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„Ankämpfen gegen die Normalisierung von Gewalt und Entrechtung“

„Ankämpfen gegen die Normalisierung von Gewalt und Entrechtung“
Interviewpartner_innen
Interview mit Annina Mullis (Legal Centre Lesvos)

Inseln spielen eine wichtige Rolle auf internationalen Fluchtrouten – und sind gleichzeitig die Orte, an denen die tödliche Gewalt von Grenzregimen auf erbarmungslose Weise sichtbar wird.

Hallo Annina, danke, dass du dir Zeit genommen hast für unser Gespräch. Du arbeitest als Anwältin für Geflüchtete, bzw. people on the move auf der griechischen Insel Lesbos. Was macht Inseln, konkret die Ägäischen Inseln, im Kontext des EU-Grenzregimes besonders?

Annina Da gibt es verschiedene Ebenen. Geografisch zum Beispiel: Ich schaue gerade aus meinem Fenster und sehe die Türkei, die von hier, also Mytilene auf Lesbos, etwa 18 Kilometer entfernt ist. Ich sehe, die Windräder sich drehen, so nah ist das. Bei der Ägäis-Insel Samos beträgt der geringste Abstand weniger als zwei Kilometer zum türkischen Festland – wobei da auf beiden Seiten militärisches Sperrgebiet liegt. Auch Lampedusa (Italien, Anm. Red) und die Kanarischen Inseln (Spanien, Anm. Red) bilden eine EU- und Schengengrenze, die näher liegt als das dazugehörige Festland.

Inseln sind im Hinblick auf Weiterreise leicht kontrollierbar. Das confinement, die faktische Einsperrung von Geflüchteten, lässt sich auf einer Insel leichter durchsetzen. So liegt eine ziemlich weite Strecke im große Meer zwischen Menschen on the move und dem griechischen Festland – und einer möglichen Weiterreise in andere EU- und oder Schengenstaaten. Politisch sind die Ägäischen Inseln insofern besonders relevant für die europäische Abschottung, als sie in den letzten Jahren durch den EU-Türkei-Deal zu Festhalte-Inseln definiert wurden. Dürften alle Menschen die Fähre, die von hier aus Sonntag bis Freitag nach Athen fährt, besteigen, dann wäre die Weiterreise kein Problem. Aber mit dem Deal wurde die sogenannte „geografische Restriktion“ eingeführt, die es Geflüchteten nicht mehr erlaubt, die Inseln zu verlassen. Sie sind bis zum Abschluss des Asylverfahrens gezwungen, auf den Inseln zu bleiben – es sei denn, es gab eine individuelle Aufhebung der geografischen Restriktion.

Aktuell ist aber insbesondere die Insel Kreta wegen der gestiegenen Ankünfte von Geflüchteten, die über Libyen gereist sind, im Fokus. Die griechische Regierung hat angekündigt, dass während drei Monaten keine Asylgesuche von Personen entgegengenommen werden sollen, die von Nordafrika aus nach Griechenland gekommen sind. Stattdessen sollen diese Personen rasch wieder abgeschoben werden. Ob und wie diese Pläne genau umgesetzt werden, kann zum Zeitpunkt dieses Interviews noch nicht abgeschätzt werden. Griechenland wurde jedenfalls von innerstaatlichen und Vertretern internationaler Organisationen bereits heftig dafür kritisiert, dass diese Maßnahmen EU- und Völkerrecht verletzen.

Würdest du sagen, dass Inseln unsichtbar machen, in welcher Weise menschliche Bewegungen stattfinden und wer wo ankommt? Sind Inseln versteckte Orte?

