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Das andere Atlantis

Buchautor_innen
Thomas Morus
Buchtitel
Utopia

Würden wir für ein Leben ohne Mangel individuelle Freiheiten aufgeben? Eine inspirative Lektüre dieses utopischen Klassikers regt noch heute zu Fragen an.

Thomas Morus’ (1478–1535) Buch „Utopia“ (von altgr. outópos = Nicht-Ort) wurde im Jahr 1516 in lateinischer Sprache veröffentlicht, 1524 erschien die erste deutsche Übersetzung. Der Text ist also über 500 Jahre alt, auch geistig scheint uns die Zeit der Renaissance und des Humanismus fern. Doch ist „Utopia“ damit nur noch ideengeschichtlich für uns interessant?

Das in Dialogform verfasste Buch gilt als Urtext des sogenannten Utopischen Romans, einem Genre, das sich bis in unsere Gegenwart erhalten hat. Im Utopischen Roman wird die Hoffnung auf eine bessere Welt schnell von der Realität eingeholt: Auf der einen Seite geben Darstellungen idealer Gesellschaften wertvolle Anstöße dafür, wie wir leben könnten. Gleichzeitig haben diese Vorstellungen, aufgrund von Vereinfachungen komplexer Sachverhalte und unterschlagener Widersprüche, häufig einen schalen Beigeschmack. Als Linke sollten wir uns aber nicht dem Pessimismus hingeben und uns vor utopischen Entwürfen verschließen, denn in ihnen lässt sich zumindest die Möglichkeit einer besseren Welt erahnen.

Vom Gespräch zur Utopie

„Utopia“ ist als Dialog in zwei Teilen verfasst. Der Erste setzt sich hauptsächlich mit dem englischen Gesetz und den Vorbehalten des Sprechers diesem gegenüber auseinander. Erst der zweite Teil, mit dem Titel „Rede des Raphael Hythlodeus über die beste Staatsverfassung“, legt den Aufbau der Insel Utopia dar, die Thomas Morus ins Zentrum seines Romans rückt. Beide Dialoge finden zwischen dem Herausgeber Peter Aegid, dem Autor Thomas Morus und dem Philosophen Raphael Hythlodeus statt. Aegid stellt Morus Raphael Hythlodeus vor, den er wegen seiner vielen Reisen als Gesprächspartner empfiehlt und bittet diesen von seinen Erfahrungen zu berichten, die er während seines fünfjährigen Aufenthalts auf der Insel Utopia gemacht hat.

In Hythlodeus Bericht wird Utopia als eine kleine, überschaubare Insel dargestellt – die kreisförmige Landmasse hat gerade einmal einen Durchmesser von rund 320 Kilometern. Durch ihren abgelegenen Standort ist sie gegen potenzielle Angreifer geschützt, selbst per Schiff ist die Insel nur schwer erreichbar und kann an den wenigen Anlegern gut verteidigt werden: „[…] überall ist der Zugang zum Lande durch Natur oder Kunst so stark befestigt, dass selbst gewaltige Truppenmassen von wenigen Verteidigern abgewiesen werden können.“ (S. 125) Die geographische Sonderlage trägt insofern die explikatorische Last für Hythlodeus: Weil Utopias Regierung keine Angriffe von außen zu fürchten hat, kann sie sich – wie noch deutlicher wird – auf das Wohlergehen der Bevölkerung konzentrieren.

Einen der wichtigsten Punkte in Hythlodeus‘ Erzählung stellt die Eigentumsfrage dar, denn „[...] wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben“. (S. 109) So findet man auf Utopia weder eine Währung noch eine Tauschkultur. Wo Menschen einen rechtlichen Anspruch auf Güter erheben, entsteht die Neigung, Besitz anhäufen zu wollen – in der Voraussicht, künftigen Mangel zu verhindern. In einer Gesellschaft, in der es nicht genug Güter für alle gibt, entsteht dadurch eine Gruppe von Nicht-Besitzenden. Eine „gerechte und glückliche Politik“ wäre in diesen Verhältnissen für Hythlodeus unmöglich. Wenn niemand Ansprüche auf Besitz erheben könnte, wenn es keinen Staat gäbe, der solche Forderungen rechtlich durchsetzen würde, erst dann könnte eine Gesellschaft dynamisch mit ihren Ressourcen umgehen und sie dorthin lenken, wo sie gebraucht werden. Der kleine Inselstaat Utopia zeichnet sich gerade durch diese Infrastruktur aus: Güter sollen diejenigen erhalten, die sie brauchen, und zwar ohne Gegenleistung.

