Sicherheit von Links
- Thema
- Essay von Melanie Brazzell
Der Staat macht sich selbst der Gewaltausübung schuldig. Es braucht Alternativen für den Umgang mit Gewalt innerhalb der Communities.
Nach den Black Lives Matter-Aufständen in den USA und weltweit wird auch jenseits der linken Szene darüber nachgedacht, welche Rolle die Polizei in der Gesellschaft einnehmen soll – und ob es Alternativen zu ihr gibt. Wenn uns Polizei (und andere Sicherheitstechniken wie Grenzen und Gefängnisse) keine Sicherheit geben können, welche Möglichkeiten gibt es dann? Wie können wir selbst Sicherheit schaffen?
Um Analysen zusammenzutragen und Antworten zu finden, habe ich zusammen mit verschiedenen Aktivist*innen & Organisationen das Projekt Was macht uns wirklich sicher? initiiert. Daraus hervorgegangen sind eine Webseite, Seminare, Veranstaltungen, eine Ausstellung sowie ein Toolkit für Aktivist*innen. Dieses stellt das Sicherheitsversprechen des Staates bewusst in Frage, weil Techniken wie Polizei, Gefängnis und Grenzen Gewalt (re)produzieren statt sie zu beenden. Insbesondere was sexualisierte und Partner*innen-Gewalt angeht, stellt sich seit der Silvesternacht in Köln 2015 die Frage: Wie konnten scheinbar „gute Ideen“ wie die Unterstützung der von Gewalt betroffenen Personen zum Vorwand für rassistische Überwachung und ein neues Sicherheitsregime werden?
Vom Wohlfahrtsstaat zum strafenden Staat
Im Zuge der Schwächung des Wohlfahrtstaats erfahren Law-und-Order-Strategien im Umgang mit sozialen Problemen wie Armut, Obdachlosigkeit und sexualisierter Gewalt in Nordamerika und Westeuropa wachsende Bedeutung. Vorreiter dieser Entwicklung sind die USA, wo der strafende Staat sich am deutlichsten in der massenhaften Inhaftierung seiner Bewohner*innen zeigt: Fast ein Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung ist derzeit in Strafanstalten eingesperrt, deutlich mehr als in anderen Ländern. Dabei sind von der Inhaftierung Schwarze Menschen und People of Color überdurchschnittlich häufig betroffen: Während der Anteil von Schwarzen Menschen an der Bevölkerung 13,2 Prozent ausmacht, beträgt er bei den Inhaftierten 35,4 Prozent.
Deutschland ist weit von der US-amerikanischen Praxis der Masseninhaftierung entfernt, dennoch sind ähnliche Entwicklungen zu beobachten. Auch hier ist das soziale Sicherheitsnetz durch Maßnahmen wie die Hartz-IV-Reformen und das Austeritätsdiktat im Zuge der Eurokrise ausgedünnt worden, gleichzeitig kommen zunehmend Instrumente des strafenden Staates zur Anwendung – zum Beispiel die Präventivhaft so genannter „Gefährder“ durch neue Polizeigesetze. Darunter fallen Überwachungs- und strafrechtliche Verfolgungsmechanismen, die auf rassistischen Kriterien beruhen und die Bewegungen und Handlungen bestimmter Bevölkerungsgruppen kontrollieren und einschränken. Solche „Gefängnis“-Techniken sind keine neuen Importe aus den USA, sondern tief in der Geschichte von Kolonialismus und Nationalsozialismus verwurzelt (vgl. Samour 2017), wie aktuell die Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte Abschaffen! aufzeigt. Gerechtfertigt wird dieser Ausbau strafender Institutionen, wie etwa psychiatrische Einrichtungen, Abschiebegefängnisse, Lager für Geflüchtete oder Haftanstalten, in der Regel mit der Begründung, diese Einrichtungen schützten die Bevölkerung, vor allem „wehrlose Frauen und Kinder“ (weiß, deutsch), vor gefährlichen Einzeltäter*innen.
