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Glaube gegen Gott?

Buchautor_innen
Martin Hägglund
Buchtitel
Dieses eine Leben
Buchuntertitel
Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus

Kann der säkulare Glauben des demokratischen Sozialismus eine Alternative zum religiösen Glauben der politischen Theologie liefern?

Wir leben in einem säkularen Zeitalter. Spätestens seit der sogenannten Aufklärung lautet so jedenfalls eine weitverbreitete Erzählung. Wie sich jedoch zunehmend zeigt, handelt es sich dabei um ein Missverständnis. Trotz angeblicher Verweltlichung und Abkehr von Kirche und Religion, ist die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Staat nicht abschließend geklärt. Fundamentalistische Religionen suchen in der Politik ein Sprachrohr und in den politischen Debatten wird kenntnislos über Religionen geurteilt. Ein fehlendes Verständnis von Gott und Staat ist daran wahrscheinlich nicht ganz unbeteiligt.

Um dieses wiederum aufzuklären, kann auf die zunächst kontraintuitiv wirkende Gleichsetzung von Religion, sprich dem Bewusstsein Gottes, und Staat bei G.W.F. Hegel verwiesen werden. Nach den „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ referierte dieser: „Im allgemeinen ist die Religion und die Grundlage des Staates eins und dasselbe; sie sind an und für sich identisch.“ (Hegel 1986, S. 236, Herv. i.O.) Obwohl sie unterschieden sind, sind sie identisch, da sie nach Hegel beide auf das Wissen der höchsten Wahrheit verwiesen sind – ein Wissen, das nur im Wissen des Geistes von sich und somit von der Wahrheit des Begriffs der Freiheit weiß. Ein Begriff, den Religion und Staat teilen, weswegen Hegel hinzufügen kann: „Das Volk, das einen schlechten Begriff von Gott hat, hat auch einen schlechten Staat, schlechte Regierung, schlechte Gesetze.“ (Ebd., S. 237) Ein voreilig gefälltes Urteil könnte hier die alte Legende des illiberalen, preußischen Staatsphilosophen heraufbeschwören, würde damit jedoch nur die eigene Unkenntnis preisgeben. Denn im Gegensatz zum heute wieder erstarkenden Diskurs redet Hegel, wie auch Martin Hägglund im Schlusskapitel von „Dieses eine Leben“ zeigt, keiner politischen Theologie das Wort.

Renaissance der politischen Theologie

Wie Marx sieht auch Hägglund die Voraussetzung aller Kritik in der Kritik der Religion. Wenn man aber bedenkt, dass etwa 50 Prozent der Amerikaner*innen im religiösen Glauben den notwendigen Grund für ein verantwortungsvolles Leben sehen, kann diese, wie Marx annahm, nicht als beendet gelten. Hägglund diagnostiziert das Erstarken der politischen Theologie jedoch nicht nur unter der breiten Bevölkerung, sondern auch unter philosophischen Denker*innen. Mit dem Ideenhistoriker Peter E. Gordon betont er, dass der religiöse Glauben der säkularen Welt ein normatives Defizit vorwirft, dass angeblich nur durch eine religiöse Fülle zu schließen ist. Denker*innen der politischen Theologie verweisen daher auf die Religion als Quelle der Moral und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Damit nehmen sie eine Perspektive ein, gegen die sich Hägglund explizit wendet, weswegen er sein Buch auch als ein einfaches, in seinen Konsequenzen jedoch radikales Gegenangebot versteht: „Mein Angebot besteht in einer säkularen Vision, der zufolge alles davon abhängt, was wir mit unserer gemeinsamen Zeit anfangen.“ (S. 34, Herv. i.O.) Um seine säkulare Vision zu explizieren, möchte er zeigen, inwiefern die endliche Zeit des Lebens implizit eine notwendige Voraussetzung der gemeinschaftlichen und auch individuellen Sorge und somit auch jeder gesellschaftlichen Praxis darstellt.

