Eine neue Generation von Terroristen
- Buchautor_innen
- Veronika Kracher
- Buchtitel
- Incels
- Buchuntertitel
- Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults
Der Weg vom misogynen Shit-Post zu realer Gewalt kann ein ganz kurzer sein.
Frustrierte, vorwiegend weiße, heterosexuelle Männer, die sich als Verlierer der Gesellschaft sehen: Auf diese groben Kategorien vereinfacht lässt sich die Incel-Community beschreiben, deren Name im Englischen als Abkürzung für „involuntary celibates“ steht, also unfreiwillige Zölibatäre. Sie glauben, dass Frauen ihnen Sex verwehren, weil sie unattraktiv zur Welt gekommen sind. Deshalb ziehen sie sich gegenseitig in Online-Foren runter und verlieren sich immer tiefer in Verschwörungsgeschwurbel, das im Wesentlichen auf Frauenhass, Rassismus und Antisemitismus fußt.
Veronika Kracher bezeichnet dieses Verhalten in Anlehnung an die YouTuberin Natalie Wynne als „digitale Selbstverletzung“ (S. 213). Sie macht direkt im ersten Kapitel ihres Buches klar: Es macht keinen Spaß, sich mit Incels zu beschäftigen – aber wir müssen da durch. Dem Thema wurde lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. So lange, bis sich 2018 ein Attentat in Toronto ereignete, bei dem ein 25-jähriger mit einem Lieferwagen in eine Menschenmenge fuhr, zehn Personen tötete und sich in seinem Bekennerschreiben explizit als Incel-Anhänger bezeichnete. Was zunächst als „primär nordamerikanisches Phänomen“ (S. 7) betrachtet worden sei, habe seither langsam auch das öffentliche Interesse in Deutschland erregt. Nach dem Attentat in Halle am 9. Oktober 2019 – der Täter versuchte aus antisemitischen Motiven an Jom Kippur eine Synagoge anzugreifen, tötete bei dem Versuch zwei Menschen und teilte Aufnahmen der Tat live im Internet –, erinnerten viele Aussagen des Täters stark an Codes aus der Incel-Community. Kracher bedauert, dass es erst so weit kommen musste, damit das Gefahrenpotenzial von Incels in Deutschland ernst genommen wurde. In einem Interview betont sie, dass sie ihr Buch mit dem Ziel geschrieben habe, in Zukunft „präventiv intervenieren zu können“ (Deutschlandfunk 2020). Nicht umsonst lautet ihre zentrale These, dass Frauenhass eben keine Eigentümlichkeit der Incel-Community ist:
„Er ist, tragischerweise, konstitutiv für unsere Gesellschaft. Das Phänomen ‚Incels‘ entsteht nicht in luftleerem Raum, sondern ist Resultat eines Systems, in dem patriarchales Anspruchsdenken, Misogynie und Gewalt gegen Frauen an der Tagesordnung sind.“ (S. 14)
Online-Foren als Radikalisierungsplattform
Die Internetforen, die unter Incel-Anhängern besonders beliebt sind, beschreibt Kracher als ein Sammelbecken für moralische Grenzüberschreitungen jeglicher Art, in dem sich ein wachsendes Radikialisierungspotenzial frei entfalten kann. Nicht immer würden menschenfeindliche Aussagen dort direkt und offen geäußert, ähnlich wie bei Memes (mediale Versatzstücke, die Inhalte transportieren, Anm. Red.) werde der Hass oft in vermeintlichen Witzen verpackt oder durch eine Pseudo-Ironie verschleiert. Für Kracher ist das lediglich Augenwischerei, auf die man sich nicht einlassen sollte:
„[...] wer permanent mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit kokettiert, kann die ironische Distanz früher oder später nicht mehr aufrechterhalten und wird zunehmend desensibilisert. [...] es bedarf bereits einer Disposition zum Menschenhass, um sich überhaupt auf diesen Foren aufzuhalten und sich dort zu artikulieren.“ ( S. 52 f.)
Weil die Foren für Incels in erster Linie eine Plattform bieten, um sich gegenseitig in ihrem Leid und Hass zu bestätigen und anzufeuern, spricht Kracher sich klar für eine Schließung entsprechender Boards aus.
Ein narzisstischer Tätertypus?
Kracher widmet sich in einem Abschnitt über Elliot Rodger beispielhaft einem radikalen Incel, der, angetrieben von seiner narzisstischen Wut darüber, keinen Sex zu haben, 2014 in Kalifornien sechs Menschen ermordete und 14 weitere verletzte. Indem sie ein von Rodger als Manifest bezeichnetes Schreiben analysiert, zeigt sie auf, wie eng Frauenhass mit Rechtsradikalismus verknüpft ist und einem Tätertypus Vorarbeit leisten kann, den Kracher in Anlehnung an Rolf Pohl, Klaus Theweleit und Theodor W. Adorno als „narzisstisch gekränkten, in der Regel weißen Mann“ und „neue Generation an Terroristen“ bezeichnet (S. 15).
