Lebende Tote
- Buchautor_innen
- Lisa Guenther
- Buchtitel
- Solitary Confinement
- Buchuntertitel
- Social death and its afterlives
Häftlinge in Isolation haben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Eine philosophische Streitschrift plädiert für die Abschaffung dieser Foltermethode.
Im Jahr 1842 reiste der damals neunundzwanzigjährige Autor Charles Dickens durch Amerika. In seinen Reiseaufzeichnungen „Notizen aus Amerika“ hielt er einen Querschnitt der von Sklaverei und Klassenunterschieden geteilten Republik fest. Er besuchte auch mehrere Gefängnisse, in denen Sträflinge auf neue Weise inhaftiert waren. Der humanistische Anspruch der Zeit war, die Verbrecher*innen von allen sozialen Kontakten zu isolieren, damit diese in der einsamen Reflektion bereuen könnten. Von den Zuständen ist Dickens schockiert und hält dies in seinen Notizen fest:
„[Der Gefangene] ist lebendig begraben, um nach dem langsamen Lauf der Jahre wieder ausgegraben zu werden. In der Zwischenzeit ist er für alles tot, nur nicht für die quälenden Ängste und die schreckliche Verzweiflung“ (Dickens 1980, S. 160).
Lisa Guenther nimmt Dickens‘ Bericht als einen ihrer Ausgangspunkte, um die Entwicklung der Isolationshaft in den USA nachzuvollziehen. Die Philosophin betrachtet in ihrem Band „Solitary Confinement. Social Death and its Afterlives“ diese Inhaftierungstechnik, bei der Häftlinge in winzigen Zellen festgehalten und von nahezu allen bedeutungsvollen Kontakten zu anderen Menschen abgeschnitten werden, von ihrem Entstehen zu Beginn des Neunzehnten Jahrhunderts bis zu ihrer aktuellen Ausprägung in Supermax Gefängnissen aus phänomenologischer Perspektive. Zu ihrer Grundlage macht sie Berichte aus erster Hand, die sie mit Theorien von Edmund Husserl, Emmanuel Levinas und Maurice Merleau-Ponty gegenliest.
Das „Haus der Reue“
Die Isolationshaft entwickelt sich im Übergang vom Strafen nach dem Prinzip „Ein Auge für ein Auge“ hin zur Idee der Reflektion und Besserung der Gefangenen, führt Guenther in einem historischen Abriss aus. Menschen sollten, ähnlich wie Robinson Crusoe auf seiner Insel, durch die Einsamkeit zu perfekten Bürgern werden. Am Beispiel Benjamin Rushs erklärt die Autorin, welche Philosophie hinter der Strafe stand. Dieser war ein großer Advokat der neuen Technik. Er war der Überzeugung, dass die Menschen von den krankmachenden äußeren Einflüssen, die seiner Ansicht nach gleichermaßen zu psychischen Erkrankungen wie Verbrechen führten, zu heilen wären. Diese humanitäre Idee einer Reinigung durch Abschirmung von der Gesellschaft stand von Beginn an in einem Spannungsverhältnis mit dem Willen zu strafen.
Rush selbst waren die Folgen bewusst. So bezog er sich positiv darauf, dass Inhaftierte in Isolation ihren Verstand verlören. Um diesen Effekt zu maximieren, entwarf er das „Haus der Reue“. In dem Asylum für Verbrecher*innen sollten die Inhaftierten in winzigen Zellen aus sich selbst heraus ihre Taten reflektieren. Was Dickens so eindrücklich beschreibt, müsse auch Rush gewusst haben, schreibt Guenther. Dennoch hielt dieser an der Methode fest und schickte sogar seinen eigenen Sohn in eine psychische Klinik, die nach demselben Prinzip funktionierte. Guenther legt dar, dass der Humanist Rush aus seiner zeitgenössischen Überzeugung heraus, der Mensch sei eine abgeschossene Einheit, der ohne soziale Kontakte als Subjekt existieren könne, und der daraus folgenden Ideologie einen Selbstreinigungsprozess für möglich halten konnte. Ironischerweise sind die einzigen Menschen, die tatsächlich als von der Außenwelt abgeschnittene Einheit leben müssen, Isolationshäftlinge.
Supermax Gefängnisse
Von den Vollzugsanstalten zieht Guenther eine Kontinuitätslinie über Experimente mit Kriegsgefangenen im Kalten Krieg hin zu den Supermax Gefängnissen der Gegenwart. In den Einrichtungen mit „super-maximum security“-Standard werden die Insassen in Zellen von 4,3 bis zu 8,6 Quadratmetern verwahrt. Die fehlgeleiteten humanistischen Ideen von Reue oder Heilung sind hier nicht einmal vorgeschobene Intentionen. Diese Gefängnisse sind nach kapitalistischer Logik funktionierende Unternehmen, die Profite machen wollen.
