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Zwischen Schuld und Ohnmacht

Auf diesem Buchcover werden vier junge Männer portraitiert. Sie blicken mit neutralem Blick in die Kamera. Im Hintergrund der Fotos sind Gitter vor den Fenstern zu sehen. Ein fünftes Bild zeigt einen langen Gefängnisflur mit sterilem Licht und den aneinandergereihten Zelltüren. Mittig auf der rechten Seite steht in grüner Schrift groß der Titel und etwas kleiner darunter der Untertitel. All dies auf blauem Grund.
Buchautor_innen
Klaus Jünschke/Jörg Hauenstein/Christiane Ensslin
Buchtitel
Pop Shop
Buchuntertitel
Gespräche mit Jugendlichen in Haft

Junge Menschen in Haft erhalten Raum, von sich zu erzählen und werden als Menschen in all ihren Widersprüchen erfahrbar.

Leider ist das Buch vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich. Bedauerlich, denn sein Konzept, nahezu ausschließlich die eingesperrten jungen Menschen zu Wort kommen zu lassen, bietet eine seltene Perspektive. Und sie erzählen reichlich: von ihrer Vergangenheit, ihrer Herkunft, ihren sozialen Beziehungen, ihren Taten und natürlich über ihre Haft. Sie schildern ihren Alltag und die Abläufe, berichten von Schwierigkeiten und besseren Momenten und erzählen von ihren Bedürfnissen, Träumen und Hoffnungen. Den Rahmen bot ihnen eine wöchentlich stattfindende Erzählwerkstatt in der JVA Köln, in der die jungen Menschen gemeinsam mit den Autor*innen und einem Fotografen in Gesprächen die Grundlage für das Buch schufen. Der Titel entstammt ihrem Wunsch. Pop Shop bezieht sich auf die gleichnamige Musiksendung aus den 1970er Jahren, die immer dann zu sehen war, wenn in den Gefängnissen die Zellen verschlossen wurden. Nun werden Freizeitsperren für die Gefangenen so bezeichnet, wenn sie sich nicht ordnungsgemäß verhalten haben.

Leben in Haft

Die Bedingungen sind nicht einfach. Der Zustand der Einrichtung, die Hygiene und die medizinische Versorgung sind schlecht. Die Beamt*innen agieren in der Regel regelkonform, dennoch ist der Umgang mit ihnen von Autorität, Abhängigkeit von deren Wohlwollen und Vertrauensmissbrauch geprägt. Wir lesen von Einsamkeit und Angst, von Verzweiflung und Druck, von der Enge und Langweile in der Zelle, vom ständigen Grübeln. Die Familie und deren Besuche geben Halt. Exemplarisch zeigt sich hier der Zwiespalt der jungen – ausschließlich – Männer: Sie ehren die Familie und haben sie dennoch enttäuscht, es existiert eine Kluft zwischen den eigenen Werten und der Realität. „Hier wird einem erst mal klar, was man gemacht hat“ (S. 182). Bei den Straftaten, die den jungen Männern zur Last gelegt werden, handelt es sich keinesfalls um Bagatelldelikte: (bewaffneter) Raub und Körperverletzung gehören ebenso dazu wie in einem Fall Zuhälterei. Manche der Opfer trugen bleibende körperliche und psychische Schäden davon. In den Schilderungen kommen Ambivalenzen und Dilemmata zum Ausdruck, so z. B. das Eingeständnis der eigenen Schuld, die Übernahme von Verantwortung und gleichzeitig der Versuch, die Achtung vor sich selbst nicht zu verlieren. „Das [Vorbild der Eltern, T. K.] hat meinen Charakter geprägt. Ich bin vielleicht schon ein Wichser, aber irgendwie bin ich ein menschlicher Wichser“ (S. 53). Die jungen Männer sind sich sämtlich bewusst, was sie getan haben und zeigen Einsicht. Sie stehen für ihre Taten ein, wissen, dass sie Scheiße gebaut haben, um im Jargon zu bleiben. Gleichzeitig haben sie einen klaren Blick darauf, wie es dazu kommen konnte – ohne sich der Verantwortung zu entziehen. In ihren Biografien zeigen sie, wie alles seinen Lauf nahm und es wird deutlich, dass ihre Umstände viel zu ihrem Werdegang beigetragen haben.

Klassenerfahrungen

Von einem Aufwachsen in Armut, einem Umfeld von (familiärer) Gewalt, dem Einfluss von Drogen und Alkohol sowie der Straße als Halbwelt, wie sie es bezeichnen, können fast alle berichten. Es mangelt strukturell an (Zukunfts-)Perspektiven, sodass das schnelle Geld den illegalen Weg reizvoll erscheinen lässt.