Aber für viele Trans- wie Cis-Frauen*, die Partner*innen-Gewalt erfahren, bei der Arbeit diskriminiert oder auf der Straße belästigt und schikaniert werden, ist der Staat keine Institution, die für ihre Sicherheit sorgt. Im Gegenteil: er ist eine Quelle weiterer Gewalt. Migrant*innen und geflüchtete Frauen* sind der sexualisierten Gewalt von Polizeibeamt*innen oder Grenzschützer*innen ausgesetzt. Sie laufen Gefahr, ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren und abgeschoben zu werden, wenn sie etwa nach einem sexuellen Übergriff bei staatlichen Stellen Unterstützung suchen. Auch Sexarbeiter*innen, obdachlose Jugendliche oder mittellose Frauen* sind häufig mit der Kriminalisierung ihrer Überlebensstrategien konfrontiert, wenn sie zum Beispiel auf der Straße ihr Geld im informellen Beschäftigungssektor verdienen oder sich gegen gewalttätige Partner*innen zur Wehr setzen. In solchen Fällen werden die Betroffenen von Gewalt zu Täter*innen gemacht und selbst zum Ziel polizeilicher Gewaltausübung: Ihnen drohen Einweisung, Gefängnis oder Abschiebung. Und selbst die betroffenen Menschen, denen durch ihre gesellschaftlich privilegierte Situation möglicherweise eine Retraumatisierung durch die Polizei erspart bleibt und die eine Verurteilung der Täter durch das Gericht erfolgreich durchsetzen können, wünschen sich oft mehr Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Heilung als das Rechtssystem ihnen bieten kann.
Da sich sexualisierte Gewalt am häufigsten im bekannten Umfeld oder der Familie ereignet, haben betroffene Personen über die Tat hinaus oft mit komplizierten Beziehungsgeflechten zu kämpfen, die nicht allein mithilfe eines Gerichtsverfahrens oder Kontaktverbots gelöst werden können. Obwohl das neue „Nein heißt Nein“- Sexualstrafrecht in Deutschland betroffenen Personen einen besseren Zugang zum Strafrechtssystem ermöglicht, fragen viele Aktivist*innen zu Recht: „Warum soll das der einzige Weg sein?“
LGBT & feministische Komplizenschaft mit dem strafenden Staat
Umso beunruhigender ist die Komplizenschaft von Akteur*innen „progressiver“ sozialer Bewegungen, auch feministischer und LGBT-Organisationen, mit dem strafenden Staat. So kommt es immer wieder vor, dass deren Sicherheitsbelange und entsprechende Forderungen von staatlicher Seite aufgegriffen und instrumentalisiert werden, um einen aggressiveren polizeilichen Umgang mit PoC und Migrant*innen zu rechtfertigen. Auf die rassistische Medienhetze gegen nordafrikanische Männer, die man pauschal für sexuelle Übergriffe während der Silvesternacht in Köln und anderswo verantwortlich machte, folgte kurz darauf ein Beschluss im Bundestag, der Marokko, Algerien und Tunesien zu „sicheren Drittstaaten“ erklärte, in die nun leichter abgeschoben werden kann. Darüber hinaus wurde die Reform des deutschen Sexualstrafrechts – für die sich Feminist*innen jahrelang gegen den Widerstand von weiten Teilen der Politik eingesetzt hatten – zu einer Priorität der Konservativen, als nicht-weiße Männer als Täter ins Fadenkreuz gerieten. Das führte dazu, dass die „Nein heißt Nein“-Reformen des Sexualstrafrechts mit rassistischen und strafrechtlichen Maßnahmen versetzt wurden. Zugleich verabschiedete der Bundestag das sogenannte Prostituiertenschutzgesetz, das Sexarbeiter*innen verpflichtet, sich staatlich registrieren zu lassen und einen Ausweis bei sich zu tragen – was diejenigen ohne Aufenthaltserlaubnis noch stärker in die Illegalität und Schutzlosigkeit treibt.