22 bis 23,5 Stunden verbringen die Häftlinge in der ständig mit künstlichem Licht beleuchteten Zelle. Den Rest des Tages können sie draußen in einem Käfig verbringen. Nur dann haben sie die Chance den Himmel zu sehen. Dass diese Verhältnisse die psychische Gesundheit belasten und beispielsweise von solitarywatch.org als Folter bezeichnet werden, ist wenig überraschend. Die Gefängnisse rechtfertigen das Vorgehen damit, dass sie nur Schwerverbrecher*innen unterbringen würden. Wenngleich das die Verhältnisse nicht entschuldigen würde, zeigt Guenther auf, dass es nicht den Tatsachen entspricht. Eine überproportionale Zahl von People of Color, Latinx und Trans-Personen stecken in den Zellen, was in dem rassistischen und trans-feindlichen Justizsystem der USA und den Überzeugungen der Justizvollzugsbeamt*innen begründet liegt. Des Weiteren trifft es besonders häufig politisch aktive Häftlinge zum Beispiel von der Black Panther Bewegung.
Isolation aus phänomenologischer Perspektive
Jack Henry Abbott verbrachte in den sechziger und siebziger Jahren circa 14 bis 15 Jahre in Isolationshaft. Als Schriftsteller beschrieb er, wie sich seine Selbstwahrnehmung langsam auflöste, bis er sich nicht mehr mit seinem Körper oder seiner Stimme identifizierte.
„I heard someone screaming far away and it was me. I fell against the wall, and as if it were a catapult, was hurled across the cell to the opposite wall. Back and forth I reeled, from the door to the walls, screaming. Insane.” [„Ich hörte weit entfernt jemanden schreien und das war ich. Ich fiel gegen die Wand und wurde wie mit einem Katapult quer durch die Zelle an die gegenüberliegende Wand geschleudert. Hin und her taumelte ich, von der Tür bis zu den Wänden, schreiend. Wahnsinnig.“] (S. 37)
Wie hätte es dazu kommen können, wenn der Mensch eine abgeschlossene Einheit wäre? Mit Husserl, der die philosophische Strömung der Phänomenologie begründete, argumentiert Guenther, dass sich die Eigenwahrnehmung des Körpers in den Blick der Anderen und das eigene leibliche Empfinden teilt. Die Wahrnehmung von außen, die die eigene im gegenseitigen Bezug validiert, ist Häftlingen wie Abbott versagt. Um die Grenzen seiner selbst und des Raums für ihn erfahrbar zu machen, fühlt er sich gezwungen, Gewalt anzuwenden.
Dergleichen Berichte finden sich in Guenthers Buch zuhauf. Mit ihrer Herangehensweise legt sie auf einer philosophischen Ebene die falschen Grundannahmen von Isolationshaft dar. Sie selbst stellt heraus, dass die Abschaffung dieser Foltertechnik nicht ausreichen würde. Vielmehr plädiert sie dafür, aus einer philosophischen Perspektive Gefängnisse von Grund auf neu zu denken.
„But even critical phenomenology is not enough. We must also build a social movement of resistance to social death – a movement that makes good on the insights of critical phenomenology with ethical responsibility and political solidarity.” [„Aber auch kritische Phänomenologie reicht nicht aus. Wir müssen auch eine soziale Bewegung des Widerstands gegen den sozialen Tod aufbauen - eine Bewegung, die mit den Erkenntnissen der kritischen Phänomenologie mit ethischer Verantwortung und politischer Solidarität Gutes tut.“](S. 255)
In der detaillierten Studie liefert Guenther nicht nur ein engagiertes Plädoyer für die Abschaffung auch in Deutschland praktizierter Inhaftierungstechniken, sondern sie befragt mit dem Material auch kritisch ihre phänomenologische Theorie-Grundlage. Ihr Buch bleibt bei einer differenzierten Kritik der Isolationshaft stehen. Das Gefängnis an sich verurteilt sie zwar, dies bleibt jedoch ein kleiner Hinweis am Ende der umfassenden Arbeit. Sehr gut hebt sie hervor, wie die Sklaverei sich in einen rassistischen Blick auf Kriminalität übersetzt hat. Dass dies auch auf Grundlage von Klassenzuschreibungen geschieht, erwähnt sie nur kurz. Ebenso knapp wird die wirtschaftliche Einbindung der Gefängnisse angerissen. Welches ökonomische Interesse hinter der Inhaftierung steht, bleibt damit unkonkret. Dies würde bei ihrer vom individuellen Bericht ausgehenden Arbeit auch sehr weit führen. Guenthers aktivistisch motivierte Philosophie ist hoffentlich einer der Schritte, die zur Abschaffung von Isolationshaft und vielleicht sogar der Idee des Gefängnisses an sich führt.
Zusätzlich verwendete Literatur
Dickens, Charles (1980): Notizen aus Amerika. Rütten & Loening, Berlin.
Solitary Confinement. Social death and its afterlives.
University of Minnesota Press, Minneapolis/Minn..
ISBN: 978-0-8166-7958-4.
321 Seiten.