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Die Insel des Außergewöhnlichen

Buchautor_innen
Nathalie Peutz
Buchtitel
Islands of Heritage
Buchuntertitel
Conservation and Transformation in Yemen

Socotra wird als unberührte Trauminsel gezeichnet, die zur Wahrung ihrer Vielfalt Hilfe von außen benötigt. Solche Narrative nützen vor allem den ökonomischen Interessen anderer Staaten und verschleiern die geopolitische Relevanz der Insel.

Tarek sagt: „Alles, was man gelernt hat außerhalb der Insel, verliert man wieder, wenn man hierher zurückkommt. Weil man es hier nicht braucht“. Tarek ist noch jung und hofft, irgendwann noch ein weiterführendes Studium in Saudi-Arabien oder Ägypten zu machen. Schon jetzt sei er der erste Lehrer in seinem Fach auf der Insel Socotra. Etwa 240 Kilometer östlich vom Horn von Afrika und 385 Kilometer südlich der Arabischen Halbinsel gelegen, ist die jemenitische Insel die zweitgrößte Insel im westlichen Indischen Ozean. Zusammen mit ihren Nachbarinseln Abd al-Kuri, Samha und Darsa bildet sie das Socotra-Archipel – eine der botanisch vielfältigsten Inselgruppen der Welt.

Vor allem aufgrund ihrer 700 endemischen Pflanzen und Tiere – darunter der weltberühmte Drachenblutbaum (Dracaena cinnabari) oder das einzige baumförmige Kürbisgewächs der Welt, der Gurkenbaum (Dendrosicyos socotranus) – ist Socotra seit 2008 UNESCO-Welterbe.

„Die Insel wurde zu einem Touristenziel, das vor allem europäische Besucher:innen anzog. Sie kamen wegen der weißen Sandstrände, aber auch wegen genau jener Erzählungen, die Reisende schon seit der Zeit von Thomas Roe angezogen hatten: Socotras ‘seltsame’ Flora, ihre ‘mysteriöse’ christliche Vergangenheit, ihre ‘legendären’ Verbindungen zu den Portugiesen, ihre ‘merkwürdige’ Zauberei – und ihre ‘vergessene’ Natur” (S. 30, Übersetzung AT)

schreibt die Anthropologin Nathalie Peutz in ihrem Buch „Islands of Heritage - Conservation and Transformation in Yemen“. Es wurde 2018 veröffentlicht und hat seitdem wenig an seiner Aktualität eingebüßt.

Umkämpfte Heritage-Politik

Peutz stellt in ihrem Buch fest, dass sich auf globaler Ebene ein doppelter Trend beobachten lässt: Einerseits wachse die symbolische wie ökonomische Aufwertung von „immateriellem Erbe“, das von Staaten und Organisationen als Ausdruck nationaler oder ethnischer Identität vermarktet wird – oft unter Ausblendung innergesellschaftlicher Unterschiede. Andererseits werde das kulturelle Erbe selbst zum Schlachtfeld geopolitischer Interessen: „Die neuen Kriege des 21. Jahrhunderts werden ebenso auf dem Terrain des kulturellen (und im Falle von Socotra auch ökologischen, Anmerkung AT) Erbes geführt wie um andere knappe Ressourcen“ (S. 19), so ihr Befund. Die gezielte Zerstörung historischer Stätten – etwa in Afghanistan, Palästina, Syrien, im Irak oder im Jemen – ist Ausdruck dieser symbolischen Kriegsführung. Und auch die Heritage-Industrie und die Konstruktion nationaler historischer Stätten, wie sie zum Beispiel von den Golfstaaten betrieben werden, kann als symbolische Machtgeste gelesen werden. Dabei bleibt die internationale Heritage-Politik selbst nicht neutral: Das Weltkulturerbe-Konzept von UNESCO etwa folgt nach wie vor einer eurozentrischen Unterscheidung zwischen „Natur“ und „Kultur“, zwischen „materiellem“ und „immateriellem“ Erbe – eine Aufteilung, die nicht nur wissenschaftlich problematisch ist, sondern auch koloniale Machtverhältnisse reproduziert. Kulturerbe, so erinnert Peutz unter Bezug auf den Archäologen Rodney Harrison, sei selten unschuldig. Es werde fast immer im Kontext politischer Ansprüche eingesetzt, die bestimmte „Wahrheiten“ über Identität, Geschichte oder Zugehörigkeit festschreiben. Beispielsweise legitimieren die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Präsenz auf Socotra unter anderem mit der größten Socotrischen Diaspora in Abu Dhabi und deren Erbe, welches sie helfen wollen zu bewahren.

Gar nicht so unberührt

Tarek arbeitet nebenbei als Tourguide. Von seinem Lehrergehalt kann er seine Familie nicht ernähren. Tourismus ist lukrativer. Sechs Monate im Jahr führt er Öko- und Abenteuertourist:innen aus Europa, Russland, China und den Golfstaaten zu ausgewählten Naturschauplätzen auf der Insel. Die restlichen sechs Monate weht der Monsunwind so stark, dass die Insel von der Außenwelt fast gänzlich abgeschnitten ist und die Bewohner:innen sich in die Häuser zurückziehen. Auch die Schulen sind dann geschlossen.