Solche Gesetze, die vorgeben, „unschuldige Opfer“ zu schützen, sind typisch für eine bestimmte Tradition von Law-und-Order-Politik, bei der moralisierende Argumente und Ängste in Bezug auf sexualisierte Gewalt, Prostitution oder Frauenhandel gezielt genutzt werden, um den strafenden Staat auszubauen. Wissenschaftliche Studien zeigen für die USA im besten Fall ambivalente Ergebnisse, was diese repressiven Ansätze anbelangt. Häufig verschärfen sie die Probleme der betroffenen Personen. Das Gleiche ist in Deutschland zu erwarten, da auch hier die eigentlichen Ursachen von sexualisierter Gewalt nicht angegangen werden.
Feministische Initiativen, die zum Teil direkt mit dem strafenden Staat kooperieren, tragen so zur Kriminalisierung, Überwachung und zum Tod von People of Color bei, indem sie, der kolonialen Tradition entsprechend, die mythologische Figur der weißen, unschuldigen Frau bemühen. Gayatri Chakravorty Spivak hat einst das britische Kolonialsystem in Südasien mit dem berühmten Satz charakterisiert, es gründe auf dem Bild von „weißen Männern, die braune Frauen vor braunen Männern retten“ (Spivak 1988). In post-kolonialen Zeiten könnte die verzerrte, pseudo-feministische Konstellation analog dadurch charakterisiert werden, dass nun „weiße Frauen (andere) weiße und braune Frauen vor braunen Männern retten“.
Ein neues Nachdenken über Sicherheit jenseits von Gefängnis und Polizei
So wie Marx die bürgerlichen Konzepte von Freiheit und Gleichheit hinterfragte, die in sich die Unfreiheit und Ungleichheit des Zwangs zur Lohnarbeit bergen, so muss auch das liberale Sicherheitsdenken immanenter Kritik unterzogen werden, wenn die Sicherheit von einigen den Tod von anderen bedeutet. Eine solche Biopolitik, die Unterdrückungsverhältnisse verstärkt und damit die Grundlage für weitere Gewalt legt, untergräbt tatsächlich die Sicherheit von allen.
So wie Freiheit ist liberale Sicherheit negativ bestimmt: als die Abwesenheit von Angriffen und Gewalt. Gewalt meint hier sichtbare, physische, einzelne Ereignisse. Strukturelle, „langsame“ Gewalt hingegen, wie die Weigerung von Gesundheitsvorsorge für geflüchtete Personen oder Wohnungen für obdachlose Menschen, kann dessen ungeachtet fortgesetzt werden. Dieses „Not-in-my-backyard“-Verständnis beinhaltet die Vorstellung von geschützten und immer stärker privatisierten Räumen, in denen man sich frei bewegen und ungehindert seine Rechte ausüben kann.
Befürworter*innen einer Logik der Bestrafung wollen uns weismachen, Sicherheit entstehe durch Eindämmungs- und Abschottungsmaßnahmen (durch Gefängnisse, den Bau von Grenzzäunen etc.) oder durch die Abschirmung besonders gefährdeter Personen (zum Beispiel in Frauenhäusern). Solche Sicherheitsökonomien stufen einige Körper als „Überfluss“ ein, der getrost entsorgt werden kann, andere als „wertvolle“ Opfer, solange diese in ihren passiven Rollen verharren, abhängig von externen, mächtigen Beschützer*innen. Aber wäre es nicht viel sinnvoller, die Verhältnisse anzugreifen, die für sexualisierte Übergriffe verantwortlich sind, anstatt zu versuchen, die Täter oder gar die Betroffenen von Gewalt innerhalb der Gesellschaft zu isolieren?