„Und da hab´ ich mir gesagt, so will ich nicht enden. Wofür soll ich mich ein ganzes Leben lang totschuften? […] So hab´ ich mit den kriminellen Sachen angefangen. Ich hab´ mehr verdient als mein Vater mit seiner Metzgerei, ich hab´ auch mehr verdient als der Chef meiner Firma, in der ich gearbeitet habe“ (S. 46).

Soziale Abgrenzung, Deklassierung und die räumliche Abschottung in ganzen Vierteln, die nach den Gesetzen der Straße funktionieren, sind prägende Erfahrungen und schränken die Handlungsmöglichkeiten ein – bei gleichzeitiger Notwendigkeit, sozial und subjektiv überleben zu müssen. „Wenn ich im Getto aufwachse, werde ich zu achtzig Prozent kriminell“ (S. 204). Teil der unteren Hierarchie zu sein, gehört zur Lebenswelt der jungen Männer dazu. Kaum verwunderlich, dass die meisten keine guten Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben: „Für die bist du der letzte Dreck“ (S. 60). In einer Gesellschaft, in der sich das eigene Selbst über Konsum konstituiert, wenig zu haben, somit wenig zu sein, verbunden mit der fehlenden Aussicht, dies ändern zu können, mündet nicht selten als Ausdruck der Konflikthaftigkeit der Klassenstruktur in gesellschaftlich als unerwünscht definiertem Verhalten – bis hin zur Kriminalität. „Ich bin deswegen kriminell geworden, ich hab' damals gedacht, ohne Geld bist du eigentlich nichts“ (S. 183).

Reaktive Klimax

Der Jugendstrafvollzug hängt zusammen mit sogenannten Systemsprengern in der Jugendhilfe, die im Zuge des gleichnamigen, im vergangenen Jahr erschienenen, Spielfilms auch über die Fachwelt hinaus Aufmerksamkeit erlangten. Geht es um wie auch immer auffällige Jugendliche und junge Menschen, werden analog zu einem gesellschaftlichen Rollback auch in der sozialarbeiterischen Praxis autoritäre Forderungen nach repressiveren, hart durchgreifenden Maßnahmen lauter und akzeptierter: pathologisierend der Ruf nach psychiatrischen Einrichtungen, kapitulierend der Wunsch nach geschlossener Unterbringung, strafend die Einsperrung im Knast. In allem zeigen sich die Hilflosigkeit der zuständigen Institutionen und der fehlende Wille, soziale Bedingungen in den Blick zu nehmen. „Nur wer auf soziale Konflikte mit immer mehr Polizei und Gefängnissen reagiert, und statt der Armut die Armen bekämpft, benötigt jugendliche ‚Kriminelle‘“ (Klappentext). Die jungen Männer aus dem Buch durchschauen ganz ohne sozialwissenschaftliche Studien die Mechanismen. „Die Kleinen werden an der Grenze angehalten wegen fünf Stangen Zigaretten und gleichzeitig fahren die Trucks durch mit einem ganzen Container voll“ (S. 104). Fragt man sie, was die Haft für sie bedeutet, weisen sie zwar darauf hin, dass sie ihnen vorerst Einhalt geboten habe, im Hinblick auf den Nutzen äußern sie sich jedoch kritisch: „Wenn man hier eingesperrt ist, da werden die Leute ja noch verrückter, als sie vorher schon waren. Also, man müsste was Gutes, Soziales für die Gefangenen hier tun und mehr Gespräche mit den Leuten führen“ (S. 38). Der Blick in die Zukunft ist getragen von einer Portion Pessimismus und Wehmut: „Die Welt hat sich ein paarmal gedreht, nur ich nicht. Die Leute draußen entwickeln sich weiter, hier drin bleibt man stehen“ (S. 96).

Im Falle einer wünschenswerten Neuauflage eignete sich das Buch als dezenter Hinweis, den Tendenzen der gegenwärtigen pädagogischen, politischen, kriminologischen und gesellschaftlichen Diskussionen Einhalt zu gebieten. Auf völlig unakademische Art und Weise bieten die eindrücklichen Schilderungen nicht nur Einblicke in die Situationen der Betroffenen, sondern auch Material zur Reflexion von sozialen Strukturen. Die niedergeschriebenen Gespräche sprechen dabei für sich.

Klaus Jünschke/Jörg Hauenstein/Christiane Ensslin 2007:
Pop Shop. Gespräche mit Jugendlichen in Haft.
Konkret Literatur Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89458-254-8.
238 Seiten.
Zitathinweis: Tobias Kraus: Zwischen Schuld und Ohnmacht. Erschienen in: Knast und Strafe. 58/ 2021. URL: https://kritisch-lesen.de/s/QkeYb. Abgerufen am: 24. 12. 2024 01:04.

Zum Buch
Klaus Jünschke/Jörg Hauenstein/Christiane Ensslin 2007:
Pop Shop. Gespräche mit Jugendlichen in Haft.
Konkret Literatur Verlag, Köln.
ISBN: 978-3-89458-254-8.
238 Seiten.