Das „pueblo“ als politisches Subjekt
- Buchautor_innen
- Jakob Graf
- Buchtitel
- Die politische Ökonomie der „Überflüssigen“
- Buchuntertitel
- Sozialökologische Konflikte und die Kämpfe der Mapuche gegen die Forstindustrie in Chile
Die umfangreiche aber zugängliche Studie über Chiles politische Ökonomie zeichnet anschaulich die sozialökologischen Konflikte des Landes nach.
Sollte eine soziologische Abhandlung gut lesbar sein? Jakob Graf bejaht diese Frage und bietet den Leser*innen einen bedeutsamen Beitrag zum Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise im Kontext dekolonialer Theoriebildung, der an vielen Stellen die Leichtigkeit eines Reisetagebuchs hat. Er nimmt die Lesenden mit nach Chile. Mit Blick auf die dortige Gesellschaft – und insbesondere auf den dortigen Kampf der Mapuche (Indigene des Landes, Anm. Red.) – erläutert er, dass der sogenannte bedarfsökonomische Sektor des globalen Südens nicht nur Arbeitskräftereservoir ist. Vielmehr absorbiert er fortlaufend auch diejenigen Arbeitskräfte, die durch die Produktivkraftentwicklung des in Chile dominanten Ressourcenextraktivismus – die rücksichtslose Produktion von Primärgütern für den Weltmarkt – freigesetzt wurden und werden, ohne das neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Allenfalls der expandierende Dienstleistungssektor, so Graf, bietet Beschäftigung, die dort gezahlten Löhne bleiben aber deutlich unter denen der ressourcenextraktivierenden Betriebe. Übrig bleibt dann nur die Integration in den bedarfsökonomischen Sektor, in welchem Haushalte und Kleinstunternehmen die Waren des täglichen Bedarfs erzeugen. Der ist zwar von Subsistenzwirtschaft geprägt, weist aber zugleich auch Arbeitsteilung und Differenzierung der Beschäftigung auf, sodass Warenproduktion und -tausch auch dort kennzeichnend sind. Zudem werden einzelne Waren über kapitalistische Märkte bezogen und/oder angeboten, sodass zugleich eine mittelbare Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt gegeben ist.
Wider der Dualität
Jakob Graf gewinnt seinen theoretischen Zugang aus einer beeindruckenden Diskussion unterschiedlicher Theorien. Beginnend mit Marx und Luxemburg, folgt eine lesenswerte Kritik der Modernisierungstheorien vor allem von Rostow, Boeke, Lewis und Hart und ihrer dualistischen Betrachtung der Entwicklung von Gesellschaften. Die Versuche, die ausbleibende Integration großer Bevölkerungsteile in der kapitalistischen Peripherie in stabile Arbeitsverhältnisse mit dem populären Konzept des „informellen Sektors“ zu erklären, löste dem Verfasser zufolge das theorieimmanente Problem der angenommenen Dualität nicht. Im Kontrast dazu setzt Graf auf eine Diskussion post- und neomarxistischer sowie postkolonialer Theorien, die er um Erkenntnisse der politischen Ökologie und feministischer Ökonomiekritik ergänzt, um das „Nicht-Kapitalistische“ (S. 122) in kapitalistischen Gesellschaften begrifflich zu fassen. Dies gelingt ihm mit der Identifikation eines bedarfsökonomischen Sektors, welcher sich komplementär zu den übrigen Wirtschaftssektoren verhält. Graf stellt damit, wie er selbst betont, eine „Schlüsselkategorie für die Analyse strukturell-heterogener Gesellschaften“ (S. 455) der extraktivistischen Peripherie bereit.
Von Chile lernen
Die Schilderung der politischen Ökonomie Chiles mit ihren sozialökologischen Konflikten im vierten Kapitel, liest sich für eine wissenschaftliche Arbeit ungewohnt leicht. Mit anschaulichen Schilderungen der Lebensverhältnisse gelingt es dem Autor immer wieder, präzise Analysen in einen angenehm bilderreichen und kurzweiligen Stil zu verpacken. Dabei widersteht er, trotz erkennbarer Sympathien für den Widerstand der Mapuche, einer Romantisierung derselben, welche sie offenbar als „Verkörperung einer bedarfsökonomischen Produktions- und Lebensweise“ (S. 241) und Symbol diverser Widerstandsversuche in Teilen der chilenischen Gesellschaft erfahren. Stattdessen verweist Graf auf komplexe Realitäten, etwa vorhandenes Grundeigentum bei den Mapuche, welches den Forstkonzernen als zentralen Antagonisten verpachtet wird oder die Grundlage einer selbstständigen Holzwirtschaft als Zulieferer der Konzerne bildet. Er erklärt dies als eine Folge des fehlenden Kapitals zur landwirtschaftlichen Nutzung der Fläche, was den Mapuche aber zugleich einen Anteil an den Profiten der Forstwirtschaft einbringe.