Positive Sicherheit ist widerstandsfähiger: Sie sucht keine externe Schutzkraft, sondern Selbstbestimmung. Mit dem Aufbau solidarischer und fürsorglicher Beziehungen gehen wir gegen Entfremdung und prekäre Lebensbedingungen an, die gewalttätiges Verhalten befördern. Die Realität unseres kosmopolitischen Lebens ist, dass wir mit Menschen in unserer Umgebung leben, die wir uns nicht ausgesucht haben. Dies stellt uns vor die Herausforderung, ein solidarisches Konzept der Sicherheit zu entwickeln, wo niemand überflüssig oder entbehrlich ist. Ein positives Konzept von Sicherheit ist aber auch weniger eindeutig: Anstatt festzulegen, welche Räume oder Orte „sicher” und welche Personen „unbedenklich” sind und diejenigen auszugrenzen oder einzusperren, die als „bedrohlich” oder „verzichtbar” gelten – aufgrund ihrer „race“, ihrer Staatsbürgerschaft oder ihrer Klassenzugehörigkeit –, sieht dieser Ansatz den Aufbau von sozialen Beziehungen sowohl als Ziel als auch als Methode gegen Gewalt. Transformative Gerechtigkeit als Alternative zu Polizei und Gefängnissen baut auf die lange „Schwarze radikale Tradition“ (Cedric Robinson) und bietet im Vergleich zu den weißen einen Schwarzen Raum der Imagination, der „Abtrennung in Zusammenkunft wandelt“ (Lipsitz 2011, S. 51, Übers. MB).
Transformative Gerechtigkeit durch community accountability
Dieses Verständnis von Sicherheit ist inspiriert und geprägt von meiner Arbeit mit der Bewegung für community accountability (kollektive Verantwortungsübernahme) und transformative justice (transformative Gerechtigkeit), die Frauen* & Trans, nicht-binäre & queere People of Color in den USA gegründet haben. Sie sind im strafenden Staat besonderen Gefährdungen ausgesetzt, weil sie sich als Angehörige mehrerer marginalisierter Positionen an der gefährlichen Schnittstelle von staatlicher Gewalt und sexualisierter und Partner*innen-Gewalt befinden. Viele von ihnen kommen zu dem Schluss, dass der strafende Staat sie nicht schützt, sondern eher zusätzlich bedroht, und daher keine Lösung für sie sein kann. Es ist kein Zufall, dass gerade sie sich der Herausforderung gestellt haben, grundsätzlich neu über die Themen Sicherheit und community-basierte Alternativen zum Polizei- und Gefängnissystem nachzudenken, in politischen Kontexten wie den Bewegungen zur Abschaffung von Gefängnissen oder Black Lives Matter.
Die community accountability & transformative justice (CA-TJ)-Bewegung entstand durch eine doppelte Intervention von Trans* & Frauen* of Color, sowohl in cis-männerdominierten antirassistischen Kontexten als auch in weißdominierten feministischen Räumen. Immer wieder in der Rolle der politischen Brückenfigur, wiesen sie auf die blinden Flecken in zwei Zusammenhängen hin: in den Mainstream-Anti-Gewalt-Organisationen einerseits, die nur Beziehungsgewalt thematisierten und staatliche Gewalt verschwiegen, und den Initiativen gegen staatliche Gewalt andererseits, die keine alternativen Umgangsformen für den Fall von zwischenmenschlicher Gewalt liefern konnten.
INCITE!, ein Netzwerk radikaler Feminist*innen of Color, das vor 20 Jahren in den USA gegründet wurde, hat als erstes den Begriff community accountability geprägt. INCITE! nennt vier zentrale Aspekte dieses Konzepts:
• Unterstützung von betroffenen Personen, Gewährleistung ihrer Sicherheit und Selbstbestimmung; • Verantwortungsübernahme durch den*die Gewaltausübende und Verhaltensänderung; • Maßnahmen innerhalb der Community, die gegen Unterdrückung und Gewalt gerichtete Haltungen und Praxen stärken; • Strukturelle Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die für den Fortbestand von Gewalt verantwortlich sind. (INCITE! 2008)
Die Methoden, die INCITE! vorschlägt, sind für zwischenmenschliche Gewalt entwickelt, nicht für Gewalt von Seiten des Staates, Konzernen oder Institutionen. In meinen Interviews mit Aktivist *innen aus den Staaten zeigt sich, dass diese Techniken offenbar am besten in kleinen Communities funktionieren, wo es entweder viel geteilten Alltag gibt, wie in Nachbarschaften; oder auch geteilte Werte und Identitäten, wie bei gut strukturierten politischen Organisationen – ein Beispiel ist der Prozess, den die Gruppe Black Youth Project 100 geführt hat. Im Transformative Justice Kollektiv Berlin, das ich 2011 mitgegründet habe, arbeiten wir praktisch meist in weißdeutsch-dominierten, linken Zusammenhängen wie Hausprojekten und politischen Gruppen. Häufig handelt es sich hierbei um den Versuch, mit geringen Ressourcen am Rande des Möglichen zu experimentieren und zu improvisieren. Es gibt kein feststehendes Modell, das auf alle Einzelfälle passt, transformative justice bietet vielmehr Orientierung, trägt Vorschläge zusammen, welche Ansätze in bestehende politische Strukturen und Arbeit integriert werden können.
