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Knast und Strafe Ausgabe Nr. 58, 12. Januar 2021

Knast und Strafe © Juno Jo

NSU-Verfahren, Reichsbürger, neofaschistische Netzwerke oder antifeministische Drohungen zeigen, dass Strafverfolgung und Justiz nicht allen Menschen gleichermaßen Schutz bieten. Gerade linke Strukturen und Menschen, die für die Rechte Marginalisierter eintreten, erfahren staatliche Repressionen, während für rechte Strukturen die Spielräume groß sind. Wenn Schwarze Menschen in Zellen verbrennen und es keine*r gewesen sein soll, wenn von Polizeicomputern Morddrohungen gegen linke und migrantische Frauen* verschickt werden, wenn auf Demonstrationen Polizisten bekannte Rechtsradikale freundschaftlich umarmen, wie wirksam und wie wertvoll ist dann überhaupt die Institution „Strafe“ mitsamt ihren ausführenden Organen? Sehen wir hier ein Scheitern der staatlichen Institutionen oder verweisen diese Vorfälle auf die eigentliche Funktion des strafenden Staates? Wo genau liegt der gesamtgesellschaftliche Nutzen des Gefängnisses oder soll die Disziplinarinstitution lediglich die bürgerlich-liberale Normativität und das staatlichen Gewaltmonopol sichern?

Die Frage, wer eigentlich kriminalisiert wird und wer nicht, hat eine Klassendimension. Viele werden etwa Gewalttaten und Mord zu den häufigsten Inhaftierungsgründen zählen. Tatsächlich aber sitzen die meisten Menschen wegen „Armutsdelikten“ ein; etwa, weil sie ein Bußgeld nicht zahlen konnten, geklaut, oder gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen haben. Im Gefängnis selbst werden Inhaftierte dann durch Überwachung, Disziplinierung und ritualisierte Eingriffe in die Privatsphäre ihrer Menschenwürde beraubt. Ist das Versprechen der Resozialisierung hier nur ein legitimierendes Feigenblatt der Justiz? Besonders Transpersonen und queere Menschen leiden unter dem binären Gefängnissystem und unter der mangelnden psychologischen oder anderweitig notwendigen Unterstützung. Währenddessen werden Steuerhinterziehung, unternehmerische Ausbeutung von Arbeiter*innen und Umweltverbrechen – wenn überhaupt – mit ein paar mahnenden Worten und einem Bußgeld geahndet. Reiche sitzen auch deshalb selten hinter Gittern oder kommen schneller wieder raus. Es stellt sich die Frage: Welche Opfer von welchen Verbrechen werden in ihrem Leid ernst genommen?

Aus den Erfahrungen des „War on Drugs“ in den USA der 1970er Jahre entstanden die Analysen von Angela Davis und anderen. Sie zeigen, dass der strafende Staat auf die Kriminalisierung ganz bestimmter (in diesem Fall Schwarzer) Lebensweisen ausgelegt ist, um eben diese Individuen zu billigen Arbeitskräften zu machen. Antonio Gramsci und Rosa Luxemburg beschrieben ihre politisch-motivierte Haft als krasseste Maßnahme einer strafenden und disziplinierenden gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Noch heute erleiden Frauen* und Queers, die sexualisierte Gewalt anklagen wollen, retraumatisierende Befragungen oder verhöhnende Täter-Opfer-Umkehr. Seit 2015 dürfen „Gefährder“ ohne Tatbestand festgenommen werden. Seit G20 zählen neben muslimisch markierten Menschen dazu auch Linke.

Die Vorstellung eines strafenden Staates steht im Gegensatz zu Ansätzen der Traumabearbeitung, der Resozialisierung und einer gesellschaftlichen Transformation. Autonome und kollektive Gegenentwürfe, wie reparative und transformative Gerechtigkeit (transformative justice) versuchen, dem etwas entgegenzusetzen. Sie zielen auf Selbstermächtigung und kollektive Verantwortung (community accountability) ab, doch sind oftmals unterfinanziert oder werden schlicht als utopische Spinnerei abgetan. Welche dieser Vorschläge haben dennoch das Potential, zu einer befreiten, solidarischen Gesellschaft beizutragen? Was machen wir ohne Gefängnis mit den Tätern von Christchurch, Hanau, Halle? Welche Aussichten haben Inhaftierte, um ihre Würde zu behalten oder schlicht nicht wahnsinnig zu werden? Und welche Möglichkeiten haben Betroffene, Erlebtes aufzuarbeiten und wirklich zu einer Reparation zu gelangen? Diesen und andern Fragen widmet sich diese Ausgabe.

In der Ausgabe #59 im April 2021 befassen wir uns mit dem Thema Jugoslawien und wie 30 Jahre nach der Auflösung über die sozialistische Vergangenheit nachgedacht wird.

Viel Spaß beim kritischen Lesen!

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