Der Glaube ans endliche Leben, die geistige Freiheit und der demokratische Sozialismus

Der religiöse Glaube steht dem säkularen Glauben entgegen. Wo der religiöse Glaube sich auf ein höchstes, allmächtiges und unendliches Wesen richtet, in dem sich das endliche Leben von seinem Leiden im Angesicht des Todes befreien will, sieht Hägglund die grundlegendste Form des säkularen Glaubens in dem lakonischen Bekenntnis: „das Leben sei lebenswert.“ (S. 56) In diesem erkennt er den Ursprung der Leidenschaft und Fürsorge, die wir nur füreinander aufbringen. Er ist die Grundlage der gegenseitigen Verantwortung und des Vertrauens. Es ist ein „Glaube an die Möglichkeit der Freiheit“ (S. 33), die nur in diesem Glauben ihren Grund und ihre Wirklichkeit findet. Die Liebe, die Freundschaft, das Vertrauen in die Gemeinschaft und die daraus hervorgehenden, gemeinsamen Vorhaben besitzen keine konkrete Materialität, sondern gründen im gemeinsamen Glauben und der notwendig damit verbundenen Ungewissheit. Nur auf dem Boden dieser existenziellen Verletzlichkeit ist es verständlich, dass wir uns auf gemeinsame Vorhaben einlassen und unsere Zeit in diese investieren. So plädiert Hägglund dafür, dass beispielsweise ein politisches Projekt, wie der von ihm in seinen grundlegenden Prinzipien entworfene demokratische Sozialismus nur in der fortwährenden Aktualisierung, sprich der Arbeit an diesem Projekt, seine Realität besitzt.

Wir sind aber nicht nur endliche, sondern auch geistige Wesen. Das heißt, dass uns neben der natürlichen Freiheit des gerichteten Handelns auch eine geistige Freiheit eigen ist. Diese Freiheit zwingt uns allen die Frage auf: Wie möchte ich leben und wofür will ich meine begrenzte Zeit investieren? Mit Marx – den Hägglund als Schlüssel zum Verständnis der zahlreichen Implikationen eines säkularen Lebens betrachtet – betont er, dass sich letztendlich alle Ökonomie in der Ökonomie der Zeit aufhebt. Auch dem Kapitalismus liegt die Zeit als impliziter Wertmaßstab zugrunde. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung zwingt uns, unsere freie Zeit zu verkaufen und ihr somit einen Wert beizumessen. Da die Zeit im Kapitalismus aber nicht selbst als Wert verstanden wird, sondern als Voraussetzung der Ausbeutung von Mehrwert, verstrickt sich der Kapitalismus in einen chronischen Widerspruch. Für Hägglund steht fest, dass die Idee der Freiheit, die im Zuge von Kapitalismus und Liberalismus einen universalistischen Anspruch erhob, die Abschaffung der Lohnarbeit und somit auch des Kapitalismus verlangt. Ohne eine „Neubewertung des Werts“ (S. 252), sprich ein neues Verständnis des gesellschaftlichen Wohlstands, ist die Überwindung aber nicht zu denken. Wohlstand soll daher künftig in der Ausweitung der freien Zeit bestehen. Zeit, in der sich jede Person die grundsätzlich offene Frage stellen kann: Was möchte ich mit dieser Zeit anfangen? Diese Frage befreit jedoch nicht vor individueller und gesellschaftlicher Verantwortung, sondern soll vielmehr die Bedingung der Möglichkeit der notwendigen Einsicht in die tiefe Verflechtung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit ermöglichen. Für Hägglund bedeutet das, dass wir „den Staat nicht abschaffen, sondern neu erfinden“ (S. 260) müssen. Denn mit Hegel gesprochen ist der Staat, auch trotz seiner gegenwärtig reaktionären Erscheinung, als „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ (Hegel 2017, S. 245) zu verstehen und damit spekulatives Kriterium seiner realen Kritik. Im Zuge einer immanenten Kritik des liberalen Kapitalismus entwickelt Hägglund so „die Möglichkeitsbedingung des demokratischen Sozialismus.“ (S. 270)

Säkularer Glaube gegen politische Theologie

Der säkulare Glauben des demokratischen Sozialismus soll nach Hägglund eine Alternative zum religiösen Glauben der politischen Theologie liefern. Statt einfache Antworten zu geben, konfrontiert er uns mit der grundlegenden Unsicherheit unseres Lebens, die uns zur existenziellen Auseinandersetzung mit unserem gegenwärtigen Lebensentwurf führt und zur Einsicht zwingt, dass wir, auch ohne Reflexion auf unser Leben, es immer schon gestalten und es somit auch umgestalten können.

