Die Gesellschaft hat Schuld
- Buchautor_innen
- Didier Fassin
- Buchtitel
- Der Wille zum Strafen
Drei grundlegende Fragen entlarven den liberalen Rechtsstaat und seine Wollust zum Strafen.
Bei den zahlreichen gefängniskritischen Neuerscheinungen könnte man eine Tendenz ausmachen. Doch Didier Fassin konstatiert in „Der Wille zum Strafen“ ein anhaltendes „Zeitalter des Strafens“ (S. 9), eine „repressive Wende“ (S. 9), einen „Moment des Strafens“ (S. 11). In den drei strukturierenden Kapiteln – Was ist Strafen? Warum strafen wir? Wer wird bestraft? – stellt Fassin den ursprünglichen Ideen und allgemeinen Annahmen die abweichende Realität gegenüber. Dabei kombiniert er mit Rekurs auf den französischen und US-amerikanischen Kontext philosophische Überlegungen mit seinen eigenen ethnologischen Beobachtungen in Banlieues und denen seiner frühen europäischen Kollegen in indigenen Gemeinschaften. Sein Ziel ist es, das Strafen neu zu denken. Das misslingt ihm. Dem französischen Kulturanthropologen mit Public-Health-Hintergrund stehen spezielle Werkzeuge zur Verfügung, aber er bedient sich leider aus der falschen Kiste.
Das Prinzip Strafen
Aus europäischen philosophischen und juridischen Quellen versammelt Fassin zunächst Definitionen der Strafe, um diese dann zu widerlegen. Nach David Garland sei Strafe „der Rechtsvorgang, durch den diejenigen, die dem Strafrecht zuwiderhandeln, nach spezifischen gesetzlichen Kategorien verurteilt und bestraft werden“ (S. 40). Demzufolge müsse Strafe fünf Kriterien erfüllen: Leid zufügen, einen Verstoß gegen rechtliche Normen zum Gegenstand haben, sich gegen denjenigen richten, der den Verstoß begangen hat, von einer anderen Person als dem Täter vollzogen werden und von einer legitimierten Autorität auferlegt werden. Theoretisch würde Strafe einen Schaden beheben, einen Schuldigen bessern und die Gesellschaft schützen. In der Realität bliebe jedoch nur das Kriterium der Zufügung von Leid übrig.
Die Marterung des Körpers auf Marktplätzen sei mit der Errichtung von Gefängnissen durch die Marterung der Seele ersetzt worden, so Fassin. Repressive Haftbedingungen, Schikanen, Beleidigungen, Schläge, Misshandlung, Folterungen und Einzelisolation verhindern Kriminalität nicht, sondern vernichten bisweilen Leben. Die Sanktionen übersteigen das moralisch oder rechtlich begründete Niveau und führen oft in den physischen oder sozialen Tod. „Selbstmorde“ als Folge erniedrigender Haftbedingungen gehören zum Alltag. Und Fälle wie der von Kalief Browder, der, unschuldig verhaftet, in der langen U-Haft misshandelt wurde und anschließend „Suizid“ beging, seien „nicht das Ergebnis einer Dysfunktion des amerikanischen Justizsystems, ganz im Gegenteil: „Sie stell[en] dessen ganz gewöhnliche Funktionsweise unter Beweis“ (S. 36). Bei Tod in Gewahrsam komme es nur selten zu Sanktionen oder Ermittlungsverfahren, Machtmissbrauch und Folter könnten ungestraft fortgesetzt werden. Fassins Vorwurf richtet sich an die Gesellschaft, die sich mit Hilfe der legitimierten Stellvertreter*innen an den Schwächsten vergehe: „Die Indifferenz der Öffentlichkeit, das Schweigen der Politik und die Unwilligkeit der Behörden stellen eine Art von Erlaubnis dar“ (S. 114).