Ich denke, da ist eher die Frage der Zugänglichkeit der Insel für beispielsweise Berichterstattung relevant. Unzugänglichkeit lässt sich auf einer Insel natürlich leicht durchsetzen. Man denke an die ausgelagerten Asylzentren Australiens, wo Journalist:innen meines Wissens keinen Zutritt haben. Aber gerade Lesbos spricht für mich eigentlich gegen eine automatische Unsichtbarmachung: Bevor Moria im September 2020 abgebrannt ist, war dieses Lager ein medial breit transportiertes Sinnbild für die europäische Abschottungspolitik und für die Konsequenzen, die diese für die Betroffenen hat. Aber gleichzeitig hatten – neben Moria und Lesbos – alle anderen Inseln, Samos, Chios und so weiter, weit weniger Aufmerksamkeit, zumindest, was die Ägäischen Inseln anging. In Griechenland erscheint etwa die Grenzregion am Evros, die militärisches Sperrgebiet und deshalb für Recherche und zivilgesellschaftliche Beobachtung unzugänglich ist, viel mehr als Black Box als die Situation auf den Inseln, die ja nicht zuletzt auch wegen des Tourismus offengehalten werden.

Auch Lampedusa oder die Kanarischen Inseln stehen vielfach im Fokus – sie sind ebenfalls zugänglich für die Öffentlichkeit: Die Presse, die Forschung kann dahin und es gibt NGOs, die breite Kampagnen machen können und von dort berichten. Durch die Sozialen Medien gibt es auch für die Betroffenen selbst Mittel und Wege an der Presse oder NGOs vorbei, sich auszudrücken und Gehör zu verschaffen. Ich denke an „Now you see me Moria“, eine Kampagne, bei der Personen, die gezwungen waren, in Moria zu wohnen, an der Gestaltung von Plakaten beteiligt waren, um die Realität an diesem Ort zu illustrieren. Solange Zugänglichkeit für Leute von außen und Durchlässigkeit für die Leute drinnen erhalten ist, denke ich, liegt die Frage der Aufmerksamkeit und der Nicht-Aufmerksamkeit an anderen Faktoren als an der Geographie.

Das stimmt. Gerade, wenn man sich klassische Gefängnisinseln anschaut: also etwa die türkische Miniinsel İmralı, wo PKK-Chef Öcalan inhaftiert ist. Das ist eine komplett abgeschottete Strafinsel. Da kommt niemand hin. Aber auf Lesbos hast du eine eigenartige Gleichzeitigkeit mit dem Tourismus, der für Viele eine wichtige Einkommensquelle ist. Wie zeigt sich die Gleichzeitigkeit von ganz unterschiedlich ankommenden Menschen auf dieser Insel?

Diese Frage finde ich schwer zu beantworten. Diese Gleichzeitigkeiten finden ja zum einen überall statt, mancherorts ist es vielleicht weniger offensichtlich. Und zum anderen herrscht auch auf der Insel zusätzliche Containment-Politik: Die Eingrenzung von Geflüchteten findet nicht ausschließlich über die Geografie der Insel selbst statt, sondern es gibt vor Ort weitere Modi der Einsperrung durch Zäune, durch Mauern, in Closed Controlled Access Centers (CCAC), die außerhalb der Städte oder der touristischen Destinationen liegen. Ich weiß nicht, ob ich die parallele Existenz verschiedener Realitäten hier per se als gesteigert betrachten würde. Sie sind aber offensichtlicher. Es ist allgemein leicht vorstellbar, dass auf Inseln wie Lesbos verschiedene Realitäten nebeneinander existieren. An anderen Orten kann man sie vielleicht einfacher ausblenden, weil man dann nicht im Urlaub am Mittelmeer ist und aufs Wasser guckt und sich denken muss, wie viele Leute in diesem Meer bereits ertrunken sind. Oder jetzt gerade auf dem Weg sind, um in einem Schlauchboot dahin zu kommen, wo du selbst mit der Fähre gemütlich hingefahren bist.

Was beschäftigt dich auf Lesbos aktuell am meisten? Kannst du ein bisschen aus deinem Alltag dort berichten?