Auf der Suche nach Alternativen zum strafenden Staat haben sich TJ-Aktivist*innen verschiedene Quellen heran gezogen, darunter auch indigene Justizformen (INCITE! 2003; Ptacek 2010), heute allgemein bekannt unter dem Nahmen restorative justice. Ursprünglich kamen diese Ansätze aus der Gefängnisreform- und der abolitionistischen Bewegung sowie aus antikolonialen Kämpfen für indigene Selbstbestimmung. Nach und nach sind sie jedoch in verschiedenen Ländern als Mittel der Diversion in die Strafjustiz integriert worden.
Im Unterschied zum Täter-Opfer-Ausgleich und anderen Mediationsmethoden, die dem Konzept einer restaurativen Justiz folgen, betrachten Vertreter*innen von CA-TJ Gewalt nicht losgelöst vom größeren Kontext systematischer Unterdrückung und eines Machtgefälles, das nicht einfach durch Mediation wiedergutgemacht werden kann. Daher müssen sowohl das individuelle gewalttätige Verhalten als auch die diesem Verhalten zugrunde liegenden sozialen und politischen Verhältnisse verändert werden.
Die Grundsätze transformativer Gerechtigkeit
1) Selbstbestimmung statt Schutz für betroffene Personen CA-Strategien liegt die Annahme zugrunde, dass Betroffene von Gewalttaten über umfangreiches Wissen und Fähigkeiten verfügen, die sie zu potenziellen Akteur*innen sowohl der eigenen als auch gesellschaftlicher Veränderung macht. Es wäre falsch, sie auf den Status eines hilflosen Opfers zu reduzieren, das von einer äußeren Kraft (wie dem väterlichen Staat) oder bürgerlichen Fachleuten (wie Mitarbeiter*innen von professionellen Anti-Gewalt-Programmen) beschützt werden muss. Stattdessen geht es bei Sicherheit um Selbstbestimmung und der Herausbildung von Widerstandskraft gegenüber gewalttätigen Verhältnissen sowie das Aufbauen eines Werkzeugkastens von Strategien zur Bewältigung derselben.
LesMigraS, der Antidiskriminierungs- und Antigewaltbereich der Lesbenberatung Berlin, ist ein Beispiel, wo solche Strategien bereits angewendet werden. Der Verein berät sowohl Betroffene als auch Einrichtungen oder Szene-Lokale, in denen es zu (sexualisierten) Vorfällen kam. Ihren Ansatz zur Community-Unterstützung haben sie in einer Broschüre zusammengefasst. Auf diese Art und Weise können Pläne entwickelt werden, wie beispielsweise betroffene Personen eine*n gewalttätige*n Partner*in verlassen können oder wie sie am besten mit Arbeitskolleg*innen oder den eigenen Kindern über das sprechen können, was ihnen passiert ist. Kollektive Unterstützung kann etwa im Rahmen von „Heilungszirkeln“ oder „Krisenreaktionsteams“ organisiert werden, die Care-Arbeit wie Babysitting und emotionale Unterstützung, aber auch Übersetzungsarbeit oder Begleitung zum Amt anbieten können. Manche Aspekte sind allerdings in der weißdominierten linken Szene bisher nicht angekommen. Der Ansatz Schwarzer Feminist*innen aus den USA, die auf eine Politik der Liebe, Heilung und der Rehumanisierung von Menschen setzen, die in ihrem Leid aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position kein Gehör erfahren, lassen sich einer weißen Linken, die Rassismus zu lange als eine Nebenerscheinung des Kapitalismus betrachtet hat und Spiritualität und Emotionen in der Politik ablehnt, nur schwer vermitteln.