In den Schilderungen bleiben Fragen offen. So wird erläutert, wodurch sich Mapuche kulturell auszeichnen und eine Mapuche-Kultur zugleich immer wieder neu geschaffen wurde und wird. Allerdings kann angesichts der territorialen Gebundenheit des lof als traditionellem Familienzusammenhang und der kollektiven Praktiken als zentralem Element des Mapuche-Seins angesichts der von Graf beschriebenen Notwendigkeit der Arbeitsmigration angenommen werden, dass parallel zur grundlegenden sozialen Organisation des Mapuche-Volkes auch Assimilation stattfindet. Dies gilt auch für die vom Autor als „Defätisten“ (S. 414) bezeichneten Angehörigen der Mapuche, die sich gegenüber der politisch-ökonomischen Entwicklung weitgehend passiv verhalten. Schließlich ist eine Beschäftigung im urbanen Dienstleistungssektor mit traditionellen Praktiken des lof kaum vereinbar.
Auch der geschilderte Konflikt zwischen communidados als republikanischen Machtorganen und den lonkos als lof-Führer wirkt wie ein Konflikt zwischen Mapuche und übriger chilenischer Bevölkerung. Gerade für vor allem von Mapuche bevölkerten Regionen scheint dies jedoch wenig plausibel, angesichts der kulturellen Dimension des Konflikts jedoch bedeutend, zumal der Autor das pueblo als Bündnis von Mapuche und weiten Teilen der chilenischen Bevölkerung anführt. Hier scheint eine Lücke zu bestehen. Der Verweis ist jedoch keineswegs als Kritik an der umfang- und detailreichen Arbeit zu verstehen, sondern lediglich als Überlegung, welche künftigen Forschung, von dieser ausgehend, möglich und nötig sein könnte.
Diskussionswürdig sind die Überlegungen zu möglichen Klassenbündnissen in Chile, die der Verfasser anhand jüngster Entwicklungen thematisiert. Er beschreibt, wie sich das pueblo als politisches Subjekt und Antagonist einer „besitzenden Klasse“ (S. 408) formiert und auf kommunaler Ebene die Konflikte um ökologische und ökonomische Verflechtung als Klassenkonflikte austrägt. Dabei bleibt jedoch unklar, welches Interesse das pueblo aufgrund seiner Heterogenität formulieren, nach innen verankern und nach außen durchsetzen will und kann. Graf ignoriert diese Interessenheterogenität nicht: So unterscheidet er beispielsweise zwischen den Kämpfen der „Enteigneten“ und „Überflüssigen“ (S. 430), die um die Wiederaneignung ihrer (Re-)Produktionsmittel ringen, und denen der proletarisierten Bevölkerung. Trotz dieser Heterogenität sieht Graf das pueblo dennoch als ein eruptives Bündnis aus (Semi-)Proletariat, Kleingewerbetreibenden, Kleinbauern, Grundbesitzenden etc. gegen wenige vermögende Familien und internationale Konzerne. Zwar unterstreicht er, dass dieses Bündnis nicht zwingend eine revolutionäre Politik zur Folge haben muss – aber welche Perspektive hat ein solches Klassenbündnis? Bleibt das Ziel eine weitgehend regulierte kapitalistische Produktionsweise? Eine Gesellschaft der Kooperativen und Kleingewerbetreibenden?
Angesichts der vielen Vorstudien des Verfassers zu den Konflikten in Chile und der bislang ausbleibenden Lösung für die dortigen Probleme, kann gehofft werden, dass seine künftige Forschung diese Fragen aufgreift und weiter vertieft.
Die politische Ökonomie der „Überflüssigen“. Sozialökologische Konflikte und die Kämpfe der Mapuche gegen die Forstindustrie in Chile.
Springer VS.
ISBN: 978-3-658-43536-3.
520 Seiten.