Tarek hat auch schon von der Anthropologin Peutz gehört, die für ihre teilnehmende Beobachtung über Jahre auf der Insel gewohnt hat. Die Welt auf Inseln ist nicht sonderlich groß, und Tarek ist an der Geschichte des kleinen Flecken Erde sehr interessiert.

Über Jahrhunderte hinweg war die Insel christlich geprägt. Seit 1967 gehört Socotra zum Jemen als Teil der sozialistischen Republik Südjemens (bekannt als Demokratische Volksrepublik Jemen, DVRJ). Der Staat Jemen in seinen heutigen Grenzen entstand erst durch die Vereinigung des kapitalistischen Nordjemens mit dem sozialistischen Südjemen nach Ende des Kalten Krieges (1990). Peutz beschreibt Socotra in dieser Ära als militärisches Sperrgebiet. Man sieht bis heute noch sowjetische Panzer an der Nordküste, die längst als vor sich hin rostende Ungetüme Teil der kapitalistischen Vermarktung der Insel wurden. „[Die sozialistische Phase] war die Zeit, die die Socotri heute als die Phase bezeichnen, in der ihre Insel am stärksten von der Außenwelt abgeschottet war: Man benötigte eine Erlaubnis, um die Insel zu verlassen, und ausgewanderte Verwandte durften nicht zurückkehren” (S. 29, Übers. AT), schreibt Peutz. Gleichzeitig wurde zu dieser Zeit einiges an Infrastruktur aufgebaut: Straßen, Verwaltungsgebäude, Kooperativen und Schulen; die Insel war säkular ausgerichtet. Nach der Vereinigung geriet Socotra zunehmend unter den Einfluss konservativer islamischer Kräfte. Diese, sowie Armut und Unsicherheit führten dazu, dass viele Familien Bildung für Mädchen als nachrangig betrachteten. Heute tragen die Frauen schwarze Abayas mit Gesichtsschleier. Viele von ihnen sprechen einen der socotrischen Dialekte, die keine genaue Schriftsprache kennen, der Zugang zu Bildung ging zurück.

Wettrennen um Handelsrouten und ökonomischen Einfluss

Schon viele Jahrzehnte wetteifern die Großmächte um die Vorherrschaft im Arabischen Meer sowie um die Handelsroute durch das Rote Meer und den Suezkanal. Die Bedeutung der Passage ist auch für Europa immens. Mit der zunehmenden Rivalität zwischen China und den USA seit der Veröffentlichung des Buches im Jahr 2018 haben sich die geopolitischen Spannungen um Socotra noch zugespitzt.

Nach dem 7. Oktober 2023 begannen die Houthi-Rebellen im Jemen, in erklärter Solidarität mit den Menschen in Gaza, immer wieder Handelsschiffe und Öltanker anzugreifen. Es kam zu massiven Störungen in den globalen Lieferketten. Eine US-geführte Koalition startete daraufhin Luftangriffe auf Houthi-Stellungen. Im Zuge des israelischen Krieges gegen den Iran im Juni 2025 kam es auch zu einer intensivierten Militarisierung des Golf von Aden. Die Vereinigten Arabischen Emirate verfolgen die Strategie, die neue Schutzmacht der Handelsroute durch das Rote Meer zu werden. Socotra spielt in diesen Plänen eine wichtige Rolle. Bereits im Jahr 2018 besetzten die Vereinigten Arabischen Emirate die jemenitische Insel, setzten die lokale Insel-Regierung ab und ersetzten diese 2020 mit dem ihnen loyalen „Southern Transition Councils“ (STC). Socotra wird damit nicht nur als strategisches Sicherheitsventil betrachtet, sondern auch politisch und administrativ effektiv in ein de-facto-südliches Machtzentrum integriert. Das hat die Insel für eine Militärbasis, Investoren und als Absatzmarkt geöffnet. Heute fliegt zweimal pro Woche ein Flugzeug mit Tourist:innen, Gütern und Arbeitskräften von Abu Dhabi nach Socotra und ein drittes soll in Kürze folgen.

Eine neutrale Insel?

