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Der Staat auf der Anklagebank

Buchautor_innen
Geoffroy de Lagasnerie
Buchtitel
Verurteilen
Buchuntertitel
Der strafende Staat und die Soziologie

Die radikale Kritik der Strafjustiz sucht neue Formen des Urteilens und Richtens.

Die Kritik des Justizapparats und seiner Gefängnisse ist ein zentraler Bestandteil der Linken und ihrer sozialen Kämpfe. Wo widerständige Bewegungen an Stärke gewinnen oder gefährlich werden, schlägt der Staat zu, um seine Macht aufrechtzuerhalten. Als Gewalt gilt dann immer nur die Gewalt der Aufständigen. Das staatliche Gewaltmonopol dagegen erscheint als friedens- und ordnungsstiftend. Aber was sagt die Linke in Europa zur Justiz und den alltäglichen Gerichtsverfahren, die ein Staat abhält? Der französische Sozialphilosoph und Foucault-Leser Geoffroy De Lagasnerie weist auf einen blinden Fleck in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Strafjustiz hin. Die Repression und Strafprozedur sei nämlich schon im System der Gerichtsbarkeit selbst angelegt. Während Michel Foucault die machtdurchdrungene Anatomie des überwachenden und strafenden Staats sezierte, widmet sich De Lagasnerie dem urteilenden und bestrafenden Staat und seinen Machtmechanismen.

Der richterliche Blick

De Lagasnerie unternimmt im Buch Streifzüge durch Theorien der Souveränität und des Strafrechts. Er ist dabei immer an einer kompromisslosen Kritik der juridischen Macht gelegen. Ihn interessiert vor allem die staatliche Gewalt, die die Angeklagten (als Rechtssubjekte) vorlädt, verurteilt und enteignet. Er führt den Gerichtsprozess an, der anstelle der Wahrheitsfindung als ein Erzählungs-Generator dient. Kein Gericht und kein*e Richter*in widme sich wirklich dem Verständnis des Geschehenen, sondern konstruiert ein Bild der Tat, um eine*n Angeklagte*n als Verantwortliche*n zur Rechenschaft zu ziehen. Man schreibt den Angeklagten kriminelle Neigungen zu – durch psychologische Gutachten und ein bestimmtes diskursives Bild des*der Kriminellen gestützt. Neben dieser Individualisierung der Tat bedeutet ein strafrechtliches Vergehen allerdings immer auch ein Vergehen gegen den Staat und die Gesellschaft. Ein Diebstahl mache demnach das Eigentum aller unsicher. De Lagasnerie kritisiert, dass der Staat sich selbst auch in der Rolle des Klägers befindet, während er zugleich neutral zu richten vorgibt. Die Möglichkeiten der Wiedergutmachung oder zivilrechtlicher Klärung sind kategorisch ausgeschlossen. Es wird stattdessen weiter angeklagt, vorgeladen, verurteilt und bestraft. De Lagasnerie erkennt einen staatlichen und gesellschaftlichen Drang zur Vergeltung, durch die die rechtliche Ordnung und damit die Autorität des Staats erst wiederhergestellt werden kann. Erhellend wird die Lektüre des Buches besonders dann, wenn De Lagasnerie jene untergründigen als auch klaffenden Widersprüche des Rechtssystems aufzeigt, das sich über die tägliche Urteilssprechung perpetuiert.

Das Paradox des Strafapparats

Der liberale Rechtsstaat antwortet auf einen Rechtsübertritt mit Gegengewalt. Diesen Akt begreift De Lagasnerie als ein staatliches Ritual. Im Gerichtsverfahren vollzieht sich eine Enteignung von Zeit, Besitz und Autonomie der angeklagten Individuen bis zur Auslöschung des Lebens durch Todesstrafe. Verteidiger*innen des Strafrechtstaats wenden hier ein, dass das doch gerecht und eine angemessene Reaktion auf die Tat der Verbrecher*innen sei. De Lagasnerie hingegen dekonstruiert das Konzept der gerechten Strafe. Vielmehr sieht er eine Logik der strafrechtlichen Vergeltung am Werk. Es werde im Prozess keine Aufklärung gebracht und kein Schaden wiedergutgemacht. Zuhauf werden stattdessen delinquente Subjekte geschaffen. Größtenteils sind dies Menschen aus den unteren Bevölkerungsschichten. Und mit dem Neoliberalismus zieht der Teufelskreis der Prekarität und Kleinkriminalität noch einmal größere Bahnen. Als Kriminalitätsdiskurs getarnt kaschiert dieser Mechanismus die gesellschaftlichen Umstände sowie Widersprüche, die jene Verbrechen erst nötig machen. Es zeigt sich ein Riss im Recht, der schon im aufklärerischen Rechtsverständnis bestand und nie geschlossen wurde. Adorno und Horkheimer folgerten schon: „Gerechtigkeit geht unter in Recht“ (1988, S. 22). Gerechtigkeit geht unter in der repressiven Gerichtsbarkeit, hieße es nach De Lagasnerie.