Ich arbeite hier als Anwältin. Ich bin aber keine griechische Anwältin und deshalb nur am Rande an der Rechtsarbeit rund um das griechische Asylverfahren beteiligt. Hier mache ich zum Beispiel interview preps, das heißt, ich bereite Geflüchtete auf ihre Asylinterviews vor und gebe ihnen allgemeine Informationen, wie diese Termine ablaufen. Ansonsten fokussiere ich auf international litigation, also Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, kurz EGMR, oder UNO-Gremien, wie dem UN-Menschenrechtsausschuss zum Beispiel. Das Legal Centre Lesvos, das ist die Rechtshilfeorganisation, mit der ich arbeite, ist darum bemüht, die Arbeit möglichst kollektiv zu organisieren – das heißt, ich bin auch mit regelmäßigen oder ad hoc Sitzungen und „kollektiver Reproduktionsarbeit“ beschäftigt. Meine juristische Arbeit findet viel am Computer statt und mit den Klient:innen kommuniziere ich meistens über das Handy, weil sie entweder wegen einem Pushback nicht auf Lesbos oder weitergereist sind, da solche internationalen Verfahren extrem lange dauern.

Was die Arbeit hier für mich prägt, ist die ständige Dringlichkeit aller Situationen und Anliegen, die an uns herangetragen werden. Dringlich ist es ja in der Arbeitsrealität von Anwält:innen oft, aber hier sehe ich mich schon mit einer anderen Existenzialität konfrontiert. Es kann sich ständig ein Notfall ereignen, der einer sofortigen Reaktion bedarf. Da kommen Nachrichten auf unserem Notfalltelefon rein, die einfach sofort beantwortet werden müssen – wie eben, als wir unser Gespräch eigentlich beginnen wollten und du dann einfach warten musstest, bis ein solcher Notfall bearbeitet war.

Ganz generell gilt: Durch die internationalen Verfahren, die wir führen, beschäftige ich mich aber in einem sehr großen Teil meiner Zeit mit Gewalt; mit der unfassbaren Brutalität an den Grenzen oder mit dem gewaltvollen System der Camps – heute CCACs. Und immer wieder, wenn ich dann von Lesbos weggehe – meine Lohnarbeit ist ja woanders, und da bin ich in gewisser Weise froh drum, immer wieder diesen „Zwang“ zu haben, der mich von dieser Insel wieder wegholt – also jedes Mal, wenn ich weggehe, bin ich erstaunt darüber, dass diese Themen in den Köpfen der Menschen andernorts nicht den gleichen selbstverständlichen Platz haben wie etwa für uns, die hier dazu arbeiten. Mich beschäftigt immer wieder, wie sehr das, was hier passiert, überhaupt keine Präsenz zu haben scheint in einer nord- oder westeuropäischen (Groß-)Stadt. Die Informationen sind ja da. Die Parallelität der Realitäten ist, wie ich schon zuvor gesagt habe, nicht kleiner, aber wohl einfacher zu verdrängen.

Wie sieht zum Beispiel so ein Notfall aus? Es kommt ein Anruf auf dein Telefon – was passiert dann?