2) Verantwortungsübernahme statt Strafe für gewaltausübende Personen Gewaltausübende Personen sollte die Möglichkeit gegeben werden, Verantwortung für das von ihnen begangene Unrecht und den angerichteten Schaden zu übernehmen. Die Community ist nicht nur der Ort, wo Alternativen entwickelt und umgesetzt werden können, sie gibt auch die Methode vor. Im Gegensatz dazu reagiert das Gefängnissystem auf Schaden durch das Abbrechen von Beziehungen, während Verantwortungsübernahme den Aufbau von Beziehungen als nachhaltige Alternative sieht.
Konkret bedeutet dies, dass aus der Community heraus Initiativen unternommen werden, um auf die gewaltausübenden Personen Druck auszuüben, ihr gewalttätiges Verhalten aufzugeben und sich ihrer Verantwortung zu stellen. Das kann heißen, eine Therapie oder Entziehungskur zu beginnen oder Wiedergutmachung gegenüber den Betroffenen zu üben. In manchen Fällen haben sich Initiativen zusammengefunden, um langfristig (über mehrere Jahre hinweg) einen solchen Rechenschafts-, Wiedergutmachungs- und Lernprozess zu begleiten. Das Umfeld muss allerdings die Motivation haben, diese Person in der Community behalten zu wollen, und die gewaltausübende Person muss motiviert sein, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Der CA-TJ-Ansatz wurde von Menschen in den Staaten entwickelt, wo bestimmte Körper ungerechtfertigterweise und grundlos kriminalisiert werden. So großzügig über Täterschaft zu sprechen wie diese Menschen es tun, ist in einem deutschen Kontext, mit dem Hintergrund der NS-Täterschaft, ungewohnt und erfährt Widerstand. Als Person, die in beiden Kontexten gewohnt und gearbeitet hat, spüre ich immer wieder den Nachhall der Geschichte bei dieser Arbeit. Kulturen von Scham und Schuld sind Folgen der verfehlten Aufarbeitung der NS-Zeit, und linke Zusammenhänge sind dagegen nicht immun, was oft zu einer Politik der moralischen Hygiene führt. Wenn Menschen sich sehr um ihre eigene Korrektheit und moralische Reinheit sorgen, große Anstrengung betreiben, um diese aufrechtzuerhalten und sich von den eigenen Fehlern existentiell bedroht fühlen, fehlt oft die Bereitschaft, Verantwortung für das eigene Handeln und daraus entstandenen Schaden zu übernehmen.
3) Kollektiver Umgang statt individueller Schuld Dabei ist es vielleicht hilfreich, Gewalt zwischen Personen nicht als Problem fehlerhafter Individuen zu sehen, sondern als Ausdruck eines allgemeinen gesellschaftlichen Symptoms, für das wir alle Verantwortung tragen und das uns alle auf verschiedene Weise berührt. Die Community ist nicht nur eine Quelle des Problems, sondern kann auch der Ort der Lösung sein. Die Communities und Individuen, die am stärksten von zwischenmenschlicher Gewalt betroffen sind, sind meist besser in der Lage, auf diese Gewalt angemessen zu reagieren, als externe Vertreter*innen staatlicher Institutionen.
