Politisches Christentum Aktuelle Ausgabe Nr. 74, 21. Januar 2025
Leben wir in säkularisierten Zeiten? Auf den ersten Blick deutet vieles darauf hin: Die christlichen Kirchen haben vielerorts mit erheblichem Mitgliederschwund zu kämpfen. Religion prägt kaum noch unseren Alltag und findet höchstens in ihrer spirituellen Schrumpfform als Selbstfindungsratgeber Gebrauch. Allenfalls die Warnungen vor den Gefahren eines politischen Islams beziehen sich auf reaktionäre Aspekte von Religion – und werfen dabei oft Glaubenslehre, Ideologie und reale politische Machtinteressen durcheinander.
Diese reflexartige Selbstverständlichkeit verstellt den Blick darauf, dass auch die Christliche Rechte in den letzten Jahrzehnten weltweit erheblich an politischem Einfluss gewonnen hat und heute eine besorgniserregende Rolle in ihrer ideologischen Verbindung zu reaktionären politischen Kräften spielt. Die Rolle dieser christlichen Bewegungen beschränkt sich nicht nur auf die alltägliche Glaubensausübung oder Gemeindeaktivitäten. Sie üben auch auf kultureller, wirtschaftlicher, politischer, geostrategischer Ebene einen Einfluss aus. Ungarns Premierminister Viktor Orbán etwa setzt in seiner Politik insbesondere auf die Unterstützung religiös-völkischer Gruppen. Diese Zusammenarbeit hat dazu beigetragen, dass konservative Familien- und Geschlechtervorstellungen und eine rassistische restriktive Migrationspolitik in den Mittelpunkt der Landespolitik gerückt sind. Auch in Deutschland versuchen sich extreme und religiöse Rechte immer wieder an einem Schulterschluss, was ihnen insbesondere über Netzwerke wie den Bundesverband Lebensrecht gelingt.
In Brasilien oder den USA sind fundamentalistische Evangelikale einflussreiche Wähler*innengruppen. Die Förderung einer Politik, die auf traditionell-patriarchalen Familienwerten basiert, ist ihr zentrales Anliegen. Ihre Glaubensausrichtung ist stark emotionalisiert und manichäisch: Die guten Christen gegen das Böse der modernen Welt. Die globale Allianz der Evangelikalen wächst stetig an. Alleine in Deutschland wird ihre Zahl auf 1,5 Millionen geschätzt, in den USA machen sie circa 20 Prozent der Bevölkerung aus. Die Glaubensgemeinschaften verfügen über eine global vernetzte Struktur aus Kirchen, Bildungseinrichtungen, Medien, Vereinen et cetera. Auch wenn es innerhalb der Gemeinschaft starke politische Differenzen gibt – liberale Kräfte kritisieren beispielsweise die Zusammenarbeit mit Rechtskonservativen und White-Supremacists – beschert den Evangelikalen gerade ihre Anschlussfähigkeit an das Reaktionäre und Rechte einen großen Zuwachs.
Bemerkenswert ist auch die scheinbar bizarre Allianz zwischen Evangelikalen und zionistischen (israelischen) Nationalist*innen. Diese Verbindung basiert auf der unbedingten Unterstützung des Staates Israel, die mit einer wörtlichen Auslegung der Bibel begründet wird. Kriege im Nahen Osten interpretieren Evangelikale demnach als Vorboten des Jüngsten Gerichts, dem Armaggeddon, nach dem Frieden einkehren und der Heiland tausend Jahre herrschen wird. Diese Allianz hat konkrete politische Auswirkungen: Evangelikale Lobbygruppen und staatliche Akteure in den USA setzen sich erfolgreich für pro-israelische Interessen ein, für finanzielle und militärische Hilfe, diplomatische Rückendeckung und die Förderung von Siedlungsprojekten sowie für ein Ende palästinensischer Hilfsorganisationen.
Diese Schlaglichter zeigen, dass der Einfluss des politischen Christentums in all seinen Ausprägungen dazu dient, moralische und religiöse Themen stark zu machen und den Status quo zu stabilisieren. Karl Marx betrachtete Religion bekanntlich als „Opium des Volkes“; als ein Mittel, um die Arbeiter*innenklasse von ihren materiellen Ausbeutungsbedingungen und der Notwendigkeit revolutionärer Veränderungen abzulenken. Wie muss also ein Umgang mit der Christlichen Rechten aussehen, um die Verbreitung konservativer und ultrarechter Ideologien, die sich stets in politische Machtausübung übersetzen lassen, zu verhindern? Wir wollen in unserer 74. Ausgabe mit religiös motivierten Antifeminist*innen, christlich-nationalistischen Trump-Unterstützer*innen, zionistischen Endzeitevangelikalen aufräumen, aber auch fragen, ob emanzipatorische Potentiale im heutigen Christentum liegen können.
In unserer 75. Ausgabe im April 2025 geht es dann um das Thema "Erbe(n)": Das Erbe ist mehr als nur finanzieller Wohlstand, der uns in die Wiege gelegt wird. Es umfasst Geschichten, Traditionen, politische Ideale und auch schmerzhafte Lasten. Doch wer erbt eigentlich was – und wollen wir überhaupt alles, was uns hinterlassen wird? Wer hierzu noch spontan einen Beitrag beisteuern möchte, kann sich gerne noch bei uns melden.
Viel Freude beim kritischen Lesen!