Das Legal Centre Lesvos leistet Emergency Legal Assistance. Das heißt, wir haben eine öffentlich zugängliche Telefonnummer, bei der sich Personen melden können, die auf Lesbos angekommen sind und ein Asylgesuch registrieren wollen. In solchen Fällen unterstützen wir dabei, Zugang zum Asylverfahren zu erhalten. Das läuft so ab: Leute melden sich auf unserem Notfalltelefon. Wir sammeln alle notwendigen Informationen und schicken dann eine E-Mail an die griechischen Behörden, UNHCR, MSF (Ärzte ohne Grenzen, Anm. Red) und FRONTEX mit den Koordinaten, welche uns die Geflüchteten geschickt haben, sowie einer Zusammenfassung ihrer aktuellen Situation und des Unterstützungsbedarfs. Um in Griechenland ein Asylgesuch zu stellen, ist zwingend erforderlich, dass die griechischen Behörden informiert werden. In medizinischen Notfällen geht MSF zum übermittelten Standort, um die möglichst rasche Erstversorgung zu gewährleisten. Im Moment ist es zum Beispiel sehr heiß hier und wenn Personen ankommen, die kein Wasser und Essen haben, die physisch und psychisch geschwächt sind, sich vielleicht verletzt haben oder krank sind, dann braucht es schnelle Erste Hilfe. Wenn wir keine Antwort per E-Mail erhalten, in der die Unterstützung und Versorgung der Betroffenen bestätigt wird, gehen wir teilweise auch selber als Anwält:innen vor Ort, um so den Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten. Oder wenn die Gruppe nicht auf Lesbos ist, dann können wir, wenn nötig und wenn uns die Betroffenen dazu autorisieren, eine vorsorgliche Maßnahme beim EGMR beantragen. Das ist ein Gesuch um eine schnelle Intervention des Gerichts. Im Juni 2025 haben wir zum Beispiel für eine Gruppe von 29 Personen aus Afghanistan, die auf der Insel Symi angekommen waren, ein solches Gesuch gestellt, woraufhin der Gerichtshof die griechische Regierung angewiesen hat, die Geflüchteten zu lokalisieren, ihnen Zugang zum Asylverfahren und zu medizinischer Versorgung zu gewähren sowie mit Wasser und Nahrung zu versorgen. Über dieses Notfalltelefon waren wir 2024 mit 56 Gruppen in Kontakt. Von insgesamt 1735 Personen wurden die Asylgesuche anschließend registriert – 147 Menschen sind vermisst.

Mit dem Blick auf den größeren Kontext deiner Arbeit: Wie ordnest du die Entwicklungen ein im Hinblick auf die starke Militarisierung und Hochrüstung vieler Nationen, insbesondere der EU und im Zusammenhang mit rechtspopulistischen und reaktionär-autoritären Regierungen innerhalb Europas? Gibt es da eine Normalisierung der Gewalt, die nicht einmal mehr in beschönigende Worte gepackt werden muss?

Die offizielle Haltung der griechischen Regierung, die sie zum Beispiel in einer öffentlichen Anhörung vor dem EGMR am 4. Juni 2024 zum Ausdruck gebracht hat, ist, dass keine Pushbacks begangen und die rechtlichen Verpflichtungen eingehalten würden. Dabei ist die Pushback-Praxis und deren Systematisierung seit 2020 extrem gut dokumentiert. So hat auch der EGMR nach dieser Anhörung in zwei Fällen im Januar 2025 festgestellt, dass Belege für systematische Pushbacks von Griechenland in die Türkei bestehen. Aber wo bleiben die Konsequenzen? Wir erinnern uns an Anfang März 2020, als griechische Sicherheitskräfte mit scharfer Munition auf die Ankündigung des türkischen Präsidenten, die Landgrenze zu öffnen, antworteten und die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Griechenland im Gegenzug als das „Schild Europas“ bezeichnete. Griechenland handelt nicht isoliert – sondern für und mit mindestens dem impliziten Einverständnis aller EU- und Schengenstaaten.

