Zum Inhalt springen

Das Aufputschmittel des Volkes

Buchautor_innen
Buchtitel
The Christian Right in Europe
Buchuntertitel
Movements, Networks, and Denominations

Nicht allein ein amerikanisches Phänomen: Christliche Gemeinden sind längst auch in Europa zum Tummelplatz der neuen Rechten geworden.

Die Religion ist zurück in der (westlichen) Politik. Spätestens seit dem ersten Wahlsieg Donald Trumps geistert dieser Satz durch Presse und Politikwissenschaft. Ob er stimmt, ob also die Religion jemals die politische Sphäre verlassen hat, sei einmal dahingestellt. Wirkkräftig ist der Satz allemal. Bezogen wird sich dabei vor allem auf die Rolle ultrakonservativer, meist evangelikaler Christ*innen im nordamerikanischen Kontext. Angesichts der amüsanten Selbstinszenierung Trumps mit Bibel oder der erschreckend immanenten Gefahr eines autoritären Staatsumbaus durch das sich auf „christliche Werte“ berufende Project 2025 ist das nicht verwunderlich. Hinzu kommt das diskursive Gewicht dieser Gruppen im Kampf um körperliche Selbstbestimmung, geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung. Unterrepräsentiert bleibt dabei allerdings das europäische Äquivalent. Der von Gionathan Lo Mascolo herausgegebene Sammelband stellt sich die Aufgabe, diese Lücke zu schließen. Und er versucht, mit der kollektiven Definition der betrachteten Akteur*innen als „Christliche Rechte“ ein neues analytisches Werkzeug zu etablieren.

Die Christliche Rechte in Europa

In 20 Fallstudien, die einen Großteil der europäischen Nationen abdecken, untersuchen die Autor*innen die „Christliche Rechte“ in ihrer Geschichte, ihrer Struktur und ihrer Vernetzung. Schon die Einleitung macht deutlich, wie schwierig eine kohärente Definition dieser so heterogenen Gruppe ist. Im Laufe des Bandes lassen sich aber einige Grundgemeinsamkeiten feststellen. Die Christliche Rechte sei eine regional, national und international aktive Bewegung mit globalen Netzwerken. Sie versuche durch reaktionäre und kulturkämpferische, gegen progressive Politik vor allem im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung gerichtete, Aktionen, die Politik auf nationaler und EU-Ebene nach konservativ-christlichen Werten umzugestalten. Dabei agitiere sie sowohl in Form von NGOs und Einzelakteur*innen als auch als Parteien oder im Bündnis mit (rechtsextremen) Parteien. Zu dem Thema der sexuellen Selbstbestimmung treten Forderungen nach Abtreibungsverboten, antimuslimische Rhetorik sowie in einigen Fällen die Idee eines vor „kulturmarxistischen Kräften“ zu verteidigenden „christlichen Europa“. Sie seien somit dem amerikanischen Gegenpart zwar sehr ähnlich, mit diesem aber aufgrund unterschiedlicher thematischer Gewichtungen und politischer Rahmenbedingungen nicht gleichzusetzen. Die einzelnen Kapitel, die einen breit gefächerten Blick auch über die Grenzen der EU hinaus etwa nach Russland und in die Ukraine geben, fokussieren sich dabei in erster Linie auf die einzelnen Organisationen und ihr Gewicht in der Politik. Strukturell folgen die Beiträge demselben Schema einer kurzen geschichtlichen Einordnung der nationalen Rahmenbedingungen mit anschließender Analyse der jeweiligen Gruppierungen und ihrer maßgeblichen Akteur*innen. Dabei entsteht ein umfassendes Bild der in Europa aktiven Organisationen und ihrer Ziele sowie ihrer internationalen Vernetzungen. Als herausragendes Beispiel ist der Beitrag von Anne Guillard und Tobias Cremer zu nennen, der sich mit der Christlichen Rechten in Frankreich und dem dortigen katholischen Milieu beschäftigt. Prägnant lassen sich hier die maßgeblichen Akteur*innen identifizieren und ihre Bedeutung für die politische Landschaft nachvollziehen.

Eine solche Überblicksdarstellung gab es bisher nicht, und darin liegt klar die Stärke des Buches. Es sollte in erster Linie als ein deskriptiv arbeitendes Werk verstanden werden, das zur Grundlage weiterer Forschungen herangezogen werden kann. Hier beginnen aber auch die Probleme. Der Herausgeber richtet den Band nämlich explizit an „policymakers“ (S. 35) und insinuiert damit, man könne hieraus politische Lehren ziehen. Dafür bleiben die Darstellungen aber in vielen Punkten viel zu vage. Das tritt in zwei Fällen besonders deutlich zu Tage

Woher kommt die Christliche Rechte?