Im Schlusskapitel zeigt Hägglund an Martin Luther King Jr. die damaligen und gegenwärtigen Widerstände auf, die mit dem Einsatz für die Emanzipation der Menschen einhergehen. Er unterzieht King – ein ausgebildeter Pfarrer, der auch in seinen politischen Reden ein religiöses Vokabular nutzte – aber auch einer an Hegel orientierten säkularen Lektüre. Eine Lektüre, in der sich zeigt, was Hegel mit der nichtidentischen Identität von Religion und Staat gemeint haben könnte. An Hegels säkularen Begriff von Gott anknüpfend, zeigt Hägglund, dass Kings religiöser Begriff Gottes seinem politischen Selbstverständnis entgegensteht. Wenn man Gott weiterhin als transzendentes und allmächtiges Wesen verstehen will, ist jedes politische Engagement zwecklos, denn Gottes Wege sind unergründlich und vom Menschen nicht zu formen. Wie Hegels Begriff des Geistes, ist aber auch der Begriff Gottes als Metonymie, als eine Vertauschung des Namens zu verstehen. Der Geist Gottes wohnt im protestantischen Christentum, nach Hegel, nur der Gemeinde und nur der Glaubenspraxis der Gemeinde inne. Gott „offenbart“ sich nur in der Glaubenspraxis und außerhalb dieser Praxis ist er nicht. Gott ist ein anderes Wort für das absolute Selbstverhältnis der Menschheit. Hier zeigt sich auch, weswegen Hägglunds säkulare Interpretation dem scheinbar religiösen Gottesbegriff Kings nicht entgegensteht, sondern ihn einer immanenten Explikation unterzieht und dadurch die politische Gemeinde der streikenden Arbeiter*innen, aber auch der Menschen im Allgemeinen als seinen eigentlichen Grund ausmacht. Aus der Perspektive des säkularen Glaubens sieht Hägglund daher aber auch keinerlei Notwendigkeit am Gottesbegriff festzuhalten. Mit Blick auf die wiedererstarkende politische Theologie plädiert er dafür, jeglichen Appel an einen religiösen „Gott“ aufzugeben und dessen Begriff in der immer wieder neu auszuhandelnden gesellschaftlichen Selbstverpflichtung, man könnte sagen: im Staat aufzuheben.

Hägglund hat mit „Dieses eine Leben“ ein radikales Buch über die Endlichkeit geschrieben, in dem er in aller Klarheit aufzeigt, dass ein Buch über die Endlichkeit auch ein Buch über die Unendlichkeit sein kann. Denn unter Ausschluss der Endlichkeit ist die Unendlichkeit nur als das ewig Unerreichbare oder das Jenseits zu denken und somit auch nicht zu denken. Nur wer die auf den Tod gerichtete materielle Endlichkeit des Lebens anerkennt, kann dessen geistige Freiheit ergründen. Eine Freiheit, die sich der politischen Theologie nicht offenbart.

Zusätzlich verwendete Literatur

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1986): Werke. Band 16. Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (2017): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Meiner Verlag, Hamburg.

Martin Hägglund 2024:
Dieses eine Leben. Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus. Übersetzt von: Stephanie Singh.
C.H. Beck, München.
ISBN: 978-3-406-81454-9.
415 Seiten. 32,00 Euro.
Zitathinweis: Dean Wetzel: Glaube gegen Gott? Erschienen in: Politisches Christentum. 74/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/Z3y7q. Abgerufen am: 22. 01. 2025 10:57.

Zum Buch
Martin Hägglund 2024:
Dieses eine Leben. Glaube jenseits der Religion, Freiheit jenseits des Kapitalismus. Übersetzt von: Stephanie Singh.
C.H. Beck, München.
ISBN: 978-3-406-81454-9.
415 Seiten. 32,00 Euro.