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Arm und nicht sozial schwach

Buchautor_innen
Anna Mayr
Buchtitel
Die Elenden
Buchuntertitel
Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht

Ein Buch über Arbeitslose und ihre Funktion für die Arbeitsgesellschaft.

Anna Mayr hat ein politisches Buch über Arbeitslose im heutigen Deutschland geschrieben. Zugleich ist es ein persönliches Buch, über ihre eigene Geschichte und die ihrer Eltern. Auch wenn die politischen Anteile des Buchs überwiegen, ist ihr ein lesenswerter Hybrid gelungen.

Mayr legt dar, wie es ist, im Deutschland des 21. Jahrhunderts arbeitslos zu sein – so wie ihre Eltern. Dabei beschreibt sie vor allem das Hartz-IV-System und wie es sich für Menschen anfühlt, im Jobcenter als „Kunde“ „geführt“ zu werden. Alle, die sich kritisch mit Hartz IV befassen oder davon selbst betroffen sind oder waren, kennen die Themen und Schlagworte, die Mayr im Buch anspricht: Isoliertheit, Integration, Zumutbarkeit, Sozialhilfe, ALG2-Empfänger, Nichtwähler, Langzeitarbeitslose, Vermittelbarkeit, Chance, 1-Euro-Job, Stigma, RTL2, SPD, Armut, abgehängt, faul, sozial schwach, angemessen, Bildung – um nur Einige zu nennen. In „Die Elenden“ finden wir weniger Erklärungen zu diesen Begriffen als vielmehr eine klare und kritische Haltung zu ihnen. Einige Menschen dieser Gesellschaft sind von diesen Begriffen direkt betroffen, sie leben jeden Tag mit dem Stigma, arbeitslos zu sein und damit, zu „Anderen“ abgestempelt zu werden. Sie werden zu denjenigen gemacht, die diese Gesellschaft als ihr Gegenteil braucht:

„Ich weiß also, welchen Zweck es hatte, dass meine Familie arm war: Wir dienten als abschreckendes Beispiel.“ (S. 21)

Das Gegenteil der Arbeit

Arbeitslosigkeit bedeutet zuallererst Armut. Weil arbeitslos sein von der Gesellschaft nicht erwünscht ist, sind Arbeitslose nicht nur arm, sondern sie werden auch noch sozial abgewertet. Anna Mayr, die als Journalistin unter anderem bei DIE ZEIT arbeitet, beschreibt ihre Empörung, wenn ein Kollege Arbeitslose und Arme abwertet:

Einerseits, weil ich mich denjenigen, die er für asozial hält, zugehörig fühle: den Menschen, neben denen ich aufgewachsen bin und die in der öffentlichen Wahrnehmung unter einer Schicht aus Vorurteilen existieren, die so dick sind, dass sie zu ersticken drohen und das kaum jemand die Realität darunter sieht. Andererseits, weil ich mich auch ihm, dem Kollegen, zugehörig fühle.“ (S. 13)

Dieses Zitat erinnert an die aktuellen klassenpolitischen Debatten, die mit Identitätspolitik verknüpft werden und verweist darauf, dass dieses Buch scheinbar zur richtigen Zeit erschienen ist.

Wenn Mayr ihre eigene Biografie und ihre Gefühle auf eine Art zum Ausdruck bringt, wie sie für politische Bücher üblich ist, ergänzt sie das mit einer biografischen Positionierung. An manchen Stellen weist sie mit recht starkem Ton drauf hin, dass die Härten von Kindern Arbeitsloser größer sind als jene von Kindern der Arbeiter_innen. Damit versucht sie, ihre Position als Kind Arbeitsloser zu verdeutlichen. Aber sie setzt ihr Buch auch ins Verhältnis mit anderen Texten, wie „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon oder Christian Barons „Ein Mann seiner Klasse“, welche in den Debatten zum Teil identitätspolitisch aufgegriffen wurden. Beide Autoren würden ihrer Ansicht nach zumindest im Subtext „dem belesenen Bürgertum die Unterschicht und deren Weltwahrnehmung erklär[en und damit zugleich suggerieren], dass Nationalismus und Rassismus vor allem aus diesen Milieus kommen.“ (S. 23) Auch, wenn dieser Vorwurf an Eribon und Baron nicht ganz trägt, ist Mayrs grundlegende Antwort darauf unerlässlich: „Wäre Rechtssein vor allem eine Sache der Ohnmächtigen, dann wären die Rechten insgesamt weitestgehend ohnmächtig.“ (ebd.) Und das sind die Rechten leider nicht.

Eine Geschichte der Distanzierung

Zu Situationen, wo die augenscheinliche Unüberbrückbarkeit der Ungleichheit deutlich wird, komme es für sozial Aufgestiegene wie Mayr alle Tage:

„Mit einem Freund […] saß ich nach Feierabend im Lounge-Bereich einer Berliner Boulderhalle […]. Ich nahm einen Schluck von meinem grünen Smoothie und nickte interessiert, als er sagte, dass man jetzt eigentlich Immobilien kaufen sollte.“ (S. 25)

Wenn sie weiter beschreibt, dass sie inzwischen gerne Taxi fahre und sich das früher nicht getraut habe, schlägt sie damit in dieselbe Kerbe wie Baron und Eribon, die auch über die Scham der Aufgestiegenen schreiben: Der privilegierte Alltag zusammen mit den Reichen kennzeichnet ein Abgehobensein von der eigenen Klasse. Und Mayr sagt dazu auch, dass ihr sozialer Aufstieg ihr die „nötige kritische Distanz [verleihe], ohne die Sie als Leserinnen mich nicht ernst nehmen würden.“ (S. 29) Über mehrere Seiten berichtet sie von ihren Anfragen an Funkanstalten, und stellt fest, dass in den Talkshows keine Arbeitslosen, sondern immer nur „ehemalige Arbeitslose“ zu Wort kommen.

