Adornos Erben
- Buchautor_innen
- Nancy Fraser/Rahel Jaeggi
- Buchtitel
- Kapitalismus
- Buchuntertitel
- Ein Gespräch über kritische Theorie
Die dritte Generation kritischer Theorie will einen neuen Blick auf die großen Fragen des Kapitalismus werfen.
Adorno und Horkheimer hatten sowohl bei den Marxisten-Leninisten wie auch im bürgerlichen Lager keinen guten Ruf. Erstere vermissten stets den ihrer Orthodoxie nach nötigen Opportunismus zur Sowjetunion. Weil sich die kritische Theorie nicht eignete, um die Praxis der verschiedenen ML-er*innen zu legitimieren, waren sie bei diesen als ganz unpraktische Theoretiker verschrien. Ganz so, als ob sich eine Theorie nicht daran zu messen habe, ob sie ihrem Gegenstand gerecht werde, sondern ob sie einer bestimmten K-Gruppe als Legitimation für Aktionen dienen kann. Das bürgerliche Lager hingegen fanden die Theorien der Frankfurter dann doch immer zu sehr zur Praxis drängend: Politiker wie der CDUler Alfred Dregger vermuteten Adorno und Co immer als geistige Väter der Roten Armee Fraktion. Jenseits einer Zuordnung zu einer politischen Heimat bestand die kritische Theorie darauf, dass sich die Erklärung einer Sache nur daran zu messen habe, ob sie stimmt – und zwar egal, ob einem die praktisch-politischen Folgen dieser Erklärung gefallen oder nicht und machten sich damit in beiden Lagern keine Freunde.
Kritische Theorie für das 21. Jahrhundert
Nun ist 2020 mit „Kapitalismus – Ein Gespräch über kritische Theorie“ ein Buch der beiden Professorinnen Nancy Fraser und Rahel Jaeggi erschienen, dass die kritische Theorie fortzusetzen gedenkt. Die dritte Generation kritischer Theoretiker*innen sieht es mit der Praxis derweil wie die Gegner*innen der ersten Generation. Wenn Nancy Fraser im Gespräch mit Rahel Jaeggi zuerst 70 Seiten die Geschichte des Kapitalismus behandelt, hält sie fest:
„Natürlich ist das stilisierte Geschichte. Als Vertreter der kritischen Theorie sind wir nicht daran interessiert, wie die Vergangenheit ‚wirklich war‘ – wie es eigentlich gewesen. Was wir stattdessen wollen, ist eine breitere historische Erzählung, die uns in der Gegenwart Orientierung gibt – eine Erzählung, die klärt, wie wir hierhergekommen sind, womit wir konfrontiert sind, wohin wir gehen wollen und wie wir tatsächlich dorthin gelangen könnten“ (S. 224 f.).
Die modernen Vertreter*innen der kritischen Theorie wollen sich also nicht nachsagen lassen, ohne Rücksicht auf praktische Erwägungen einfach auf dem Begriff der Sache, hier der Geschichte, zu bestehen. Sie wollen vielmehr praktisch sein und eine Orientierung dafür liefern, wie die Welt sein sollte. Dabei geben sie offen zu Protokoll, dass sie gar nicht daran interessiert sind, ob ihre Überlegungen irgendetwas mit der Wirklichkeit zu tun haben, solange sie ihren Dienst tun, nämlich die Leute nicht verunsichern, sondern ihnen einen Plan an die Hand geben. Sie schreiben eine Geschichte des Kapitalismus als Anleitung zu einer Praxis, „wohin wir gehen wollen, und wie wir tatsächlich dorthin gelangen könnten“ – dieses Ziel resultiert allerdings gar nicht aus der Geschichte des Kapitalismus, die Erkenntnisse liefert für die Richtung, in die zu gehen ist. Nach Selbstauskunft der Autorinnen verhält es sich genau umgekehrt: Sie wissen bereits, wohin sie die Leser*innen schicken wollen; und schreiben deswegen eine Erzählung als Rechtfertigung ihrer Marschrichtung. Wo Adorno, Horkheimer, Benjamin und die Anderen noch dafür kritisiert wurden, sich aller Praxis zu entziehen, will diese kritische Theorie praktisch sein. Sie erkauft es sich, Orientierungshilfe zu sein, in dem sie stilisierte Geschichte schreibt, sich selbst also von dem Versuch der Erkenntnis loslöst und zur Meinung reduziert. Darüber wusste Adorno noch zu sagen: „An was aber Erkenntnis nicht heranreicht, dessen bemächtigt sich die Meinung als deren Ersatz“.