Dem sogenannten Manifest widmet Kracher sich mit einer tiefenhermeneutischen Analyse: Eine an der Psychoanalyse orientierte Interpretationsmethode der qualitativen Sozialforschung, welche auf die Rekonstruktion von unbewussten Bedeutungsmustern abzielt, die als versteckte Sinnebene in Texten enthalten sind. Wie ein solches Verfahren normalerweise abläuft und wie sie in diesem Fall vorgegangen ist, erläutert Kracher nicht. Das sorgt dafür, dass Durchführung und Herleitung ihrer Ergebnisse an einigen Stellen nicht nachvollziehbar sind. So schreibt sie etwa, dass der Tod des Vaters von Elliot Rodger diesen völlig kalt gelassen habe (S. 87). Es bleibt jedoch unklar, ob Rodger das wortwörtlich so über sich gesagt hat, ob er den Tod seines Vaters bewusst verächtlich kommentiert oder aber überhaupt nicht erwähnt hat. Krachers Deutungen sind durchweg plausibel; weil jedoch die Leser*innen das Originaldokument nicht vorliegen haben und ganz auf ihre Interpretation angewiesen sind, wäre Transparenz hier umso wichtiger gewesen.
Beim Lesen der Analyse stellt sich bald die berechtigte Frage, ob Rodger eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hatte. Da aber Kracher keine psychologische Ausbildung hat, was sie auch erwähnt, umgeht sie die Antwort auf diese Frage: Zwar spricht sie an mehreren Stellen von einer narzisstischen Kränkung Rodgers, sie könne aber lediglich vermuten, dass eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorläge. Das knappe Statement eines*einer Psycholog*in hätte diese wichtige Erkenntnis jedoch vermutlich bestätigen können. Zumal Kracher sich an anderen Stellen doch zusätzliche Expertise ins Buch holt: Insbesondere im letzten analytischen Teil spricht sie unter anderem mit einem Pädagogen, einer Expertin zum Thema Sekten und ehemaligen Incel-Anhängern. Die zentralen Aussagen der Gesprächspartner*innen untermauern in Zitatform ihre Argumentation und verleihen ihr somit Nachdruck.
Misogynie als gesamtgesellschaftliches Problem
Den Frauenhass von Incels beschreibt Kracher als ein Denkmuster, das auf „patriarchal strukturierte[m] Kapitalismus“ (S. 15) fußt und deshalb den idealen Nährboden für psychische Probleme, Ängste und damit verbunden auch für Radikalisierung, Verschwörungstheorien, Diskriminierung und Gewalt bietet. Für Kracher steht fest: „Männlichkeit ist ein pathologisches Problem.“ (S. 139) Wenn sie schließlich mit Bezug auf die Kritische Theorie den Begriff der „autoritären Persönlichkeit“ einführt, lassen sich Parallelen zu Phänomenen wie der identitären Bewegung oder auch Corona-Leugner*innen ausmachen: Nicht nur die Incel-Community ist beispielsweise dafür bekannt, dass ihre Weltansicht auf einem „autoritären und positivistischen Wissenschaftsbegriff“ basiert – das heißt, wahr sind für sie nur diejenigen Fakten, die „das eigene Weltbild zementieren“ (S. 168). Die Autorin geht immer wieder auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext ein und legt viel Wert darauf, dass die genannten Faktoren weder Incel-exklusiv, noch ein Alleinstellungsmerkmal rechter Bewegungen sind.
Kracher hat natürlich Recht: Es macht grundsätzlich keinen Spaß, sich mit Incels zu beschäftigen. Aber wenn sich die autoritäre Persönlichkeit durch den Wunsch nach Identifikation mit einer autoritären Führerfigur auszeichnet, und bei einer Befragung von Spiegel Online 2019 ein Viertel der jungen Erwachsenen in Deutschland angaben, dass sie sich mehr autoritäre Führung auf nationaler Ebene wünschen, dann sollte uns das verdammt nochmal Sorgen machen.
Zusätzlich verwendete Literatur
Deutschlandfunk (09.11.2020): Incels. Toxische Männlichkeit als Internetkult. Online einsehbar hier. Spiegel Online (22.02.2019): Umfrage: Ein Viertel der jungen Deutschen wünscht sich "starken Führer". Online einsehbar hier.
Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults.
ventil verlag, Mainz.
ISBN: 978-3-95575-130-2.
280 Seiten. 16,00 Euro.