Ein anderes Recht

De Lagasnerie nimmt eine radikale und schonungslose Kritik des Justizsystems und seiner Diskurse vor. Es gelingt ihm, die Mythen um Recht und Gesetz grundlegend in Frage zu stellen, wenn er auch Staat und Justiz selbst prinzipiell nicht in Frage stellt. Vielmehr wird er nicht müde zu betonen, dass neue Weisen der Justiz und der Rechtssprechung nötig sind. Nur sind dabei einzelne Argumentationsstränge auch mal weniger überzeugend. Ebenso verlangt das Buch dem*der Leser*in an manchen Stellen etwas mehr Ausdauer ab. Das mag zum einen daran liegen, dass De Lagasnerie seinen Stil an das teils kryptische Begriffsinventar von Foucault anlehnt. Zum anderen ist De Lagasnerie mitunter schlicht redundant. Die Verknüpfungen zu Foucault stellen einen Reiz des Buchprojekts dar, das De Lagasnerie mehr als 40 Jahre nach Foucaults „Überwachen und Strafen“ mit seiner kritischen Untersuchung des Rechtssystems unternimmt. Die philosophische Gründlichkeit, mit der er sich der Dekonstruktion des Strafrechtsstaats widmet, überzeugt und hinterlässt dabei doch einige Streitpunkte. Wer rein soziale Kräfte als einzige Tatursache darstellt, läuft Gefahr, die Täter*innen von jeglicher Verantwortung freizusprechen. Das kann auf eine Entpolitisierung von gesellschaftlich kodifizierten Verbrechen wie Gewalt an Frauen* hinauslaufen.

Soziologie bleibt Kampfsport

Dass ein Justizsystem nicht allein durch eine philosophische und soziologische Kritik destabilisiert wird, muss nicht besonders hervorgehoben werden. Pierre Bourdieu erklärte einst die Soziologie zum Kampfsport. Ihm zufolge dürften die Intellektuellen niemals die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen aus dem Auge verlieren oder gar falsche Neutralität vorspielen. Im selben Jahr der Veröffentlichung dieses Buches im französischen Original gründete sich das antirassistische Komitee für Gerechtigkeit und Aufklärung für Adama Traoré, der in einem Pariser Vorort von drei Polizist*innen um sein Leben gebracht wurde. Auf der Straße Rechte und Aufklärung einzufordern, gehört eben auch zu einer emanzipatorischen Idee von Gerechtigkeit. De Lagasnerie ist Mitglied dieses Komitees und gemeinsam mit Assa Traoré, der Schwester des Ermordeten, schreibt er über diesen Kampf in „Le Combat Adama“. In „Verurteilen“ zeigt sich genauso wie im Kampf des Komitees frei nach Horkheimer die Sehnsucht danach, dass „das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge“, denn diese Sehnsucht nach Gerechtigkeit gehöre zum „wirklich denkenden Menschen“ (Horkheimer 1970). De Lagasnerie schlägt für dieses Ziel einen radikalen Kurswechsel für unsere Rechtspraxis vor. Das bedeutet, sich vom Staat, seinem Strafrecht und dem reinen Vergeltungsdenken zu lösen und neue Weisen des Richtens und Urteilens zu denken. Das verpflichtet allerdings auch dazu, die eigenen und gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen in Frage zu stellen. Ein Kurswechsel kann auch bedeuten, unsichere Gewässer passieren zu müssen.

Zusätzlich verwendete Literatur

Horkheimer, Max (1970): „Was wir ‚Sinn‘ nennen, wird verschwinden“. Der Spiegel 1/1970. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main.

Geoffroy de Lagasnerie 2017:
Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie. Übersetzt von: Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-58709-6.
271 Seiten. 26,00 Euro.
Zitathinweis: Thore Freitag: Der Staat auf der Anklagebank. Erschienen in: Knast und Strafe. 58/ 2021. URL: https://kritisch-lesen.de/s/nNc3m. Abgerufen am: 13. 10. 2024 02:43.

Zum Buch
Geoffroy de Lagasnerie 2017:
Verurteilen. Der strafende Staat und die Soziologie. Übersetzt von: Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Berlin.
ISBN: 978-3-518-58709-6.
271 Seiten. 26,00 Euro.