Um solche Projekte und CA-TJ-Ansätze im deutschen Kontext umzusetzen und verständlich zu machen, bedarf es einer beträchtlichen konzeptuellen Vermittlungs- und Transferleistung. Im letzten Herbst hat unser Kollektiv die Broschüre „Das Risiko wagen“ veröffentlicht, für das wir einen zentralen Text zum Thema community accountability übersetzt haben. Dabei haben wir gemerkt, wie schwierig es ist, nicht nur bestimmte Worte, sondern ganze Konzepte auf ein neues Terrain zu übertragen. Zum Beispiel wird der Begriff „Community“ oft mit Irritation empfangen. Oft bekommen wir gesagt, dass es in Deutschland nicht so starke Communities gibt wie in den Vereinigten Staaten. Es stimmt, dass Community ein andere politische Geschichte in den USA hat – Communities werden oft als eigenständige politische Einheit verstanden, über Ethnizität, Herkunft, und/oder „race“ definiert, verbunden durch die Erfahrungen des Siedlerkolonialismus und dem damit einhergehenden Völkermord, der Sklaverei, des Multikulturalismus und der Migration. Er unterscheidet sich daher etwa von der Geschichte und den politischen Kategorien hierzulande. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass das Sprechen über Communities ebenso wie die Rede von Populismus oder vom „Volk” ideologisch aufgeladen ist und von verschiedenen politischen Lagern unterschiedlich definiert und benutzt wird. So geht die multikulturelle und subversive Bedeutung, die dem Begriff Community im US-amerikanischen Kontext zukommt, verloren, wenn man ihn – wie es häufig geschieht – mit dem deutschen Wort „Gemeinschaft“ übersetzt.
Die Rechte hat ein nationalistisches und meist rassistisches Verständnis von Gemeinschaft beziehungsweise Community. Ihre Alternative zur Polizei, die sogenannten Bürgerwehren, zeigen, dass community-basierte Reaktionen auf Gewalt (selbst wenn diese in der Bevölkerung auf große Unterstützung stoßen) keinesfalls Garant für fortschrittliche und gesellschaftsverändernde Ansätze und Resultate sind. Die Existenz von Bürgermilizen kratzt die Machtverhältnisse und die Logik des Strafrechtssystems nicht wirklich an. Im Gegenteil: Sie tauscht einen zumindest im Prinzip demokratisch kontrollierten staatlichen Gewaltapparat gegen Akteure aus, die sich selbst anmaßen, nach ihren eigenen Kriterien zu verfolgen und zu bestrafen – jenseits jeglicher gesellschaftlicher Legitimation.
Allerdings merken wir in der Praxis, dass es auch in Deutschland oft schon solidarische Zusammenhänge und stabile Infrastrukturen gibt, die aktiviert werden können in linken Kontexten (Gruppen, Hausprojekte) und in NGOs, im Gemeinwesen und der Stadtteilarbeit oder in religiösen Einrichtungen. Diese sollten Richtlinien zum Umgang mit Vorfällen sexualisierter Gewalt erstellen und entsprechende Aufklärungs- und Präventionsarbeit leisten, anstatt das Thema als private Angelegenheit zu betrachten und unter den Tisch zu kehren. Die alternative Infrastruktur der radikalen Linken in Form von Wohnprojekten, Solidaritätsinitiativen für Geflüchtete und kollektiven Betrieben sind Community-Institutionen, die ganz bewusst eine große Distanz zu staatlichen Strukturen haben und zum Teil gegen den Staat gerichtet sind. Abgesehen von ihrer Funktion, Löcher im sozialen Sicherheitsnetz zu stopfen, bieten sie Raum, um demokratische Mikro-Alternativen zu entwickeln, die perspektivisch die Basis einer neuen Gesellschaft bilden könnten.
In Hamburg macht das Projekt StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt, inspiriert durch den Austausch mit einer Anti-Gewalt-Organisation in Boston, genau das: Es hilft einer Stadtteileinrichtung, das Thema aufzugreifen und die Community durch community organizing und Forschung zu aktivieren. Öffentlichkeitsarbeit und Erwachsenenbildung sorgt für Prävention und die Veränderung von Leitkulturen; Unterstützungsangebote für betroffene Personen und Beratung für gewaltausübende Personen werden aufgebaut, und schließlich wird mitgedacht, wie das Projekt sich auf lokaler Ebene auch politisch einmischen kann.
Community versus Staat
Seit dem Wahlsieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen 2016 wurden Diskussionen über sogenannte rebellische Städte oder über einen radikalen Munizipalismus mit neuer Energie geführt. Ihnen liegt meist die Annahme zugrunde, dass der Widerstand am besten auf der lokalen Ebene zu organisieren ist und dies auch der Ort ist, wo sich Vorstellungen von partizipatorischer Demokratie am einfachsten in Community-Einrichtungen verwirklichen lassen. In der deutschen Linken gibt es ein großes Interesse an community-organizing-Ansätzen aus den USA und Großbritannien, die viele nach Deutschland importieren wollen.