Für mich ist das Gefühl des Ankämpfens gegen eine Normalisierung der Gewalt und eine sich stetig ausweitende Entrechtung sehr präsent. Wobei wir auch selbst aufpassen müssen, dass wir uns nicht an die Gewalt hier gewöhnen, sondern uns weiterhin schockieren lassen. Ob ich das Gefühl habe, dass mir ein immer stärkerer Wind ins Gesicht bläst? Nicht unbedingt, sondern eher, dass dieser Wind aus immer mehr Richtungen gleichzeitig weht, dass der Wind von überall herkommt. Aber vielleicht passen die Metaphern nicht, ich versuch es mal ohne: Das, was vor zehn oder vor fünf Jahren vielleicht noch undenkbar war, ist heute weitgehend akzeptiert oder wird mindestens hingenommen. Es eskaliert stetig weiter, was an Entrechtung und Gewaltanwendung im ganz Konkreten möglich ist. Aber ich muss natürlich auch miteinbeziehen, dass ich aus der privilegierten Position einer Person spreche, die mit ihrem Pass und finanziellen Mitteln die Möglichkeit hat, zu kommen und zu gehen. Auch wenn meine Arbeit ein gewisses Repressionsrisiko birgt, die Staatsgewalt richtet sich nicht direkt gegen mich. Ich sehe mich nicht als Adressatin des ständigen Ausbaus und der Externalisierung der Festung Europa. Sollte ich kriminalisiert werden, dann ja immer nur unmittelbar. Ich würde das als sekundäre Repression bezeichnen, weil die direkten Adressat:innen all dieser Gewalt und der Entrechtung sind ja people on the move. Vielleicht spüre ich den Wind auch deshalb nicht unbedingt?

Welche Entwicklungen oder Verschärfungen hast du in den letzten Jahren im Kontext eurer Arbeit auf Lesbos wahrgenommen?

Auch da gibt es verschiedene Ebenen: Über die Systematisierung und Eskalation der Grenzgewalt haben wir bereits gesprochen. Zudem ist eine stetige Verengung der Bewegungsfreiheit seit der Einführung des EU-Türkei-Deals bis hin zu den in den letzten Jahren eröffneten CCACs mit strengen Ein- und Ausgangskontrollen zu beobachten. Diese Confinement-Politik wurde jetzt ja auch in die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems aufgenommen, wonach Geflüchtete ihre Asylgesuche in einem Grenzverfahren in de facto Haftzentren an den Außengrenzen stellen sollen. Weiter wird zum Beispiel über die Anwendung des Sicherer-Drittstaat-Konzepts für Geflüchtete mit bestimmten Staatsangehörigkeiten die Hürde für den Zugang zum Asylverfahren erhöht oder – wie im März 2020 oder jetzt für Kreta wieder diskutiert – einfach ganz ausgesetzt. Hinzu kommt die Kriminalisierung von people on the move als sogenannte smugglers und die damit verbundene Verurteilung zu langen Haftstrafen oft in Prozessen, die den Standards eines fairen Verfahrens nach Artikel 6 EMRK (Anm. Europäischen Menschenrechtskonvention) nicht Stand halten. Aber auch unsere juristische Tätigkeit steht einem gewissen Kriminalisierungsdruck gegenüber. Obwohl die Emergency Legal Assistance, die wir bieten, letztlich nichts anderes ist, als Menschen beim Zugang zu international garantierten Rechten juristisch zu unterstützen, kann darum – wie auch bei der Seenotrettung – das Narrativ der Beteiligung an angeblicher Schlepperei gesponnen werden. Das führt auch dazu, dass gewisse rechtliche Hilfestellungen von Vielen nicht geleistet werden, was ja dann wieder zu einer gesteigerten Exponierung derer führt, die sie trotzdem leisten.

Und wenn wir noch kurz beim Blick auf die NGOs bleiben, dann sind fehlende Ressourcen ein großes Thema: Ob es eine Rechtshilfe oder auch eine andere NGO ist, eine nach der anderen stellen ihre Angebote ein, streichen Projekte oder müssen ihre Teams verkleinern. Es ist ein Abbau dessen, was alledem entgegengesetzt werden kann. Eine Gleichzeitigkeit zwischen kleiner werdender Basis – einer Gegenwehr, wenn wir das, was wir hier tun, überhaupt als solches bezeichnen können – bei gleichzeitig stetigem Ausbau dessen, wogegen wir uns wehren sollten.

An was machst du die Beobachtung fest, dass die juristische Arbeit an den Grenzen verstärkt unter Beschuss steht?

