die Geschichte der kleinen Insel-Gemeinschaft, die nun versucht, Kreuzfahrtmassentourismus anzulocken, um ihr Überleben zu sichern.

Dialektik der Industrialisierung der Seefahrt

Anders als die Hollywood-Verklärung der Meuterei als Heldentat gegenüber der Tyrannei zeichnet Füchtenschnieder hier ein differenzierteres Bild. Kapitän Bligh war kein sadistischer Menschenschinder. Er machte nie von der – bei der britischen Royal Navy üblichen – Bestrafung durch Erhängen Gebrauch und auch die Peitsch-Strafe war ihm ein Graus. Vielmehr musste er sich vorwerfen lassen, zu wenig auf Ordnung und Disziplin an Bord geachtet zu haben. Er war so versessen auf die Erfüllung seiner Mission, dass er darüber den menschlichen Kontakt zu seiner Mannschaft verlor. Die wiederum gewöhnte sich über den langen Aufenthalt auf Tahiti so sehr an das angenehme Leben auf der Paradiesinsel, dass eine Rückkehr auf den entbehrungsreichen Bordalltag für sie unerträglich schien.

Die Meuterei auf der Bounty macht damit die gesamte Widersprüchlichkeit der vorindustriellen Seefahrt bildhaft. Auf der einen Seite das streng-rational vermeintlich wissenschaftlich-aufklärerisch begründete Streben nach Macht, Profit und Effizienz, für das die britische Royal Navy als erster „Global Player“ (S. 93) steht, personifiziert im Kapitän der Bounty William Bligh als nautisches Genie, der seiner Mission treu ergeben ist. Demgegenüber stehen seine Widersacher als Klassenkämpfer da: die Meuterer, die mehr von den süßen Seiten des Lebens genießen wollten, sich schnell ans „Laissez faire“ des mehrmonatigen Paradieslandganges gewöhnten und keine Lust auf den fabrikähnlichen Alltag mehr hatten. „Zumeist waren Meutereien […] Arbeitskämpfe, bei denen es Besatzungsmitgliedern darum ging, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu verbessern.“ (S. 10) So erkämpften sie sich Freiräume, die sie allerdings nicht nur zur kollektiven Befreiung nutzen, sondern auch in „zielloser Verwirrung“ (S. 23) zu neuer sexueller und kolonialer Unterdrückung, die bis in die jüngste Vergangenheit reicht (vgl. Adam/Schneider 2019).

Gleichzeitig hatte die Kooperation zwischen der wissenschaftlichen Royal Society und der militärisch-imperialistischen Royal Navy auch etwas Aufklärerisches: Die Mission der Bounty war im Grunde genommen, die Ernährungssituation der Sklav:innen in der Karibik zu verbessern. Jedoch war auch hier der „Geist der Aufklärung“ klar dem Ziel der Weltunterwerfung untergeordnet. Und doch wäre eine Charakterisierung der Meuterei als Klassenkampf an Bord zu kurz gegriffen. Spannend an Füchtenschnieders Ansatz ist, dass er nicht einfach nach Gut und Böse, nach Held und Tyrann sucht, sondern die Wechselwirkung der historischen Umstände und der sich darin bewegenden Individuen erforscht. So verdichtet sich in dieser komplexen Geschichte der Export der vormodernen Klassengesellschaft aus Großbritannien in die Welt, bis auf die letzte unberührte periphere Insel, als Dialektik der Industrialisierung der Seefahrt – und liefert auch Erkenntnisse über ihren spirituell-technischen Unterbau sowie den Widerstand gegen diesen Exportschlager.

Der Export der vormodernen Klassengesellschaft

Füchtenschnieder zeigt damit auf, wie sehr doch die heutige Welt, ihre Biodiversität, die Bevölkerungsstrukturen als auch die globalen Menschen- und Handelsströme schon durch die Frühphase der Globalisierung und ihrer segelnden Mikrogesellschaften geprägt wurden – zum Guten wie zum Schlechten.

Die Ironie, dass sich die Sklav:innen von Jamaika und den anderen karibischen Inseln der Brotfrucht geschmacklich verweigerten und die gesamte Expedition damit materiell schlicht bedeutungslos machten, ist eine süffisante Pointe der Geschichte. Durch die kollektive Geschmacksverweigerung hat die Moral dem Fressen hier doch ein Schnippchen geschlagen.

Diese Rezension schrieb Tilman von Berlepsch auf der Dreimastbark Alexander von Humboldt II auf ihrer Nordatlantiküberquerung aus der Karibik über die Azoren nach Festlandeuropa im März 2025.

Zusätzliche Literatur

Adam, Rhiannon, Schneider, Franca: Pitcairn: Die dunkle Vergangenheit der Bounty-Insel. Refinery29, 4. Februar 2019. Online einsehbar hier.

Simon Füchtenschnieder 2024:
Meuterei im Paradies. Die Fahrt der Bounty und die globale Wirtschaft im 18. Jahrhundert.
Klett-Cotta.
ISBN: 978-3-608-98773-7.
304 Seiten. 25,00 Euro.
Zitathinweis: Tilman von Berlepsch: Nautisches Himmelfahrtskommando. Erschienen in: Kein Mensch ist eine Insel – oder doch? 76/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/hrmtP. Abgerufen am: 17. 07. 2025 17:40.

Zum Buch
Simon Füchtenschnieder 2024:
Meuterei im Paradies. Die Fahrt der Bounty und die globale Wirtschaft im 18. Jahrhundert.
Klett-Cotta.
ISBN: 978-3-608-98773-7.
304 Seiten. 25,00 Euro.