Mayrs Eigenreflexion wird durch die Geschichte des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit kontextualisiert und politisiert. Sie erklärt die Ethik des Verzichts unter den Reformator_innen, die vor rund 500 Jahren Faulheit, Betteln und Arbeitslosigkeit zur Hauptsünde gestempelt hatten. Zudem skizziert sie, dass mit dem Fortlauf der Industrialisierung Menschen begannen, um die Arbeit ebenso wie darin gegeneinander zu kämpfen. Später beschreibt sie das vorläufige Ende dieser Entwicklung, in der das System von Hartz IV der Höhepunkt dieser Ethik der Arbeit ist. Und zwischendrin versucht sie sich an einer triftigen Kritik am bedingungslosen Grundeinkommen, dass ähnlich wie ALG 2, doch eher einer Subventionierung von billiger Arbeitskraft gleichkäme.

Bildung und soziale Arbeit

Zwei Punkte fallen an Mayrs Text besonders positiv auf: Erstens die Kritik der „Bildung“ als Allheilmittel für den Aufstieg aus der Armut. Nicht umsonst ist das Wort auch so ein beliebtes in Reden von Politiker_innen. Doch Bildung allein nütze in der Realität nichts, so die Auffassung der Autorin: Der Aufstieg sei real nämlich nicht allen vergönnt. Dennoch: Wenn Kommiliton_innen ihr von einer besseren Welt vorschwärmten, aber zugleich abwertend über angebliche „Hartz-IV-Nazis“ (S. 61) redeten, die doch nichts für eine bessere Welt täten, wird das Schlagwort „fehlende Bildung“ zum einzigen Grund für soziale und politische Ungerechtigkeiten erhoben.

Zweitens macht Mayrs deutlich, dass für verschiedene Strukturen der sozialen Arbeit viel Geld ausgegeben werde, es Menschen aber oftmals viel mehr helfen würde, einfach mehr Geld zur Verfügung zu haben.

„Es gibt also Menschen in dieser Gesellschaft, die gehen kaputt, damit der Rest sich von ihnen abgrenzen kann, und je mehr sie ausgegrenzt werden, desto mehr gehen sie kaputt. Und wenn sie kaputt genug sind, bezahlt der Staat Menschen, die sich um sie kümmern. Man nennt das dann soziale ‚Arbeit‘, denn wer keine Arbeit hat, den kann man immerhin bearbeiten.“ (S. 84)

Das skizziert sie in mehreren konkreten Fallbeispielen und es geht ihr dabei vor allem darum, dass Soziale Arbeit auch Alimentierung der Armen ist, aber keine richtige Hilfe. Gerade wer nah an diesem Bereich arbeitet, kann zu solch einer Auffassung kommen.

Arbeitslos? Gibt‘s das noch?

Manchmal kommt beim Lesen das Gefühl auf, dass Mayr dieses Buch geschrieben hat, um uns die Arbeitslosigkeit als solche ins Gedächtnis zu rufen. Das erinnert an Zeiten, als mit Arbeit und Arbeitslosigkeit noch Wahlkampf betrieben wurde. Im Jahr 2020 scheint das Thema aber bundespolitisch noch nicht zum Wahlkampfthema zu werden. Unverständlich ist das angesichts Mayrs Erkenntnis:

„Wer das Gefühl hat, dass der Staat die Gerechtigkeit nicht herstellen wird, der setzt sich Zuhause auf zehn Pakete Klopapier und rechtfertigt das damit, dass ja sowieso jeder nur an sich denke. Je größer das Ungerechtigkeitsempfinden in einer Gesellschaft, desto unmoralischer wird sie also.“ (S. 181)

Die Autorin argumentiert für die Notwendigkeit von Umverteilung und dafür, zu erkennen, dass Armut ungerecht ist. Lohnenswert ist das Buch deshalb, weil es die gesellschaftliche Funktion von Arbeitslosigkeit leicht erklärt und zudem mit persönlichen Erfahrungen angereichert Gerechtigkeit für Arbeitslose einfordert.

Anna Mayr 2020:
Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht.
Hanser Berlin, Berlin.
ISBN: 978-3-446-26840-1.
208 Seiten. 20,00 Euro.
Zitathinweis: Thomas Stange: Arm und nicht sozial schwach. Erschienen in: Knast und Strafe. 58/ 2021. URL: https://kritisch-lesen.de/s/NYhU6. Abgerufen am: 03. 12. 2024 18:17.

Zum Buch
Anna Mayr 2020:
Die Elenden. Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht.
Hanser Berlin, Berlin.
ISBN: 978-3-446-26840-1.
208 Seiten. 20,00 Euro.