Unter direktem Beschuss weiß ich jetzt nicht, aber mir scheint, dass sich der mögliche Wirkungsrahmen stetig verengt. Das zeigt sich beispielsweise durch eine besorgniserregende Entwicklung mit der jüngsten Rechtsprechung vom EGMR im Zusammenhang mit Pushbacks. Im Januar 2025 wurden die zwei ersten Beurteilungen von Beschwerden gegen Griechenland veröffentlich in den Verfahren A.R.E v. Greece und G.R.J. v. Greece. In diesen beiden wird die, über verfahrensrechtliche Ausführungen vollzogene, Verengung des Schutzes für people on the move sichtbar.

Kannst du das anhand der Gerichtsentscheide etwas genauer darstellen?

Ich mache das mal am Urteil A.R.E v. Greece fest. Da hat der Gerichtshof unter anderem eine Verletzung von Artikel 3 festgestellt, das ist das Verbot von Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Zu Artikel 3 gehört auch das sogenannte Refoulement-Verbot (Das Prinzip, Menschen nicht auszuweisen, denen Haft, Folter etc. im Herkunftsland drohen, Anm. Red). Das A.R.E.-Verfahren bezieht sich auf eine Staatsangehörige aus der Türkei, die über die Landgrenze, also am Evros-Fluss, von der Türkei nach Griechenland geflüchtet war, mit zwei anderen Personen türkischer Staatsangehörigkeit. Sie wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen und dann später zurück in die Türkei gepusht. Dort wurde sie dann festgenommen und wieder inhaftiert. Da hat das Gericht eine Verletzung festgestellt. Das ist natürlich erstmal positiv zu werten, aber es muss dazu auch gesagt werden, dass die Fülle an Beweisen in diesem Fall wirklich ungewöhnlich hoch war: Die Beschwerdeführerin in A.R.E. hatte mit verschiedenen Leuten kommuniziert, sie hatte Kontakt mit ihrem Bruder, der hatte Kontakt mit UNHCR und mit einem Journalisten. Er hatte auch Kontakt mit einem Anwalt, der zum Ort gefahren ist, wo sich A.R.E. und die zwei anderen Personen aufhielten, der dann auch gesehen hat, wie die Polizei sie mitgenommen hat und so weiter. Da war wirklich sehr viel dokumentiert. Das ist ungewöhnlich, weil es eben zum Modus Operandi eines Pushbacks gehört, dass die Handys weggenommen werden und so mögliches Beweismaterial verschwindet, dass Kommunikation verunmöglicht wird, dass sich die Sicherheitskräfte, die an Pushbacks beteiligt sind, oft maskieren, damit sie nicht wiedererkannt werden können und so weiter. Auch wenn Griechenland in A.R.E. verurteilt wurde, muss leider gesagt werden: Wenn diese Beweisdichte künftig der Maßstab sein soll, wie gut ein Pushback dokumentiert sein muss, um eine Verletzung festzustellen, dann könnte das zur Folge haben, dass viele weitere Verfahren an dieser Beweishürde scheitern.

Auf die Beschwerde von G.R.J. ist der Gerichtshof am Ende des Tages aus prozeduralen Gründen nicht eingetreten und hat damit das Vorliegen einer Verletzung gar nicht erst inhaltlich geprüft. Solche Pushback-Rechtsprechung ist auch Ausdruck von dieser Gleichzeitigkeit, von der wir vorhin sprachen. Diese Dissonanz zwischen der Realität, die wir hier jeden Tag unmittelbar vor der Nase haben, und dem Rest Europas, in dessen Namen das hier alles passiert. Und wenn dann jene internationalen Gerichte, deren Auftrag ja eigentlich der Schutz der menschenrechtlich garantierten Rechte ist, deren systematische Verletzung auch noch stützen, dann frage ich mich manchmal schon, weshalb wir eigentlich tun, was wir tun.