Ausbeutung und Enteignung
Neben dieser nach Selbstauskunft erfundenen Geschichte des Kapitalismus wird von den beiden Autorinnen allerdings auch im Jahr 2020 einiges unter der Überschrift „Der Begriff des Kapitalismus“ angeboten. Immerhin wollen die Beiden „viele unserer gängigen Annahmen darüber, was Kapitalismus ist und wie man ihn kritisiert“ (Buchrücken) entzaubern. Fraser schlägt dafür die Unterscheidung von Ausbeutung und Enteignung vor, womit sie Marx’ ökonomische Analyse ergänzen will:
„Meines Erachtens unterscheiden sich die beiden Prozesse in zwei Hinsichten – wovon die eine ‚ökonomisch‘ und die andere ‚politisch‘ ist. Der erste, der ‚ökonomische‘ Punkt ist, dass bei der Ausbeutung das Kapital die Kosten für die Wiederherstellung der Arbeitskraft übernimmt, die sie für die Produktion einsetzt, während das bei der Enteignung nicht der Fall ist. Der zweite, der ‚politische‘ Unterschied ist, dass ausgebeutete Arbeiter freie Menschen und mit Rechten ausgestattete Bürger mit Zugang zu staatlichem Schutz sind, während enteignete Untertanen abhängig sind und sich nicht an die öffentliche Gewalt wenden können, um sie vor Beraubung und Gewalt zu schützen“ (S. 149).
Ausbeutung ist ökonomisch nach Fraser also, wenn der Lohn der Arbeiter*innen zum Leben reicht; und Enteignung, wenn das nicht der Fall ist. Politisch ist Ausbeutung, wenn die Arbeiter*innen bürgerliche Rechte haben, Enteignung, wenn sie keine haben. Es handelt sich hier also um ausschließende Kategorien. Entweder ein*e Arbeiter*in erhält einen Lohn, der zum Leben reicht, oder nicht. Entweder sie*er ist als politisches Subjekt anerkannt oder nicht. Fraser sieht diese Unterscheidung vor allem als ein Instrument zum Verstehen der Geschichte des Kapitalismus, in der sie Ausbeutung im imperialistischen Zentrum und Enteignung in der Peripherie sieht. Das liest sich wie folgt:
„Große Bevölkerungsteile waren immer noch schlicht und einfach enteignet, und sie waren fast immer farbig; andere wurden ‚bloß‘ ausgebeutet und waren zum größten Teil Europäer und ‚Weiße‘. Neu war jedoch die Entstehung hybrider Fälle, in denen manche Menschen gleichzeitig der Enteignung und der Ausbeutung unterworfen wurden“ (S. 151).
Die Lücke zwischen den Kategorien
Das allerdings wäre zu erklären: Wie kann jemand genügend Lohn bekommen, um sich zu reproduzieren und gleichzeitig nicht? Wie sieht die rechtliche Konstruktion einer Bürgerin aus, die gleichzeitig Sklavin ist? Wie kann man gleichzeitig der Enteignung und der Ausbeutung unterworfen werden? Fraser leistet sich hier aber nicht nur Selbstwidersprüche im Gespräch mit Jaeggi, man hat auch Schwierigkeiten ihre Aussagen mit irgendeiner empirischen Wirklichkeit zusammen zu bringen, so wenn Jaeggi ihr beipflichtet:
„Du hast Recht: Der finanzialisierte Kapitalismus von heute ist ein Regime der universalisierten Enteignung. Nicht nur rassifizierte Bevölkerungsanteile, sondern auch die meisten ‚Weißen‘ verdienen jetzt Löhne, die nicht die vollen Kosten ihrer Reproduktion decken. Da sie nicht mehr von der öffentlichen Fürsorge, vom Insolvenzschutz, von der Macht der Gewerkschaften und Arbeitsrechten abgeschirmt werden, sind auch sie jetzt ‚Sparmaßnahmen‘, Kredithaien und prekären Arbeitsverhältnissen ausgeliefert. Ebenso wird auch die Ausbeutung universalisiert. Nicht nur Männer, sondern auch die meisten Frauen müssen ihre Arbeitskraft ganztags verkaufen, um ihre Familien zu ernähren“ (S. 159).
Wollen die beiden Autorinnen wirklich behaupten, dass die meisten weißen Männer in den Industriestaaten jetzt gerade universell „enteignet“ werden, also keine rechtlich anerkannten Subjekte mehr sind und „nicht die vollen Kosten ihrer Reproduktion decken“ können, während die meisten Frauen jetzt „ausgebeutet“ werden, also – im Gegensatz zu den Männern – als Subjekte anerkannt werden und ihre Arbeitskraft reproduzieren können? Wie überhaupt können zwei ausschließende Kategorien, wie die von den Autorinnen unterschiedene „Ausbeutung“ und „Enteignung“, sich gleichzeitig beide universalisieren?
Aber wahrscheinlich sind die Autorinnen von der Darstellung solcher Widersprüche ihrer Theorie gar nicht beeindruckt. Immerhin schreiben sie selbst, dass sie gar nicht den Anspruch haben, den Kapitalismus zu beschreiben, wie er „wirklich war“ oder ist, sondern Orientierung geben wollen.
Kapitalismus. Ein Gespräch über kritische Theorie.
Suhrkamp, Berlin.
ISBN: 978-3-518-29907-4.
329 Seiten. 24,00 Euro.