Die Insel hat aktuellen Statistiken zufolge nur etwa 60’000 Einwohner:innen. Die Kriminalitätsrate ist sehr niedrig, dafür ist die politische Selbstzensur der Bewohner:innen stark. Tarek sagt: „Wir halten uns raus aus Politik, Socotra ist neutral“. Tourguides wie er fungieren als eine Art Gatekeeper der Insel. Sie führen die Tourist:innen in die Natur und halten sie möglichst von der lokalen Bevölkerung fern. Sie promoten die Insel als exotisches Naturparadies, abgekoppelt von den traditionellen und oftmals auch prekären Lebensbedingungen der Menschen auf der Insel. Dahinter versteckt sich eine Verkaufsstrategie: Das Phantasma eines Inselparadieses mit einer unberührt und im Einklang mit der Natur lebenden Bevölkerung. Die Verlockung schlechthin eines wachsenden globalen Öko-Individualtourismus. Auch ich war vor einigen Jahren dem Charme der Bilder über die Insel erlegen. Vor allem hatten die Gleichzeitigkeit von exotischem Traumidyll, geopolitischer Lage und machtstrategischen Interessen an der Insel mein Interesse geweckt. Mein Weg führte daher nach Socotra – und ich traf auch auf Tarek, von dem hier immer wieder die Rede ist.

Die indigene Lebensweise auf der Insel, beschreibt die Anthropologin Peutz, sei noch im 20. Jahrhundert als schädlich für die Natur angesehen worden, während sie in jüngerer Zeit eher überhöht wird. Die Mystifizierung unterschlägt, dass es immer äußere Kräfte gab, die der Insel ihre Deutung und Interessen aufdrücken wollten: Sie wurde von unterschiedlichsten Seefahrernationen kolonisiert (wenn auch teilweise mit sehr mäßigem Erfolg), von den antiken Griechen, den Indern, den Osmanen und schließlich den Briten. Doch für die Tourist:innen lässt sich das Bild der letzten unberührten, komplett außergewöhnlichen Insel, die sie nun mit ihren Kameras erobern können, einfach viel besser verkaufen.

Widerständige Perspektiven

Peutz hebt in ihrem Buch hier eine widerständige Perspektive hervor, die sie vor allem in Bezug auf das Kulturerbe ausbuchstabiert: Die historisch gewachsene Kombination aus Abschottung und Fremdherrschaft bildet den Hintergrund für die jüngste Konjunktur von „Heritage“ auf der Insel. Die internationale Debatte über den „Schutz“ der Natur geht einher mit militärischer Präsenz, neuen Governance-Strukturen und der Externalisierung von Entwicklungszielen. In einer Zeit, in der sich neue Machtinteressen – vor allem seitens der Vereinigten Arabischen Emirate – auf der kleinen Insel etablieren, gewinne, so die Wissenschaftlerin, das kulturelle Erbe für die Inselbewohner:innen neue Bedeutung. Peutz schreibt, dass „Heritage“ in Socotra nicht länger nur ein Objekt äußerer Verwaltung sei, sondern ein von unten entwickeltes Mittel politischer Artikulation. So wird kulturelles Erbe zu einer Form des Widerstands, die nicht auf offene Konfrontation, sondern auf das Durchsetzen lokaler Deutungs- und Gestaltungsmacht zielt.

Eine Drohkulisse ist indes der Massentourismus. Ein Freund von Tarek schreibt mir, Jahre nach unserem Treffen, die Tage der Insel seien gezählt. Bereits 80 Prozent des Küstengebiets seien verkauft. Nachforschungen bestätigen die Angst: Erst im Mai 2025 war ein Komitee der UNESCO da, um zu überprüfen, ob der Welterbe-Status trotz Zerstörung gehalten werden soll. Natürlich werde man den Status behalten, sagt der Freund, der sich gut auszukennen scheint, zerstört werde die Insel dennoch. Schon Tarek befürchtete bei unserer gemeinsamen Tour, dass das Leben auf der Insel für die Einheimischen irgendwann zu teuer werden könnte. Denn die meisten Inselbewohner:innen werden nicht in neue Geschäfte und Projekte eingebunden. Noch sei alles in Balance, lachte er damals. Aber man konnte die Hotelanlagen am Strand bereits erahnen. Tarek sagt: Dagegen werden wir uns auf jeden Fall wehren.

Sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Buches ist das Welterbe Socotra, aber mehr noch die Unabhängigkeit der Inselbewohner:innen, mehr als zuvor in Gefahr. Das Buch macht deutlich: „Heritage“ ist kein neutraler Begriff, sondern ein Modus politischer Auseinandersetzung mit brennenden Gegenwartsfragen wie Souveränität, Nachhaltigkeit, Ressourcenverteilung oder Klimawandel. Kulturerbe, so kann man Peutz‘ gewinnbringend lesen, ist nicht einfach ein Abbild der Vergangenheit – es ist eine umkämpfte Praxis der Zukunftsgestaltung.

Nathalie Peutz 2018:
Islands of Heritage. Conservation and Transformation in Yemen.
University Press, Stanford.
ISBN: 978-1503606395.
368 Seiten. 31,00 Euro.
Zitathinweis: Amina Tschopp: Die Insel des Außergewöhnlichen. Erschienen in: Kein Mensch ist eine Insel – oder doch? 76/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/Q9Zne. Abgerufen am: 17. 07. 2025 16:43.

Zum Buch
Nathalie Peutz 2018:
Islands of Heritage. Conservation and Transformation in Yemen.
University Press, Stanford.
ISBN: 978-1503606395.
368 Seiten. 31,00 Euro.