Dennoch: Wie hältst du oder wie haltet ihr es aus?

Eben nicht wirklich gut. Zum einen bin ich sehr froh, dass ich nicht ausschließlich hier arbeite, meine Lohnarbeit ist meine Kanzlei in der Schweiz. Das ist einer der derzeit in meinem Leben bestehenden äußeren Faktoren, der mich immer wieder dazu bringt, mich von dieser Insel auch physisch wegzubewegen. Das ist sehr wichtig für meine persönliche Gesundheit. Dieser Ort kann dich schon sehr vereinnahmen, eigentlich so richtig verschlucken. Und zum anderen redest du gerade mit einer Person, die sich entschieden hat, wieder von hier wegzuziehen. Zwar möchte ich die Arbeit hier nicht beenden und an den begonnen Verfahren dranbleiben, was auch heißen wird, dass ich mit diesem Ort hier verbunden bleibe und weiterhin Zeit hier verbringen werde. Aber du redest trotzdem mit einer Person, die nicht bleibt, die wieder geht, um... wie soll ich das sagen?

Um nicht verschluckt zu werden...

Ja. Es ist schon auf sehr vielen verschiedenen Ebenen ein extrem intensiver Ort. Wenn ich ehrlich bin, dann halte ich das alles eigentlich gar nicht wirklich aus. Was für mich kein Grund sein soll, mich dem einfach ganz zu entziehen.

Im Sinne von: Es ist unerträglich, aber ich muss es ertragen? Eine Dissonanz, die unvereinbar ist?

Das bringt es eigentlich auf den Punkt. Es ist unaushaltbar. Und trotzdem müssen/wollen wir es aushalten. Am besten denke ich, geht das, wenn wir so gut wie möglich auch aufeinander schauen. Was mal mehr und mal weniger gelingt.

Das, was du sagst, ist so relevant, auch für die Frage nach dem Survival innerhalb linker Strukturen und Bewegungen. Diese Aspekte dürfen nicht ausblendet werden, denke ich.

Ja, ich möchte auch dieses Heldinnen-Narrativ nicht befeuern. Es bedarf für mich schon sehr viel Auseinandersetzung, um das hier tragen zu können. Das ist nicht einfach ein „ich kann das, weil ich so krass bin“. Sondern das ist bewusste Reflexionsarbeit: über mich, über die Grenzen meines Tuns, darüber, wo ich persönlich Machtverhältnisse reproduziere oder wie wir das auch als und innerhalb unseres Kollektivs tun. Was für mich ganz persönlich am schwierigsten auszuhalten ist, ist die Begrenzung des Möglichen. Das, womit wir hier jeden Tag konfrontiert sind, nicht unmittelbar beenden zu können. Zu wissen, dass die Gewalt einfach weiter geht und weiter geht. Von meinem Wohnzimmer aus sehe ich jeden Abend die Küstenwache den Hafen verlassen und jeden Morgen wieder zurückkommen. Trotz der verschiedenen rechtlichen Interventionsversuche ist unser Einflussbereich am Ende des Tages doch sehr limitiert. Und damit umzugehen und sich davon abzuhalten, permanent über die eigenen Grenzen hinaus zu gehen – was mir zugegebenermaßen nicht besonders gut gelingt – und dabei trotzdem das bestehende Gefühl der Wirkungslosigkeit oder der Nutzlosigkeit auszuhalten, das ist herausfordernd. In der letzten Zeit bin ich oft unfassbar wütend. Und ich brauche eine Verschnaufpause.

*

Das Gespräch führte Johanna Bröse.

Zitathinweis: Johanna Bröse: „Ankämpfen gegen die Normalisierung von Gewalt und Entrechtung“. Erschienen in: Kein Mensch ist eine Insel – oder doch? 76/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/BtiJK. Abgerufen am: 16. 07. 2025 05:24.