Und doch, darauf haben zahlreiche CA-TJ-Aktivist*innen hingewiesen, können wir nicht einfach davon ausgehen, dass die für alternative Praxen benötigten Communities im ausreichenden Umfang bereits existierten, oder so tun, als wären die bestehenden Communities frei von Gewalt und Unterdrückung. Bisher gibt es viele modellhafte Ansätze, aber oft wenig Kapazitäten und Fähigkeiten, diese umzusetzen. Es geht daher im Moment mehr um die Veränderung von Diskursen und Alltagspraxen. Mitglieder des Northwest Network haben deswegen als einen ersten Schritt die Notwendigkeit betont, „verantwortungsvolle Communities“ aufzubauen, ehe Prozesse von community accountability in Krisensituationen tatsächlich eingesetzt werden können (vgl. Burk 2011).
Das heißt, wir brauchen vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen, gemeinsame Werte, fair verteilte Sorgearbeit und die Bereitschaft, uns auch im Alltag für unser Verhalten zur Verantwortung zu ziehen. Nur so sind wir vorbereitet und wissen, was im Fall von Gewalt zu tun ist. Nur so können wir auf zwischenmenschliche Gewalt mithilfe unserer eigenen selbstorganisierten Netzwerke reagieren und uns unabhängiger von Staatsgewalt machen.
Verwendete Literatur [Auszug]
Nadija Samour 2017: Einleitung: Was ist staatliche Gewalt. Und: Zwei Beispiele für Rassismus und Repression im deutschen Jugendstrafrecht. In: Melanie Brazell (Hrsg.): Was macht uns wirklich sicher? Toolkit für Aktivist_innen. Münster: edition assemblage. Gayatri Chakravorty Spivak 1988: Can the Subaltern Speak? In: Cary Nelson / Lawrence Grossberg (Hrsg): Marxism and the Interpretation of Culture. University of Illionois Press. INCITE! Women, Gender Non-Conforming, and Trans People of Color Against Violence 2008: Community Accountability Fact Sheet. In: Law Enforcement Violence Against Women of Color and Trans People of Color: A Critical Intersection of Gender Violence and State Violence. An Organizer’s Resource and Toolkit. Redmond. Connie Burk 2011: Think. Re-Think. Accountable Communities. In: C.-I. Chen, J. Dulani, L. L. Piepzna-Samarasinha (Hrsg): The Revolution Starts at Home: Confronting Intimate Violence within Activist Communities. South End Press, Brooklyn. S. 265–80.
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Die Erkenntnisse, die diesem Beitrag zugrunde liegen, gehen auf Diskussionen mit dem Transformative Justice Kollektiv Berlin zurück sowie mit Teilnehmer*innen des Seminars „Carceral Feminisms and Transformative Alternatives“, mit Aktivist*innen aus Nordamerika und all meinen Freund*innen, die mich als betroffene Person bei meiner Suche nach transformativer Gerechtigkeit unterstützt haben.
Der Beitrag erschien in einer längeren Fassung erstmals 2017 online in Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis und wurde für die Ausgabe bei kritisch-lesen.de von der Reaktion und der Autorin überarbeitet.
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Melanie Brazzells Forschung und Praxis fokussiert sich auf transformative Gerechtigkeitsalternativen zu Polizei und Gefängnis, besonders für gegenderte Gewalt. Sie hat zwei Bücher zum Thema veröffentlicht: „Was macht uns wirklich sicher? Ein Toolkit zu intersektionaler transformativer Gerechtigkeit jenseits von Gefängnis und Polizei“ (edition assemblage 2018) und mit dem RESPONS Kollektiv „Was tun bei sexualisierter Gewalt? Handbuch für die Transformative Arbeit mit gewaltausübenden Personen“ (Unrast 2018). Als Doktorand*in an der University of California entdeckt Melanie derzeit Forschung als Werkzeug für soziale Bewegungen.