Work-Life-Balance

Eine eigentumslose Gesellschaft muss jedoch bestimmte Bedingungen in der Produktion ihrer Güter erfüllen, damit kein Mangel aufkommt. Dafür ist auf der Insel Utopia durch die Regierung gesorgt: Sie machte die Landwirtschaft zu ihrem wichtigsten Produktionszweig. Alle Inselbewohner*innen sind darin ausgebildet, einen Acker zu bestellen: „Ein Gewerbe ist allen Männern und Frauen gemeinsam: der Ackerbau; den versteht jedermann.“ (S. 141) Wenn nur genügend Leute landwirtschaftlich arbeiten, so erklärt Hythlodeus, dann ist der allgemeine Bedarf schnell gedeckt. Es gibt dann sogar einen Überschuss, der an Nachbarländer verkauft werden kann.

Genauso verhält es sich auch beim Wohnraum: Allen wird ein Haus gestellt. Die Lebensmittelversorgung ist schließlich bis zur Überproduktion gedeckt, so dass darüber hinaus der Häuserbau als Priorität behandelt werden kann. Bei Überpopulationen, die auf der kleinen Insel schon häufig vorgekommen sein sollen, werden Bürger*innen auf das nächstgelegene Festland geschickt, um dort ein neues Gebiet zu besiedeln. Stößt man im Zuge dessen auf andere Menschengruppen, soll eine Kolonie nur dann gegründet werden, wenn diese keine Bodenkultur pflegt – was aus heutiger Sicht natürlich sehr naiv klingt.

Aufgrund der optimalen Produktion und Verteilung von Gütern auf Utopia, berichtet Hythlodeus, müssen alle Bewohner*innen nur sechs Stunden pro Tag arbeiten. Die restliche Tageszeit können sie Freizeitbeschäftigungen nachgehen oder schlafen. Die örtlichen Vorsteher regulieren den Arbeitstag, sie sind damit beauftragt, „[...] dafür zu sorgen und Maßregeln zu treffen, dass keiner müßig herumsitzt, sondern jeder fleißig sein Gewerbe treibt, ohne indessen vom frühen Morgen bis tief in die Nacht beständig sich wie ein Lasttier abzurackern.“ (S. 145)

Und damit sind wir wohl auf das (notwendige) Übel gestoßen, ohne das sich Morus anscheinend keine ideale Gesellschaft vorstellen kann: Der Gewinn an individueller Sicherheit wird durch öffentliche Kontrolle bezahlt: „[...] überall sieht die Öffentlichkeit dem einzelnen [sic] zu und zwingt ihn zu der gewohnten Arbeit und zur Ehrbarkeit im Vergnügen.“ (S. 175) Die Strafe, die den Utopier*innen bei Arbeitsverweigerung droht, ist Versklavung. Obwohl der Arbeitstag auf ein Minimum reduziert ist, sodass genug Zeit für andere Beschäftigungen bleibt, hält Morus es also für notwendig, Instanzen einzusetzen, die das Individuum in seiner persönlichen Freiheit einschränken.

Zu beschönigt, um wahr zu sein

Der antiken Tradition des Dialogs gemäß, bleibt Hythlodeus Bericht von seinen Gesprächspartnern natürlich nicht unkommentiert, sodass die Morus-Forschung sogar behauptet, dass „Utopia“ als Satire gemeint sein könnte. Man kann zwar festhalten, dass „Utopia“ eine gut geschriebene Erzählung ist, die „Heilsamkeit“ des Textes – die am Anfang des Buches noch beworben wird – wird jedoch durch die erzwungene Widerspruchsfreiheit und die imaginierte Ausgangslage erkauft. Die besten Passagen von Morus‘ Inselmodell wirken inspirierend, der Text ist aber sicher nicht als praktische Anleitung für eine fortschrittliche Politik gedacht. Ferner kann man sich vielleicht eine Gesellschaft vorstellen, in der alle Individuen wie Zahnräder ineinandergreifen, ob sie aber möglich beziehungsweise überhaupt wünschenswert ist, bleibt zweifelhaft. Die Frage, die „Utopia“ uns schließlich zur Beantwortung aufgeben möchte, lautet: Würden wir für ein Leben ohne Mangel individuelle Freiheiten aufgeben?

Thomas Morus 1516:
Utopia.
Reclam Verlag.
ISBN: 978-3-15-000513-2.
189 Seiten. 5,80 Euro.
Zitathinweis: Daniel Grothkopf: Das andere Atlantis. Erschienen in: Kein Mensch ist eine Insel – oder doch? 76/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/Gpkga. Abgerufen am: 17. 07. 2025 16:40.

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Thomas Morus 1516:
Utopia.
Reclam Verlag.
ISBN: 978-3-15-000513-2.
189 Seiten. 5,80 Euro.