Generell soll durch das Strafen die bestehende soziale Ordnung aufrecht erhalten werden. Fassin zeichnet nach, wie es mit dem Vormarsch des Christentums im Mittelalter in Europa zu einer Verschiebung der affektiven Ökonomie der Schuld hin zu einer moralischen Ökonomie der Strafe kam, also von einer Wiedergutmachungs- zur Vergeltungslogik. Im germanischen Recht beruhte die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten eher auf Kompensation als auf Rache. Mit dem römischen Recht, das sich mit der Autorität der Kirche und des Königs ausweitete, ersetzte der Erlösungsdiskurs die Praxis der Wiedergutmachung. Vergebung wurde durch Bestrafung und Buße erlangt. Seit dem Mittelalter sind trotz der Säkularisierung des Rechts die ideologischen Strukturen erhalten geblieben, die von einer „Wolllust“ (S. 112) am Zufügen von Leid zeugten. Gefängnisse „resozialisieren“ Verurteilte nicht durch Besinnung, Bildung und Sozialarbeit, sondern Rückfallquoten zeigen, dass Haftstrafen Ungleichheiten reproduzieren. Im Gefängnis landen Menschen, die bereits von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen waren und durch Haftstrafen weiter an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden.
Das Strafen der Armen
Fassin betont, dass sich die Strafexzesse nicht gleichmäßig über die Gesellschaft verteilen. Die Überrepräsentation von IBPoC in Gefängnissen, die aus den USA bekannt ist, lässt sich auch in Frankreich wahrnehmen. Sie lassen sich nur schwer belegen, weil die Strafrechtsstatistiken die sozioökonomischen Merkmale der Insassen nicht berücksichtigen und nicht befugt sind, „ethnisch-rassische Daten“ (S. 133) einzubeziehen. Es lasse sich jedoch beobachten: „Männer aus den unteren Schichten und aus Migrantenfamilien sind darin stark überrepräsentiert“ (S. 153). Über weite Strecken orientiert sich Fassin an Michel Foucaults Klassiker „Überwachen und Strafen“, ohne dies jedoch immer deutlich zu machen. Er zitiert hier dessen Befund einer Strafgesellschaft, eines dem Bürgerkrieg gleichenden Strafrechtssystems, im Dauerzustand des Sozialkrieges der Reichen gegen die Armen, in dem Kriminelle zu Feinden der Gesellschaft erklärt werden und die Gesetze von Leuten gemacht würden, für die sie nicht bestimmt sind, und auf jene angewendet werden, die sie nicht gemacht haben. Im Resultat verschärft die Klassenjustiz die soziale Ungleichheiten. Mit seinem Plädoyer für die Abkehr vom Strafen stellt Fassin Grundvoraussetzungen der Moralphilosophie und der Rechtstheorie auf den Prüfstand, aber stellt dem nichts entgegen, was auf stabilen Füßen stehen könnte.
Mit seiner „Anthropologie des Strafens“, zusammengespickt aus philosophischen Zitaten, Anekdoten aus seiner Feldforschung in den Banlieues und Zitaten ausgedienter Anthropologen in den Kolonien, gelingt es Fassin zwar, die empirische Kluft zwischen den normativen Aussagen und den beobachteten Praktiken zu hinterfragen. Aber er sagt dabei nichts Neues. Sein Ziel, neue Wege und neue Perspektiven zu eröffnen, verfehlt er. Die selektive Auswahl von Fällen von Polizeigewalt schlägt in die gleiche Kerbe bourgeoiser Aktivist*innen, die gerne pauschal auf die Polizei eindreschen, aber damit weder kritischer Gefängnisforschung noch Opfern von Polizeigewalt einen Gefallen tun. Und mit dem Heranziehen alter Beobachtungen von fünf beliebigen indigenen Gesellschaften wird Fassin dem Anspruch Indigener Studien nicht gerecht. Dabei bieten diese Wissen über Bestrafungsformen im Rahmen sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, bei denen Einzelne nicht mit der Tat allein gelassen werden und sich die Gesellschaft nicht aus der Verantwortung stiehlt. Leider hat Fassin nicht seine Public Health-Expertise genutzt, um das Ausmaß der Disziplinar- und Strafgesellschaft als das zu untersuchen, was sie darstellt – eine Public Health-Krise.
Der Wille zum Strafen.
Suhrkamp, Berlin.
ISBN: 978-3-518-58726-3.
206 Seiten. 25,00 Euro.