Worte und Wirklichkeit

- Buchautor_innen
- Omar El Akkad
- Buchtitel
- Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein
Der beinah poetische Essay rechnet mit der Doppelmoral des westlichen Liberalismus ab, der Kriege als alternativlos und Töten als legitim darstellt.
„Wofür sind Worte, die von jeder Wirklichkeit getrennt sind, gut?“ (S. 109), fragt der aus Ägypten stammende Journalist und Autor Omar El Akkad. In seinem Essay „Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein“ fragt er aber auch nach so viel mehr – und liefert gleichzeitig Antworten und zynische Befunde, wenn es um die Doppelstandards und die Heuchelei des westlichen Liberalismus geht: „Es ist die Aufgabe der Menschen aus dem Westen, Urteile über Leben und Tod zu fällen, die Aufgabe aller anderen ist es, zu sterben.“ (S. 76)
Wer darf existieren?
Ausgehend vom Gazakrieg und vor dem Hintergrund seiner eigenen Biografie als Muslim, Vater, Autor und Journalist in der Diaspora hält El Akkad westlichen Akteur*innen den Spiegel vor: Er zeigt, wie mittels Hierarchisierung, Abwertung und Othering (Prozess, bei dem Menschen als „anders“ und nicht zugehörig dargestellt werden, um Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, Anm. Red.) Konflikte und Kriege als notwendig und alternativlos dargestellt werden, wohingegen Widerstand und Befreiung höchstens im Rückblick als legitim betrachtet werden. Das gilt ebenso für die Subjekte, die sich im Kampf befinden und deren Unsichtbarmachung entlang kolonialistischer Logiken erfolgt: „Wessen Nichtexistenz ist notwendig für das Selbstverständnis dieses Ortes, und wie unkontrollierbar ist die Wut, wenn diese Nichtexistenz überschritten wird?“ (S. 26)
Der Essay ist in zehn Abschnitte gegliedert, in denen El Akkad zeigt, wie sich die Hegemonie des westlichen Imperialismus und seiner Großmacht auf Sprache, Werte, Widerstand und Angst auswirkt. Hierbei geht es um mehr als reine Privilegien, es geht um deren weitreichende Auswirkungen. Es geht um eine vermeintliche weiße Überlegenheit, die eine politische, ökonomische und rassistische Abwertung nicht-weißer Identitäten bedingt: „Das ist die Welt, die wir geschaffen haben, eine Welt, in der ein winziger Teil Privilegierter unersättlich konsumiert, während das Beste, worauf alle anderen hoffen können, ist, nicht konsumiert zu werden.“ (S. 103)
Wie lange darf existiert werden?
El Akkad stellt unbequeme Fragen und liefert ebenso unbequeme Antworten. Er tut dies in einer Sprache, die so bedeutungsvoll und schön ist, dass sie selbst wie eine Antithese zur Entmenschlichung und zum Töten manifestiert. Sie wird getragen vom Inhalt, der die Gleichgültigkeit und das Überlegenheitsgefühl demaskiert, das nicht zuletzt in journalistischen Arbeiten, beziehungsweise in der medialen Berichterstattung insgesamt, sichtbar wird.
„Wenn die Sterbenden als menschlich genug angesehen werden, um eine Diskussion zu rechtfertigen, muss eine Diskussion geführt werden. Wenn sie als nichtmenschlich angesehen werden, wird die Diskussion beleidigend, ein Angriff auf den Anstand.“ (S. 64)
Und auch:
„Regeln, Konventionen, Moral, selbst die Realität: Alles existiert nur so lange, wie diese Existenz zur Erhaltung der Macht notwendig ist. Andernfalls wird es, wie alles andere auch, entbehrlich.“ (S. 20)
Omar El Akkad schreibt über gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung, über das transgenerationale und epigenetische Leid, das sich nicht nur in Gaza, sondern auch in anderen Kriegen manifestiert, dort Wurzeln schlägt und immer weiter wuchert. Dabei ist er in seiner Darstellung schonungslos, aber nie unversöhnlich. Er gibt der Wut, der Verzweiflung, der Trauer und dem Schmerz, den er mit vielen anderen Muslim*innen und Araber*innen teilt, einen Raum, ohne dabei in Raserei zu geraten. Es ist vielmehr ein Appell an das Kommende: „Wenn die Vergangenheit vergangen ist, wird sich zeigen, dass die Toten nicht an ihrer eigenen Ermordung beteiligt waren.“ (S. 73)
Gegenwärtige Wirklichkeiten
Geschrieben im Jahr 2024 bildet El Akkad in seinem Essay gegenwärtige Wirklichkeiten und Diskurse ab, die für all jene absehbar waren, die sich in Bezug auf Gaza nicht aktiv am Wegschauen und an überheblicher Ignoranz beteiligt haben. Das Ziel der Vernichtung wurde von israelischer Seite unzählige Male öffentlich und offiziell formuliert, doch Journalist*innen und Politiker*innen übertreffen sich weiterhin gegenseitig in Abschwächung, Täuschung und Whataboutism, um nur ja nicht die „Rechtmäßigkeit“ und „Legitimation“ des Tötens zu unterminieren. Erfüllungsgehilf*innen, soweit das Auge reicht. Das war bereits bei den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak so, zeigt sich bis heute in Guantanamo und ist omnipräsent in der ohrenbetäubenden Gleichgültigkeit, wenn es um das Töten von BIPoC (Black, Indigenous and People of Color, Anm. Red.) weltweit geht.
„Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite begeistert. Auch, wenn ich nicht in jedem einzelnen Punkt oder Argument oder jeder Aufforderung zustimme, denn am Ende wird der Kapitalismus von El Akkad zwar problematisiert, aber nicht in Frage gestellt. So bleiben einige Überlegungen unvollständig und analytisch etwas unscharf, was aber den Worten des Autors insgesamt nicht abträglich ist. Dieser Essay wird vermutlich aber dennoch viele Leute verärgern, sie empören und von ihnen als skandalös oder deplatziert bezeichnet werden. Und genau deshalb ist er so wichtig, so klug, so eindringlich und ja, so lesens- und diskussionswürdig.
* Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Instagram-Buchblog der Rezensentin. Er wurde für die Veröffentlichung bei kritisch-lesen.de redaktionell bearbeitet und um einige Aspekte ergänzt.
Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein. Übersetzt von: Nouria Behloul.
Matthes & Seitz, Berlin.
ISBN: 978-3-7518-2071-4.
206 Seiten. 22,00 Euro.