Die beschriebenen Bewegungen sind konservativ und reaktionär. Soweit, so klar, möge man denken, aber es stellt sich doch die Frage nach dem „Warum“. Weshalb wollen sie, was sie wollen, und warum sind sie damit so erfolgreich? In der sehr knappen historischen Darstellung der Christlichen Rechten findet kaum eine Analyse ihrer Genese statt. Vielmehr werden sie schlicht als ein Teil der konservativen Reaktion auf progressive Bewegungen ab den 1970ern aufgeführt. Eingereiht wird das Phänomen somit in die „culture wars“ bzw. den „Kulturkampf“ und erscheint primär moralisch-ideologisch getrieben. Dass diese Reaktion immer auch einen materiellen Grund, namentlich den Versuch der Unterdrückung linker Befreiungsbewegungen beinhaltete, wird ausgespart. Das ist besonders verwunderlich, kommt doch die antimarxistische Haltung der Christlichen Rechten in mehreren Kapiteln vor. Ohne eine materialistische Analyse dieser Haltung bleibt der Band bei der zirkulären Feststellung stehen, die Christliche Rechte sei rechts, weil sie gegen links ist, da diese nun mal nicht rechts ist. Sicher geht die Basis der Bewegungen über materielle Interessen hinaus, und die Rolle der Ideologie kann nicht unterschlagen werden. Eine Analyse müsste aber mindestens einmal beides zusammenbringen. Ähnlich unbefriedigend fällt die Charakterisierung ihrer Anhänger*innenschaft aus. In den Fällen, in denen Mitgliedschaftszahlen genannt werden, wird an keiner Stelle der soziale Hintergrund oder das Geschlecht der Anhänger*innen deutlich. Da die finanzielle Unterstützung aus industriellen und politischen Kreisen angemerkt wird, verwundert es sehr, dass hier nicht weiter analysiert wurde. Hinzu kommt die fehlende Thematisierung von unabhängigen Einzelakteur*innen, die sich in den sozialen Medien eine Plattform geschaffen haben und darüber eine enorme diskursive Schlagkraft entwickeln konnten.

Wer oder was ist die liberale Demokratie?

Wer wann als Teil der Christlichen Rechten gezählt wird, ist ebenso unklar. Dass das Kapitel zu Deutschland etwa die CDU/CSU noch nicht einmal in Teilen dazuzählt, muss kritisiert werden. Man denke nur an die mit „christlichen Werten“ aufgeladene Debatte über Kreuze in bayerischen Klassenräumen. Und erst vor einigen Tagen (6.12.2024) sprach die Abgeordnete Dorothee Bär (CDU/CSU) in der Debatte um eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs von einem „Kulturkampf“ und setzte Abtreibung mit Mord gleich. Inhaltlich unterschied sie sich dabei nicht von den polemischeren Reden der AfD. Warum also wird nur diese Partei in die Nähe der Christlichen Rechten gerückt? Was macht die Union zu einem Teil der „liberalen Demokratie“, die die Autor*innen den Christlichen Rechten gegenüberstellen? Die Richtlinien für eine klare definitorische Abgrenzung sind hier mehr als schwammig.

Und so stehen sich zwei unzureichend definierte Blöcke, ein liberal-demokratischer und ein christlich-rechter, gegenüber. Diese Blockbildung durchzieht dabei leider den gesamten Band, auch wenn etwa der Beitrag zur Ukraine die antimarxistische Haltung stärker in den Vordergrund rückt und damit eine materielle Analyse zumindest bessere Anknüpfungspunkte erhält. Die Überblicksdarstellung verliert dadurch nicht an Wert, aber sie bleibt eben das – ein Überblick. Sie ersetzt keine kritische Analyse, die Anknüpfungspunkte für eine progressive Gegenbewegung bietet. Was ein „policymaker“ damit anzufangen hat, weiß wohl nur Gott.

Gionathan Lo Mascolo (Hg.) 2023:
The Christian Right in Europe. Movements, Networks, and Denominations.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-6038-8.
388 Seiten. 45,00 Euro.
Zitathinweis: Johannes Reutzel: Das Aufputschmittel des Volkes. Erschienen in: Politisches Christentum. 74/ 2025. URL: https://kritisch-lesen.de/s/ru6EL. Abgerufen am: 22. 01. 2025 10:55.

Zum Buch
Gionathan Lo Mascolo (Hg.) 2023:
The Christian Right in Europe. Movements, Networks, and Denominations.
Transcript Verlag, Bielefeld.
ISBN: 978-3-8376-6038-8.
388 Seiten. 45,00 Euro.